Priester Michel schien alles andere als erfreut, die Füchse und drei Soldaten vor dem Kloster zu sehen. Die Herzlichkeit seines letzten Empfangs wich Reserviertheit und er flüsterte einem der verlegenen Mönche etwas zu. Sofort huschte dieser in die Gärten hinaus.
Anschließend formte sich das bekannte Lächeln in Michels faltigem Gesicht und er widmete sich den Soldaten; sprach mit ihnen und Tjelvar über mögliche Lieferungen, den Preis und sicheren Transport. Dass der Priester ungern Lebensmittel aus der Hand gab, wenn sie ihren Zielort womöglich nie erreichten, war das Letzte, was Sera hörte, ehe sie allein und unbeachtet auf dem Vorplatz stand.
Wenigstens dieses Mal half ihnen das Frauenbild der Mervailler – wartete auf sie doch eine eigene Aufgabe: Marikas Mittelsmann finden. Etwas, was Seher wohl am besten konnten.
Sie folgte dem Weg des Mönches zuvor. Im Garten die Sonne genießend würde kaum jemand Notiz von ihr nehmen oder sie gar verdächtigen.
Kraft des Lichtes der Sonne durchblickte Seraphina die Scheune vor ihr und sah zu den Feldern und dem Hain dahinter. Der Mönch hastete mit einem weiteren Gewand wie dem eigenen zwischen schilfartigen Pflanzen hindurch zu einem Kind, das mit einer Nonne Äpfel, Pflaumen und Nüsse pflückte.
Sera tastete die rauen Steine mit den moosüberzogenen Fugen an der Scheune entlang und inspizierte augenscheinlich die Sale so ähnliche Architektur, während ihre Augen den Mönch fokussierten. In ganz Agartha gab es keine besseren Spione als Seher. Verstanden sie ihr Handwerk, konnte niemand außer einem anderen Seher ihnen ihre Gabe auch nur nachweisen.
Der Mönch hatte die beiden Gestalten am Hain erreicht, gab dem Kind –
Kind?
Die unter der Sonne freiliegenden Haut und Haare waren dunkel, beinahe schwarz – ehe Robe und Kopftuch beides übermalte.
Das also hatte Michel verstimmt. In diesem Kloster verweilte jemand, von dem die Öffentlichkeit nicht erfahren durfte. Derweil nahm die Druidin ihren Korb wieder auf und kletterte wie ein weißes Eichhörnchen zurück in die Baumkronen.
Dass ein Mondpriester aus Mervaille einer Druidin Unterschlupf bot ...
Mit den Sinnen bei ihr ließ Sera sich im kniehohen Gras hinter der provisorischen Kapelle nieder und begrüßte die warme Sonne auf dem Gesicht wie die Abgeschiedenheit vom restlichen Kloster.
Eine der beiden gesuchten Personen hatte sie gefunden. Blieb noch der Spion.
Sie schloss die Augen und lehnte mit dem geflochtenen Zopf als Polster den Kopf gegen die Mauer. Über ihr kreisten Falken und in der Ferne zogen Schwalben. Die Melodie, die Morag spielte, war eine, die auf Freud' und Lieb' abzielte: Davon, Teil des Lands zu sein und davon, Teil des Walds zu bleiben.
Hinter der Druidin und der Nonne standen die Bäume dicht gleich einem Wald – jeder Stamm mit Kärtchen mit dem Zweck versehen. Zwei Dutzend Giganten, als wurden sie darum verschont, zu sehen, wer jetzt hier innewohnt. Selbstgebaute Nester, Futterstellen und Höhlen säumten die Stämme und Astgabelungen. Pilze, Moos und Beeren die Flur.
Nur kein weiterer Mensch inmitten des Hains.
Also spähte sie in den Hauptkomplex – durchsuchte jedes Zimmer, jeden Gang. Nichts. Soldaten in weiß-roten Waffenröcken. Gläubige in schneeweißen Roben. Hatte sich der Spion ebenfalls eine Robe übergeworfen?
Und doch wieder dieses Gefühl, nicht allein zu sein. Ein anderes als in Tjelvars Nähe, aber stetig näher –
»Hi. Geht's dir gut?«, erklang eine Kinderstimme vor ihr.
Ihr Hinterkopf knallte gegen die Mauersteine, so heftig zuckte Sera zusammen. Stöhnend rieb sie sich die Stelle.
»Uwah, tut mir leid, tut mir leid! Das wollt ich nicht!« Hände so dunkel wie regennasse Erde fuchtelten wild umher und die Druidin kniete vor ihr ins Gras.
Mit einem gequälten Lächeln blickte Seraphina auf – direkt in Augen wie polierte Bernsteine. Ihre Hände sanken vom Hinterkopf auf die Oberschenkel und sie starrte die zierliche, kleine Gestalt an.
Sie und die ängstliche Nonne neben ihr starrten zurück. Diese fein gemusterten, mit Honig gesprenkelten Augen ...
»Du bist eine Druidin aus dem Duthchal-Wald. Ewig jung und doch ewig alt.«
Die Druidin blinzelte zweimal. Dann sah sie an ihren Händen hinab, fühlte unter ihrem Kopftuch wahrscheinlich nach ihren Haaren, ehe sie zu verstehen schien und sich mit beiden Händen die Augen verdeckte. »Dar ndóigh! Obwohl ich nicht sagen würde, dass ich alt bin. Also, wenn du verstehst, was ich meine«, lachte sie und deutete schließlich auf Seras bronzene Füchsin. »Aber sag mal, bist du aus Xandria?«
Sera zog die Beine an, streifte energisch nicht existierende Falten aus ihrem blauen Kleid und nickte. Dabei musste sie doch immer noch den Mervailler finden!
Die Druidin schloss die Augen und wandte sich zur Nonne. »Du kannst uns allein lassen. Die Füchsin wird mich nicht verraten.«
Unter zusammengezogenen Brauen blickte die Gläubige zu Sera und ging schließlich.
»Wie kannst du dir so sicher sein?«, fragte Sera, als sie unter sich waren.
»Weil ich dein Geheimnis kenne, Dichterin. Verrätst du mich, verrat' ich dich.« Sie grinste und legte den Kopf schief.
Seraphina stellten sich alle Haare auf. Wie, bei den Krallen des Phönix, der die Sonne trug?
»Mein Name ist Saoirse: Reisende mit dem Wind, Kind der Lilie und Wegweiserin der Menschen.« Sie sah zu den Wolken und den Falken hoch. »Obwohl das Letzte bis jetzt nicht so gut geklappt hat.«
Machte sie Witze? Von einer Sekunde zur nächsten wechselte sie von Drohung zu Redseligkeit?
»Ah, versteh mich bitte nicht falsch.« Saoirse hob die Hände. »Ich bin auf Michels inoffizielle Bitte hier, also bin ich offiziell eigentlich gar nicht hier, sondern ...« Sie entknotete ihre dunklen Finger und ließ den Kopf hängen. »Was ich sagen will ist, dass ich schon niemandem von dir erzähle. Was hätte ich auch davon?«
Die Druidin war gefährlich. Woher wusste Saoirse von ihrer Gabe? Hatte Sera sich verraten? Beschattete jemand sie? Wer war noch darüber im Bilde?
Der Spion! Ihr Blick jagte durch den gesamten Hinterhof.
Lucius.
Stopp! Sie krallte die Fingernägel ins warme Kleid. Seraphina war ein Einzelkind. Hatte keinen Bruder – schon von Rechts wegen nicht. Sie war die alleinige Erbin!
»Geht's dir wirklich gut?« Saoirse tapste einen Schritt näher und legte die Hand auf Seras Kopf. Streichelte sie, als wäre sie das Kind, nicht andersherum.
»Nein.« Wieso sagte sie das; gab einer Fremden so viel Angriffsfläche? Weil die Druidin sie an Quentin erinnerte? Weil dieser Ort sie an ihren Bruder erinnerte?
Warum weinte sie?
Sie atmete getränkte Erde nach einem Sommergewitter und Himbeerduft.
Das Kind umarmte Sera. Eine kleine, weiche Hand strich ihr über den Rücken. »Du bist jemandem ähnlich, weißt du? Er versucht auch immer, tapfer und unangreifbar zu sein, aber im Grunde seines Herzens sucht er nach einem Ort, an den er hingehört. Es ist nie einfach, etwas sein zu müssen, was man nicht ist.«
~✧~
Der Spion kam heute im Laufe des Nachmittags, hatte Saoirse sie am Vortag informiert.
Sera knetete ihre schwitzigen Hände. Ihr Puls klopfte ihr durch den Schädel. Vielleicht sollte sie wirklich weitergehen und mit der Vergangenheit abschließen. Nach dem heutigen Gespräch lösten sich ihre Hoffnungen ohnehin wie Wolken auf.
Und dennoch.
Vor ihr im Kreuzgang zu den Gärten bemalten zwei Mönche den Kalkputz auf den Überresten alter Reliefs. Ein Bild bei Nacht, der graublauen Fläche mit zersplittertem, silbernem Kreis nach zu urteilen.
Die kleinen weißen Punkte für die Sterne setzten die Mönche willkürlich. Außer dem bekanntesten: Dem Ersten Stern.
Der, unter dessen Geleit sie Lucius' Asche in die Winde verstreut hatte.
»Benötigt ihr Hilfe bei den Sternen? Zuhause habe ich sie studiert und kann sie euch malen.« Besser, als sich weiter wahnsinnig zu machen.
»Wirklich? Könnt Ihr uns das Sternenbild des Drachen hierhin malen und Euch daran orientieren?« Der jüngere Mönch zeigte ihr den Platz für den nächtlichen Wächter der Zeit und der Ältere übermalte die bereits gesetzten Sterne wieder.
»Natürlich. Ich kenne den Himmel wie ...« – Arta – »die Verse des Lunariums.« Schlechte Idee, umgeben von Mondmönchen.
Die Männer verbeugten sich mit gefalteten Händen. »Wenn das so ist, fühlt Euch frei, an diesem Werk mitzuwirken. Que la lune d'argent brille.«
»Oui.« Eindeutig der falsche Vergleich. Sie nahm Pinsel und Kalkfarbe und setzte die Sterne für den Rumpf des stets über den Horizont gleitenden Drachens – schließlich seine Flügel.
Ihm folgten die Konstellationen des Löwen und seinem Jungen, dem Phönix, dem Eiswolf, der Seeschlange und des Falken, dass der Himmel leuchtete wie die Straßen von Yulth.
Seraphina kannte die Geschichten hinter jedem Sternenbild. Wie oft hatte sie nachts mit Anthelia Sternenstunden gehalten und in der Kälte über die einzelnen Sagen referiert? Wie oft waren sie am nächsten Tag so gerädert, dass sie in ihren Vorlesungen einschliefen?
Wie oft hatte Quentin Lucius und sie aufs Dach im Sommerhaus begleitet und ihnen ebenjene Geschichten erzählt?
»Wunderschön«, hauchte der ältere Mönch und starrte ihr Kunstwerk an.
Seraphina schluckte. Inmitten der Lichtpunkte stand einer, nach dem sich alle anderen ausrichteten: Der Erste Stern bildete die Achse des Himmelsrads und war die ewig leuchtende rechte Hand des Silbermondes zugleich.
»Es heißt, die Sterne zeigen uns ein Bild der Vergangenheit vor der Langen Nacht. Ich wüsste gern, wie die Welt aussah, als sie geboren wurde.« Der Zweite fuhr mit den Fingern das Bild des Phönix – des Herrn der Welt – nach. »Denkt Ihr, es gab wirklich ein Zeitalter der Ewigen Sonne, Füchsin? Ohne die Sterne oder den Mond?«
»Ich weiß es nicht.« Den Legenden nach ja, aber wie handfest waren uralte Legenden schon? »Was wird euer Fresko darstellen, wenn ihr es vollendet habt?«
»Die Mondkrönung.« Der Jüngere strahlte. »Wo der Heilige Michel die Gründung Mervailles bekannt gibt und der Silbermond zur Bestätigung sein Haupt krönt.«
Der wohl bekannteste Abschnitt im Lunarium und der Beginn der hundertzwanzig jährigen Regentschaft des Mondkönigs Michel. »Habt ihr jemals ein Mondkind gesehen?« Jeder kannte die Geschichten über sie. Kaum einer vermochte sie zu bestätigen.
»Nein, noch nicht. Ich möchte Euch nicht zu nahe treten, Füchsin, aber gibt es einen Grund, warum der andere Fuchs Augen wie ein Mondkind hat? Ich hatte immer gehofft, sie einmal zu sehen, aber ...«
Sie waren unheimlich. Tjelvar war wie ein Omen, das ein Blutbad ankündigte. »In Xandria gibt es noch einen Professor mit roten Augen, aber der besitzt nachtschwarzes Haar und gebräunte Haut.«
Die Sterne auf dem Fresko ruhten geduldig an ihren Orten. Wenn in jeder Geschichte ein Körnchen Wahrheit schlummerte, welches lag im Sternenzelt? Welches in den Mondkindern?
Ein Klopfen von Stein auf Stein – schweren Steinen. Mehr fallengelassen als aufeinandergelegt.
»Baut ihr die Klostermauern um?« Sera blickte zu den Lagerhäusern und den Hain dahinter, von wo das Klopfen erklang.
»Äh ...« Der Jüngere wandte sich zum Älteren.
»Ihr habt ja bereits mit Saoirse gesprochen«, senkte der seine Stimme. »Das ist ihr Ziehsohn. Wenn Militär oder andere Offizielle das Kloster besuchen, warnt sie ihn und er vergrößert dann die Tiertunnel, um unbemerkt zu kommen.«
Tiertunnel? Unter anderen Umständen hätte sie geschmunzelt. Das Kloster gehörte früher zweifellos den Druiden.
Lucius.
»Dann begrüße ich unseren Mittelmann mal.« Lucius.
»Macht das. Versucht aber bitte, unauffällig zu bleiben.«
Sera winkte zum Verständnis wie zum Abschied.
Lucius.
Ruhig bleiben! So wie sie die Kräuterbeete zur Scheune entlang hastete, war sie alles andere als diskret. Der Mervailler entging ihr dieses Mal schon nicht. Sie würde sein Gesicht sehen, seine Stimme hören und feststellen, dass sie sich geirrt hatte. Ein Fremder würde sie verständnislos für ihre Aufdringlichkeit anstarren.
Oder?
Sie atmete ein. Wieder aus. So aufgelöst wie bei Saoirse am Vortag musste sie nicht schon wieder jemanden Neues kennenlernen.
Lucius.
Er war tot – seine Asche in den Winden verstreut.
Mit ihrer Gabe sähe sie ihn schneller.
Und würde ihre Hoffnung früher verlieren.
Hinter der Scheune lag der Hain und hinter dem Hain hockte ein Mann auf allen Vieren an der Mauer; setzte die Steine wieder ein.
Lucius.
Hier starb ihre Hoffnung. Sie biss sich auf die Unterlippe. Konnte man sich auf einen solchen Moment vorbereiten?
Sie war allein, gut.
Seraphina verbarg ihre Gestalt und unterdrückte ihre Geräusche. Niemand musste sie sehen, wenn sie zu einem Nervenbündel mutierte.
Flecken zierten das weiße Hemd des Mervaillers wie Sterne die Nacht. Seine braune Hose sah keinen Deut besser aus. Einzig ein grün-goldenes Band mit einem smaradgtropfenen Amulett – um sein rechtes Handgelenk geknotet wie eine Bandage – hätte jemandem aus höherem Stande gehören können.
Lucius hätte sich niemals dazu herabgewürdigt.
Schritt für Schritt trat Sera näher. Ihre Hände verkrampften zu einem Gebet, dass ihre Nägel in die Knöchel schnitten.
Strohblonde Strähnen aufgeriebener Flechtreihen an der Kopfhaut fielen dem Mann ins Gesicht und verbargen seine Augen. Er fluchte leise in der melodischen Sprache der Druiden, als einer der Steine aus dem Bogen herausbrach.
Sie würde den Mann für den Rest ihres Lebens hassen, wieder gehofft zu haben. Wieder enttäuscht zu werden.
Der Mervailler warf sich die Haare über die Schulter und montierte den Stein erneut.
Blaue Augen.
Satte blaue Augen.
Himmelblaue Augen.
»Lucius?«
Er zuckte zusammen und fuhr zur leeren Wildblumenwiese zwischen Mauer und Hain herum. Der Stein fiel erneut auf die Erde.
Seine Augen reflektierten einen tiefen, weiten Himmel. Seine Haare eine wolkenverhangene Sonne.
Unmöglich.
Er hob den Stein wieder auf und rückte ihn in die Mauer.
»Lucius?«
Wieder erstarrte er. Drehte sich dieses Mal jedoch nicht um. »Fina?«
Tränen tropften Seraphina vom Kinn.
Wieso?
Er war tot.
Wieso?
Hatte ihr Vater sie belogen?
»Fina«, flüsterte er. »Wenn du da bist, zeig's mir, egal wie. Bitte.«
Sie hatte Lucius gesehen. Reglos im Bett. Aber sie hatte ihn nicht mehr berührt. Quentin hatte sie vorher aus dem Zimmer geschleift.
Einen Schritt.
Ihre Knie zitterten.
Noch einen.
Gleich war sie bei ihm.
War Lucius damals im Bett wirklich tot? Vielleicht nur bewusstlos oder überhaupt nicht er?
Ihre Fingerspitzen fühlten festen, warmen Stoff – Widerstand. Zuckten zurück. Er war echt. »Ich bin hier.«
Lucius' Finger indessen scharrten in der Erde und über die Mauersteine. Er ließ den Kopf hängen und atmete kaum – während sein Körper bebte.
Was hatte ihr Vater ihr damals wirklich gezeigt?
Sera fiel auf die Knie. Wie konnte er ihr das antun: Ihr acht Jahre ins Gesicht lügen, Lucius wäre tot?
Nur für ihn brach Seraphinas Maske. Verbarg sie beide vor fremden Augen wie Ohren. »Ich habe dich gesehen. Du warst tot. Vater hat dich vergiftet.«
Nicken. Die Haare mit einer dicken Flechtreihe – flankiert von zwei dünneren – hingen ihm bis zur Brust.
»Du hast im Feuer gebrannt, bis deine Asche in eine Urne hineinpasste. Neben unserer Mutter habe ich dich freigelassen.« War das alles eine nachtverdammte Lüge ihres Vaters?
Lucius schloss die Augen. Sog zischend Luft ein. Dann wandte er sich der Sonne zu: Ihren Händen – blasser als die seinen. Ihren offenen Haaren – kräftiger als die seinen. Ihren Augen – verweinter als die seinen.
Er blickte wieder zur blümchenbewachsenen Mauer. Nichts. Während Sera heulte wie ein Schlosshund.
»Hatte nicht geglaubt, dich an so 'nem Ort wiederzusehen.« Er kratzte am Moos der Steine.
»Ich hatte nicht geglaubt, dich jemals wiederzusehen. Wieso ...?« Was hatte ihr Vater damals wirklich getan?
Wieso weinte sie, wenn es Lucius war, der das Schlimmere durchlebt haben musste? Sollte sie überhaupt daran denken, ihn zu umarmen; zu fühlen, dass er lebte – da war – wenn er es nicht wollte?
Sera hob die Hand und griff nach seinem Hemd. Immer noch echt. »Du warst tot.«
Keine Reaktion. Nur eine gequetschte Unterlippe.
Sie zog das glattgetragene, mit Erde und Steinchen besprenkelte Leinenhemd zu sich.
Sein Atem setzte aus. Er schüttelte den Kopf.
Auf Knien kroch Sera näher, nahm seine Schulter mit der zweiten Hand und drehte ihn herum.
Er fixierte die Steine – jetzt neben ihm.
»Sieh mich an.«
Lucius legte eine Hand über seine Augen. Sein Brustkorb schwoll an. Fiel in sich zusammen.
Dann erst sah er sie an.
Ihr Spiegelbild sah sie an.
Lucius sah sie an.
Seraphina umschlang ihren Zwillingsbruder. Jetzt war es irrelevant, ob sie weinte. Jetzt verdeckten seine Haare ihre Tränen. »Wieso?«
»Lange Geschichte.« Wie Watte lagen seine Hände auf ihrem Rücken.
Er war dünn. Knochig. Sie spürte jede Rippe. Er stank nach Rauch und roch nach Wildkräutern. Doch irgendwo fand sie noch den Akzent Kirsche aus dem Garten ihrer Kindheit. »Ich habe dich so vermisst.«
Lucius drückte sie so fest an sich, dass es schmerzte. Seine Finger krampften in den dicken Stoff ihres Kleids und sein Kinn stach ihr ins Schulterblatt.
Diese Wärme war echt. Ihr Bruder war echt.
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Ein kleiner Hinweis für alle Leser, die der irischen Sprache nicht mächtig sind (vermutlich die meisten hier), damit Saoirses Name nicht allzu verwirrend wird:
Saoirse wird in etwa »Sirscha« mit Betonung auf der ersten Silbe ausgesprochen. Abhängig vom regionalen Akzent in Irland wird das R mal mehr, mal weniger gerollt
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