38. Saoirse und die Melodie der Freiheit
Die Wegwarte streckte ihre ersten zarten Glieder empor.
Janek kniete vor der Pflanze seiner Mutter. Die blassblauen Blüten konnte er ihr immer noch nicht zeigen, aber sie hatte ihm versprochen, im botanischen Garten von Xandria ein blühendes Exemplar zu suchen.
»Mama wartet immer noch. Sie wartet, dass Papa nach Hause kommt – oder zumindest seine Asche.«
Sera hockte neben Janek in der regennassen Erde. »Alles kehrt eines Tages heim. Auch ich habe meine Mutter verloren« – sie sah zur Silhouette des Mondes – »aber sie wacht selbst jetzt noch über mich.«
Wie das Kind der Nacht, das seinen Elfenfreund verloren hatte und später von Wind und Falken begleitet wurde.
»Aus ihrem Leben entsteht neues Leben. Aus ihrer Asche entsteht ein neuer Körper und aus ihrer Seele entsteht eine neue Seele. Und manchmal – wenn die Gefühle der Verstorbenen stark genug waren – bleiben sie bis ins nächste Leben.« Janek richtete sich auf. Nur noch Taubheit lag in seiner Stimme. »Das hat Alistair gesagt.«
Sie verzog den Mund zu einem Lächeln. Ob der Druide das inzwischen sogar bestätigen konnte? »Wollen wir zur Stadt gehen und Ctirad verabschieden?«
Er trottete voraus. »Er geht sowieso nicht, wenn ich nicht komme.«
War Alistair wirklich der Richtige, auf Janek Acht zu geben? Doch sie folgte dem jungen Lehrling.
Auf dem kleinen Hafenplatz sprach Ctirad bereits seine letzten Abschiede aus, während der Herzog zweier Landesteile Mervailles Stadtgraf Nolann viel Glück in seiner zukünftigen Position wünschte. Reflexartig setzte dieser zum Salut an, hielt aber inne, ehe er sich mit der Faust auf die Brust klopfte. Hinter ihm standen in weiß-rotem Waffenrock und mit Kommandantenplaketten Arnault und in Pelzmantel gewickelt Bastien – beide stramm oder stocksteif.
Sera und Janek drängten sich zwischen den Moragi nach vorn zu Ctirad. In einer klammernden Umarmung und einem geflüsterten ›Leb wohl‹ verabschiedete Janek einen weiteren Menschen aus seinem Leben.
Seraphina knickste nach mervaillscher Manier und zwinkerte dem irritierten Moragi zu »Das ist der Moment, an dem du dich verbeugst, bevor der Standeshöhere von uns beiden – in unserem Fall du, weil ich neutral bin – zu einer Umarmung einlädt, die der andere – also ich – annimmt.« Sie führte die Verbeugung aus, die Ctirad ungeniert nachahmte.
Er öffnete seine Arme und Seraphina nahm an, dass ihre Kleidung wie Federn über die seine strich und seine Minznote sogleich wieder verblasste.
»Ein paar Tage bei Hofe und die Routine ist deine«, sagte sie. »Möge der Silbermond dir den Weg erhellen und dich in der Not weise leiten, Ctirad.«
Er zog die Mundwinkel hoch und verlagerte sein Gewicht aufs andere Bein. »Die Wurzeln der Lilie reichen durch den gesamten Wald. Ich danke Euch für alles, Füchsin Jeanne.«
»Daran« – Wyatt schlenderte zu ihnen – »werden wir auch arbeiten müssen.« Der Herzog klopfte seinem neuen Schüler auf den Rücken. »Aber das wird noch.« Er präsentierte ihm die Begrüßung ein weiteres Mal und Seraphina spielte mit. »Ganz die Dame, die ich erwartet hatte. Unter dem Segen des Silbermondes sollt auch Ihr wandeln.«
Sie faltete die Hände. »Ihr werdet ihn mehr brauchen, Herzog. Auf dass Mervaille einen friedlichen Morgen erfahren darf.«
»Eure Mühen werden nicht vergebens sein.« Wyatt drehte sich zum angelegten Schiff um und hob zum letzten Gruße die Hand. Dann überquerten er, seine Leibgarde und Ctirad die Flussmündung und treidelten flussaufwärts.
~✧~
Dokumente stapelten sich auf Dokumenten. Der gesamte Besprechungstisch war übersät mit Arnaults Berichten über die Personalauswahl der Stadtwache und Alistairs Aufzeichnungen der Ernteeinträge vom jüngsten Fest und welche Lebensmittel oder Arzneien weiterhin von außerhalb importiert werden mussten.
»Für den Bau der Brücke benötigt Ihr zunächst einen fähigen Architekten, der Euch erste grobe Skizzen anfertigt, aus denen Ihr eine stabile wie gut befestigte auswählt.« Bastien hielt die Liste, auf der Wyatt die Anforderung an ein zukünftiges Copains nannte. Eine war eine Brücke über die Flussmündung. »Habt Ihr Euch entschieden, muss er Euch auf jeden Fall eine Ressourcen- und Arbeitskraftliste, einen Zeitplan und einen Kostenvoranschlag präsentieren, sonst solltet Ihr einen anderen Architekten suchen.«
Stadtgraf Nolann schrieb jedes von Bastiens Worten nieder und legte den Zettel auf eine kleine, Kante auf Kante gestapelte Ansammlung anstehender Aufgaben. »Ich weiß nicht, ob ich wirklich dankbar für meine Ernennung sein soll. Wessen Idee war das, Füchsin?«
»Die von Duc de Côte d'Ambre, Steppe de Minerai«, gluckste sie und kam näher ans allmählich schrumpfende Chaos.
»Ihr brecht auf, nicht wahr?« Bastien senkte Wyatts Liste. Müde Augen blickten vom ersten Morgenrot wieder zu Sera und er erhob sich. »Lasst mich Euch noch zum Hof geleiten.«
»Euer Professor reist wirklich nicht mit Euch zurück, hm? Ich hoffe, Eure Rückkehr verläuft problemlos. Der Silbermond ist Euch gnädig.« Der neue Stadtgraf entfaltete seine Hände wieder und unterdrückte ein Gähnen, bevor er weiterschrieb.
»Gehabt Euch wohl, Stadtgraf Nolann.« Seraphina verbeugte sich und schritt durch die Tür, die Bastien ihr bereits offenhielt.
Der führte sie durch den errötenden Gang. »Es ist bedauerlich, dass ich Euch nicht bis an Dasotradas Grenze begleiten kann. Eure Anwesenheit hätte mir die triste Reise sicher versüßt.«
»Ich weiß Eure Sorge zu schätzen, aber wichtiger ist, dass Copains ein sicherer Start in Mervailles Lehenswesen gelingt.« Zumal Sera ohnehin nicht allein reiste.
Im Stall beluden die Knechte, die nun Nolann dienten, ihre weiße Stute mit den letzten Satteltaschen. Bastien wartete mit ihr darauf, dass der Stallbursche ihr Pferd zu ihnen brachte. »Ich stehe in Eurer Schuld, Füchsin. Dank Euch bleibt mir nicht nur mein Leben, sondern auch eine Möglichkeit, mich zu beweisen – und ich werde sie mit allen Mitteln ausschöpfen. Egal, welche Wendungen uns der neue König tatsächlich bringt.«
»Das möchte ich hoffen. Schließlich wünsche ich mir, in ein paar Jahren von Euch und Euren Reformen zu hören.« Sie lächelte und nahm die Zügel entgegen.
Bastien ging die letzten Schritte bis zum unteren Tor neben ihr und verbeugte sich dort ungewöhnlich tief. »Jemand wie Ihr hört mit Leichtigkeit von der anderen Seite des Perlenmeeres, Nobilis.«
»Par –« Nobilis? Sie starrte ihn mit offenem Munde an.
Bastien nickte freundlich und schlenderte zurück zum Hauptgebäude.
~✧~
Auf dem anderen Ufer der Savage wartete Copains bereits auf sie. Die ganze Stadt hatte sich auf dem Marktplatz versammelt und auch Lucius und Saoirse standen neben ihrem Reisepferd.
Olga preschte vor und schlang die starken Arme um Sera. Rauch und Eisen stachen ihr in die Nase. »Danke für alles, Mädchen.«
»Nicht doch. Das war meine Aufgabe als Füchsin.« Sie erwiderte die feste, warme Umarmung und atmete ihren rauchig stählernen Geruch ein.
Ein letztes Mal.
Die Moragi ließ von Sera ab und nahm sie, ihren Bruder und Saoirse in Augenschein. »Trotzdem habt ihr drei eine lange Reise vor euch.«
Grinsend trat ihr Lebensgefährte Feliks vor – drei in grüne Tücher gewickelte Bündel in den Armen. »Deswegen bekommt jeder von euch das Beste aus meiner Küche als Reiseverpflegung. Ihr habt so viel für uns getan, da ist das hier das Mindeste, was wir zurückgeben können.«
Oh, je ... Sera empfing ihr Bündel und tastete den rauen Jutestoff ab. Einzeln verpackte Rationen. Gut. Das ließ sich noch in ihre ohnehin überfüllten Satteltaschen stopfen.
Sie schnallte die Seitentasche hinter dem Sattel wieder fest und griff nach ihrer Botentasche. Unter dem von Wyatt unterzeichneten Beendigungsdokument hatte sie ihr Abschiedsgeschenk versteckt. »Aber ihr sollt genauso wenig leer ausgehen. Darum habe ich eine Erweiterung für den Steinschlag vorbereitet.« Seraphina stellte sich mit Anthelias Zeichenblock in den Händen vor die Moragi und klappte die erste Seite auf.
»Für alle, die nicht wissen, wie dieses Lehen meinen Professor und mich begrüßt hatte: Es begann mit einem bravourvoll gescheiterten Überfall im Wald und mit Stojans lautem Pöbeln bei der Reparatur des Haupttores.«
Als Stojans Nasenspitze rot anlief, grinste sie und schlug das entsprechende Bild auf.
»Zu dieser Zeit hat Ctirad die Mervailler noch ausspioniert und so getan, als beherrsche er ihre Sprache nicht. Marika hat uns nach einer frostigen Begrüßung ans Mondkloster und Lucien und Saoirse verwiesen.« Es schmerzte, die knöcherige Frau inmitten der Honigblumen zu sehen, wie sie noch tat, was Alistair sie gelehrt hatte: Das Leben bewahren.
»Nach langen Verhandlungen konnten wir endlich eure Felder bestellen, die Druiden befreien und das erste gemeinsame Fest der Krähe und der Saat feiern. Doch die Freude währte nicht lange, als der Fluch der Mutter uns heimsuchte. Copains hatte dennoch Lehrlinge, die weiter an den Werten des Lebens festhielten und Schlimmeres verhinderten.« Was hätten sie ohne Ctirad getan, der sich Iskra entgegengestellt hatte?
»Getreu der Maxime ‚Was uns nicht umbringt, macht uns stärker' hat sich ganz Copains anschließend für den Frieden entschieden« – und Stojan für eine grausame Bestrafung – »der uns durch einen ruhigen Winter und einen befreienden Frühling brachte.« Sera zeigte ihnen die bunten Kopien all der Zeichnungen, die sie in Alistairs friedvollem Winter angefertigt hatte.
Am Ende ihrer Galerie hatte sie die restlichen weißen Blätter mit Alltagsszenen gefüllt: Einen geselligen Abend im Steinschlag mit Feliks an der Feuerstelle, während Alistair und Sera Geschichten erzählten; Janek und einige weitere Kinder mit ihren Schneeskulpturen; Nolann und Stojan im ewigen Streit. Ihr Platz hätte nie ausgereicht, alle Erinnerungen festzuhalten.
Schließlich reichte sie Olga – den Tränen nahe – ihr eigenes Abschiedsgeschenk. »Ich hoffe, ihr findet einen schönen Platz im Steinschlag für unsere gemeinsame Zeit.«
Die Moragi nickte nur und klammerte sich an den Block.
»Hey!« Ein Schlag auf den Rücken riss Sera von den Füßen. Sie stolperte vornüber, ehe Olga sie auffing. Musste Stojan immer so grob zu anderen sein?
»Meine Schwester zum Heulen zu bringen, setzt was!« Doch selbst unter seinem Bart zuckte etwas. In der linken Hand hielt der Steinmetz ein faustgroßes Objekt, ebenfalls in ein Tuch gewickelt – wenn auch abgenutzt und grau. »Für dich, kleine Füchsin.«
Stojans Geschenk war schwerer als es vermuten ließ. Sera entwand den Stoff und eine bemalte Fuchsstatue mit gelben Augen blickte sie an. Sie saß. Nicht wie die Originalversion in Xandria, die strenge Gelehrigkeit ausstrahlte. Viel mehr wie eine treue Freundin mit einem verständnisvollen Gemüt.
»Denk an uns, wenn du sie siehst, ja?«
»Versprochen.« Nicht weinen. Nicht weinen! Vorgetäuschte Ruhe übermalte ihre ersten Tränen.
Stojans breite Arme hielten sie fest.
Das hier war tatsächlich ein Lebewohl. Sie sah diese Menschen nie wieder. Ihr Lachen. Ihre Geschichten. Ihr eigenes Abenteuer: All das endete hier.
»Jetzt geht.« Der Riese klopfte ihr noch einmal – dieses Mal sanfter – auf den Rücken. »Alistair und Janek warten im Wald auf euch.«
Seraphina schwang sich in den Sattel. Ließ den Steinschlag zurück. Ließ das Tor zurück. Ließ die aufbereitete Kaserne zurück.
Lebt wohl, Copains.
~✧~
Erst ein ganzes Stück im Wald trafen sie auf Alistair und Janek. Beide auf einem der gefällten Stämme mit den Pantherajungen um sich. Die Tiere wirkten nervös, ängstlich – kratzten die Rinde von den Stämmen.
»Jetzt ist es so weit.« Alistair stand auf, sobald sie ihn erreichten. »Mit euch ziehen die letzten Panthera aus Copains in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Ihr werdet uns allen fehlen, Knospe, Lucien, Saoirse.«
Die Druidin sprang hinter Lucius vom Pferd und kraulte den jaulenden Panthera hinter den Ohren. »Keiner von uns wird die Zeit vergessen, die wir miteinander verbracht haben. Wir werden immer Freunde bleiben.« Die hundsgroßen Panthera kauerten sich auf Saoirses Schoß und winselten.
»Ganz besonders du hast uns immer zur Seite gestanden«, sprach Seras zweite Stimme, die nicht brach. »Jemand wie du ist unbezahlbar, vergiss das nicht.« Wenn sie ihm nur in die Augen sehen könnte ...
»Werde ich nicht.« Alistair nahm ihr Kinn, bis sie ihn ansah. »Aber auch du bist kostbar, junge Knospe. Lass uns alle dein Licht sehen, wenn du erblühst.«
Sie nickte. So weit reichte das Licht des Sonnenturms von Cor Sole nicht!
»Und jetzt zu dir.« Der Druide stemmte die Fäuste in die Hüften, dass Lucius zusammenzuckte. »Was deine Dame braucht, ist kein Tagedieb und Schmuggler. Mach was Anständiges aus deinem Leben, jetzt, wo du sie wiederhast.«
Ihr Bruder seufzte. »Das ist alles?«
»Nein.« Alistair breitete die Arme aus. »Aber das Wichtigste. Leuchte und lebe!«
Der umarmte ihn. »Ehrenwort, Alterchen.«
»Ähm ... Jeanne?« Janek trat vom Baumstamm und vor Sera. Seine Finger kneteten Johannas Bernstein. Er atmete einmal durch. »Wenn du wiederkommst – und das wirst du« – er hob ihre Kette – »werde ich ein Arzt sein! Und ich werde nicht irgendein Arzt sein. Ich werde der beste von allen sein! Verlass dich drauf.«
»Dann habe ich aber noch eine Menge Zeit, die ich warten muss.« Sera sank auf die Knie und drückte den kleinen Lehrling an sich. »Streng dich an, dass ich von dir höre. Eher mache ich mich nämlich nicht auf den Weg.«
Janek hielt sie fest. »Und wie ich mich anstrenge!«
»So. Und von euch beiden verabschiede ich mich natürlich auch noch.« Alistair knuffte Quiva und Rory, die sich mit riesigen Augen an Saoirse pressten. »Ihr beide geht jetzt nach Hause. Dorthin, wo ich eure Urgroßeltern kennengelernt habe.«
Die Panthera winselten nur und legten die Ohren an.
Saoirse strich den beiden über die Köpfe. »Deireadh ist ein schöner Ort. Nachts leuchtet der ganze Wald und tagsüber kommen Händler aus aller Welt. Ihr könnt mit anderen Panthera spielen und über die Bäume klettern und frei sein.«
Aber die zwei wollten nicht frei sein. Sie legten sich auf den Boden und lugten zu Alistair hoch.
»Nein, Rory«, presste der heraus. »Es ist Zeit für euch, zu gehen. Saoirse passt jetzt auf euch auf.«
Letztendlich mussten die beiden Druiden jeweils eines der Geschwister den Weg entlangschieben. Als die Panthera endlich eigenständig standen, rannte Alistair zurück zu Janek, der sich abgewandt die Ohren zuhielt und auf dem Baumstamm kauerte.
Einmal liefen Quiva und Rory zu ihrem kleinen Herrn zurück, doch er ignorierte sie schluchzend. Jaulend blieben sie dort. Erst lange Minuten später wandten sie sich ab und folgten Saoirse.
Alistair hob ein letztes Mal seine Hand – drehte sich nicht um. Dann ließen er und Janek die gestapelten Baumstämme hinter sich und verschwanden.
Zum Glück kannte ihre Stute den Weg nach Hause, denn Seraphina sah ihn durch den Tränenschleier nicht mehr. Zum Glück konnte sie ihr Gesicht verbergen und ihr Wimmern ersticken.
~✧~
Am Abend übernachteten sie im Mondkloster und Lucius und Saoirse verabschiedeten sich vom Priester, während Sera in der Kapelle dem Mondgott für seine Unterstützung dankte. Mittig auf dem Altar lag das Lunarium in seinem Lesepult. Rechts ein silberner, gesplitterter Mond und links eine violette Lilie in einem Gestell.
Später führte ihr Rückweg sie am Fresko vorbei, an dem sie vor einem Dreivierteljahr selbst mitgewirkt hatte. Der Sternenhimmel, wie sie ihn gemalt hatte, prangte nun im Hintergrund der Szene.
Die Mondkrönung des Sankt Michel, nach der er zum König Mervailles aufstieg.
Der alterslose Mann mit elfenbeinblasser Haut wie sie, blutroten Augen wie Tjelvar und silberweißem Haar wie der Silbermond stand mit ausgebreiteten Armen zum Betrachter hin. Eine schlichte, weiße Robe mit rotem Saum für seine einfache Herkunft und Bescheidenheit, doch ebenso sehr für seine Unschuld. Kein bisschen Dunkelheit befleckte sein Antlitz.
Im Hintergrund – direkt über Mondkönig Michels Kopf – erstrahlte der gesplitterte Silbermond.
An diesem Punkt endeten die meisten lunarischen Werke. Doch nicht dieses.
Zu Michels Füßen wuchsen tiefviolette Lilien. Am Horizont zu einer Seite lugten der erste Strahl der Sonne und der Kopf des Phönix im Blutrot über die Berge. Auf der anderen Seite über einem Wald hob ein Schwarm Krähen über den Baumwipfeln ab und unten – im Schutz der Bäume und kaum sichtbar vor dem Schwarz – saß eine schwarze Katze.
Sie waren alle da: vom Mondgott zur Mutter, zum Lichtbringer und Phönix bis zum Tod und sogar der Schwarzen Katze.
Sie alle gehörten in dieses Bild.
~✧~
Die Reise durch Mervaille verlief ruhig und friedlich. Mit derart heller Haut getarnt, dass niemals violettes Blut durch Saoirses Adern fließen konnte, war sie freier unter den Mervaillern als je zuvor. Glücklicherweise wusste die Druidin, ihre kleinen Großkatzen selbst in einer überfüllten Stadt wie Aiglon so zu bändigen, dass die ›Hunde‹ ebenso problemlos durch die Straßen kamen.
Die ehemalige Grenzstadt mit dem Baugerüst für eine eigene, befestigte Brücke hinter ihnen, erstreckte sich das durch Erdwälle getrennte Feldermeer ohne jeden Baum vor ihnen. Die Weizenterrasse bot nur eines auf und sonst nichts.
Im dasotrischen Gebiet kurz vor Speranx trennten sich ihre Wege abermals. Nach drei Wochen gemeinsamer Reise mit viel Freude und musikalischer Begleitung standen sie auf der Anhöhe der Hauptstraße nach Speranx oder wahlweise nach Garradh – der druidischen Stadt des nördlichen Duthchal-Waldes – und verabschiedeten die Sonne über dem glitzernden Perlenmeer.
»Quentin hätte jetzt gesagt, dass das die Schuppen der letzten Seeschlange sind.« Lucius saß im Schneidersitz in Richtung Perlenmeer, nachdem sie die Zelte aufgebaut und das Lagerfeuer entzündet hatten.
»Wenn es untote Götter gibt, die Sand zu Gold verwandeln, warum nicht?« Strähnen ihres sonnengoldenen Haares wehten Sera ins Gesicht und sie sank neben ihren Bruder. An diese Farbe musste sie sich auch erst wieder gewöhnen.
»So! Unser letztes gemeinsames Festessen ist fertig«, trötete Saoirse und gab Quiva und Rory die übrigen Stücke.
Die Zwei warfen sich sofort darauf und spielten darum, wer den größeren Anteil fressen durfte. Dieses Mal gewann Quiva, während Rory tröstende Streicheleinheiten von Saoirse erhielt. Noch immer sahen sie jeden Abend zu Alistair zurück, aber jetzt blieb ihnen nur noch ein Weg: den nach vorn.
Saoirse servierte jedem von ihnen eine Portion in Brühe gekochter Pinselgraskörner, geschmorte Moorwurzeln mit Krauskohl und geröstete Edelkastanien. Zum Schluss streute sie über die drei Teller eine Handvoll frische Kräuter und Nüsse. »Feliks' letzte Vorräte. Schlagt zu!«
Wie es duftete! Und ab morgen verloren sie Saoirses Kochkünste ... »Es gibt wirklich keine Möglichkeit, dich an den lumistrischen Hof zu laden?«
Doch die Druidin lachte. »Noch nicht. Noch gehöre ich dem Wind. Wenn ich irgendwann an einem festen Platz bleiben will, überleg ich's mir nochmal.«
»Solang du uns wenigstens besuchen kommst.« Lucius streckte seine Beine und kostete jeden Bissen aus. »Erwarten dich, wenn der Sonnenturm geleuchtet hat, klar?«
»Jap!« Saoirse salutierte mit dem Löffel in der Hand. »Um nichts in der Welt lass' ich mir dich in Adelskleidung entgehen.«
Ihr Bruder brummte und fuhr sich über die Flechtreihen in seinen Haaren.
Seraphina unterdrückte ihr Schmunzeln. Die Räte würden die Existenz ihres Zwillingsbruders ohnehin abstreiten, sodass er die meiste Zeit in legerer Kleidung durchs Land streifen und sie über die Stimmung informieren könnte. Mit seiner Gabe und seinen Erfahrungen war er die beste und loyalste Expertise, die sie auf diesem Fachgebiet je erhalten würde.
Unter dem Segen ihrer Mutter verbrachten sie die letzte gemeinsame Nacht mit Geschichten: Geschichten über die Sterne, über die Familie Aureum, über die Druiden.
»Du bist genau wie Alistair.« Seraphina betrachtete den Drachen im Süden. »Frei wie der Wind, ums Perlenmeer und sogar nach Entalar zu reisen.«
»Nur, dass Alistair nie da war«, ergänzte Lucius. »Dafür kennt er fast alles andre in Degun.«
Saoirse kicherte. »Von Deireadh kommt man aber nur mit dem Schiff richtig gut weg.« Sie stupste Lucius' Schulter an. »Ich hoffe, du bist mir nicht böse, dass wir jetzt doch nicht zum nächsten Sechsfaltigkeitsfest in Entalar können?«
»Würd doch eh noch ewig dauern, bis der Gott der Wüste das nächste abhält. Bis dahin ist Fina schon lange Ratsherrin.«
»Ihr wolltet wirklich nach Entalar? Eine Flöte reicht wohl nicht.« Sera grinste. Ob sie sich vom Gott der Wüste auch etwas hätte wünschen können? Ihre Violine vielleicht, die sie nur Tage nach Lucius' vermeintlichem Tod auf seinen Klaviertasten zerschmettert hatte?
»Ich hab nicht mal nach der Flöte gesucht, als ich damals da war.« Die Druidin hob das durchsichtige Wunderinstrument und die Smaragdperle an der Schnur wogte im süßen, warmen Nachtwind. »Was wir eigentlich gesucht haben, konnte der Gott der Wüste uns nicht geben.«
»Wenn du die Flöte nicht haben möchtest, nehme ich sie gerne.« Wie lange hatte Sera jetzt keine Instrumente mehr gespielt?
»Hier.« Die Druidin warf sie ihr zu. »Du darfst sie so lange behalten, wie du kannst.«
Die Querflöte klirrte auf den Stein neben Sera, dass es sogar einem unzerstörbaren Gegenstand Schmerzen bereitet haben musste. Sie nahm die Flöte, legte sich wieder auf den Rücken und sah hindurch.
Wie durch rundes Glas funkelten die Sterne durchs Flötenrohr und verzerrten zu Lichtbändern. Ein einzelner violetter Tropfen zierte die Smaragdperle am grün-goldenen Garn. »Wie kann man so etwas überhaupt erschaffen?«
»Frag das den Gott der Wüste. In fünf Jahren findet das nächste Fest statt«, sagte Saoirse, als hätte sie schon lange aufgegeben, dieses Rätsel zu lösen. »Viel wichtiger: Spiel was, Fina.«
Das sagte sie so einfach. »Also gut. Querflöte habe ich aber nur kurz gespielt.«
»Ich hab immer nur Blattflöte gespielt«, lachte Lucius. »War aber nie besser als 'ne Grille.«
Die Querflöte wog nichts, als Fina sie an die Lippen legte und blies: Klänge feiner als sie je mit einem ihrer Pinsel malen könnte. Klänge heller als jedes Glockenspiel in Lumistas Innenstädten.
Klänge so sanft wie die längst zurückgedrängten Dünen in Entalar, wenn der Wind den Sand weiter getrieben hatte.
Eine Flöte, wie sie nur ein wahrer Gott zu erschaffen vermochte.
~✧~
Am nächsten Tag war nur noch Lucius bei ihr.
Seraphina hielt die Querflöte bis zum Nachmittag fest, als sie durch die überfüllten Vororte von Speranx und schließlich zum Tor der äußeren Mauer ritten. Hier musste sie das Instrument zwangsläufig aus der Hand legen, um den Torwächtern den unterschriebenen Beendigungsvertrag vorzuzeigen – wenn ihre Brosche und persönlichen Unterlagen schon noch in ihrem Studentenzimmer verweilten.
Danach griff sie das gläserne Wunderwerk wieder.
»Willst es wirklich wissen, hm?« Ihr Bruder drängte sein Pferd die geschäftige Straße entlang.
Immer weiter bergauf hatte sie ihm gesagt, sollten sie sich verlieren. Die ehemalige Sommerresidenz der lang vergangenen Könige von Speranx lag außerhalb des Altstadtkerns: Dort, wo einstmals Wald regierte.
»Dinge sollten eben nicht einfach so verschwinden können. Allerdings ...« Die seltsame Kordel mit einer Hand aus der Satteltasche zu ziehen war schwieriger als erwartet, aber schließlich reichte Sera sie Lucius. »Ich sollte dir das hier von Saoirse geben, sobald wir in Speranx sind.«
Sein Gesicht wurde blass. Als würde die willkürlich geknotete Kordel jeden Augenblick zerfallen, berührte Lucius sie. Eine Träne rann sein Gesicht hinab und er wandte sich zu den hohen, hellen Häusern um sie herum.
»Sagst du mir, was es mit den Knoten auf sich hat?« Saoirse hatte ihr immerhin auch verboten, den an ihrem Gürtel jemals zu lösen.
»Druidensprache.« Jetzt sah er doch zum Abschiedsgeschenk seiner Ziehmutter. »Deiner steht für einen Schmetterling.«
Sie runzelte die Stirn. Der zerfranste Knoten?
Ihr Bruder blieb stehen und band die Kordel ans grün-goldene Band um sein Handgelenk. »Darf ich die Flöte mal?«
Verschwand sie dann?
»Hier. Willst du Saoirse auch eine Nachricht hinterlassen?«
»Jap.«
~✧~
Zwei Stunden später hatten sie die Menschenmassen zurückgelassen und standen vor den sandsteinfarbenen Ziertoren der Universität von Xandria. Bald war der von Saoirse bemessene Zeitraum von etwas unter einem Tag um.
»Die allwissende Füchsin von Xandria!« Lucius stolzierte zur Bronzestatue und verbeugte sich vor ihr.
Sie waren angekommen.
Seraphina führte ihre Stute neben ihr her zu Lucius. Unter dem Segen der weisen Füchsin hatten sie diese Mauern zu zweit verlassen, unter ihrem Segen betrat sie sie zu zweit – nur mit einer anderen Begleitung.
»Niemals vergessen, sich ewig erinnern.
In Gedenken an Freunde, Familie und große Persönlichkeiten aus Yulth. Möge ihr Erbe an diesem Ort weiterleben.«
Ob Tjelvar sich an Seraphina erinnern würde, wenn er zurückkam?
Ihre rechte Hand umfing nichts als Luft. Saoirses Querflöte mit dem nun verknoteten Garn war verschwunden.
»Siehst du? Unglaublich gut zum Kleingeldmachen. Im Grunde genommen nicht mal Diebstahl.« Lucius zuckte mit den Achseln. »Sag mal, warum sitzt da ein Huhn?«
Sera seufzte. »Das weiß niemand.«
~✧~
Luan hatte sie vorgewarnt, aber Sera betrat ihren alten Raum dennoch. Anthelia hatte ihren Magisterabschluss in Botanik und Agrarwissenschaften überraschenderweise diesen Winter schon abgeschlossen und war ebenfalls nach Hause zurückgekehrt.
Das kleine Vermögen, das sie hier in über elf Jahren zusammengearbeitet hatte, müsste ausreichen, um ihre Familie aus der Sklaverei freizukaufen und irgendwo in Dasotrada ein Haus zu erwerben. Mit ihrem zweifachen Magister stand ihr die Welt offen.
Das gemütliche Zweibettzimmer war leer: Aufgeräumt, Betten gemacht und Bücher gestapelt. Seraphina hatte ihre Freundin schneller verloren als gedacht.
Auf Seras Anrichte lagen zwei Bücher mit nachtschwarzem Einband – einer davon mit blutrotem Phönix –, ihr Broschenkästchen und ein Brief.
»Liebe Sera,
tut mir leid, dass wir uns doch nicht so bald wiedersehen. Die Profs haben meine Leistungen schneller als erwartet anerkannt und mich zur Magisterprüfung zugelassen. Und siehe da: Bestanden! (Hurra!)
Ich hoffe, dein Auftrag in Morag verlief trotz aller Schauermärchen friedlich und dass du wohlauf bist, wenn du das hier liest. Natürlich hoffe ich auch, dass Prof Galdi mehr als nur ein Stein bei eurer Mission war und dich jetzt nicht mehr so hasst wie noch im Sommer.
Für mich heißt es jetzt, Abschied zu nehmen (doppelt so schwer, weil du nicht da bist). Morgen breche ich nach Thalassa auf und schlage mich von dort zu meiner alten Plantage durch. Mal sehen, was die Schweine sagen werden, wenn ich ihnen das Geld um die Ohren werfe, dass sie nicht mehr geradeaus sehen können.
Sobald ich einen neuen Platz für meine Familie und mich gefunden habe, schreibe ich dir wieder :)
Deine Anthelia
Übrigens: Die Nachttrilogie war schrecklich. Wie sollte da überhaupt ein dritter Teil entstehen können?«
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro