13. Wer Leben gibt, muss Leben nehmen
Stojan und ein weiterer Mann nahmen Alistair die weiß gekleidete Marika aus den Armen und trugen sie auf den fast leeren Holzscheitwagen. Ihre Freundin bewegte sich nicht. Protestierte nicht. Ihr Hochzeitskleid war ihr Leichentuch.
Alistair hockte auf dem Boden und starrte auf seine dunklen Hände. Er atmete tief aus und wieder ein, ehe er sie zu Fäusten ballte und aufstand. Den fünf Druiden hinter ihm nickte er zu und sie erhoben sich ebenfalls.
So verteilten sich die kindergleichen Gestalten auf den fünf Feldern. Zwei saßen im Schneidersitz auf der lockeren Erde, die anderen standen mit geschlossenen Augen, teils gefalteten Händen.
Ihre Schatten zogen über die Waale bis ins Honigblumenfeld und zu ihnen zum Festplatz.
Anthelia hatte sie immer geneckt, dass Sera den Pflanzen beim Wachsen zusehen könnte. Sera hatte dann immer dementiert, für einen so langwierigen Prozess nicht die Geduld zu haben.
Jetzt sah sie den Pflanzen beim Wachsen zu: Wie sich die Erde wölbte, kurz darauf grasgrüne Keimlinge herausbohrten und beständig weiterwuchsen. Auf Hüfthöhe der Druiden angelangt, rangen sie um jeden Zentimeter Wachstum, ehe es vollends aussetzte.
Die Moragi murmelten einander zu und beäugten die grünen, teilweise blatttragenden Pflanzen und die Druiden, die aus ihrer Starre erwachten.
»Das reicht nicht«, flüsterte Lucien.
Eine Hautfarbe wie Leinen zierte die erst bleichen, zuletzt dunkleren Druiden, als sie zwischen den getreideähnlichen Pflanzen zurückkamen.
»Das war alles? Die sehen mir nicht gerade erntereif aus«, flüsterte Bastien zum Kommandanten.
»Vielleicht haben sie die falschen Tiere geopfert?« Nolann runzelte die Stirn.
Alistair stellte sich vor die unruhige Menge – ähnelte einem verprügelten Jungen, der sich die Verletzung seines Stolzes nicht anmerken lassen wollte. »Der Anbau des Weizens hat die Böden wie befürchtet ausgezehrt. Wir werden in einer Woche weitermachen und der Erde bis dahin noch mehr Nährstoffe untermischen.«
»Selbst eine Woche wird nicht reichen. Zwei bis drei mindestens, bis wir ernten können«, murmelte Saoirse, als sie wieder bei Sera und ihrem Bruder war. Die Druidin blickte Sera mit großen Augen an.
»Tja.« Gedehnt wie sein Wort stand Bastien von der Bank auf und strich seine rote Schecke glatt. Rechts und links neben ihm positionierten sich zwei Soldaten – die Hände auf den Griffen ihrer Schwerter. Schließlich schritt der Stadtgraf mit hinter dem Rücken verschränkten Armen auf den Druiden zu.
Das Knirschen unter seinen Schuhen dominierte den Festplatz.
Alistair sah mit den Zähnen mahlend zu Bastien auf.
Luciens Hand um ihre verkrampfte wie die Klaue einer lauernden Bestie.
»Erntereife Felder waren die Gegenleistung für meine Vorräte und euer Leben, Druide.« Bastien überragte Alistair um einen Kopf.
»Und die werdet Ihr erhalten, Euer Gnaden. Aber das Leben braucht manchmal Zeit. Unsereins kann es großziehen, doch was keine Nährstoffe hat, kann nicht wachsen.« Der Druide spielte mit dem Saum seines orangen Wamses und trotzdem erwiderte er den Blick des Stadtgrafen.
»Da lässt sich nichts machen.« Seelenruhig schlenderte Bastien um Alistair zu den grünen Pflanzen nahe der hölzernen Stege über die Waale. Die schmalen Blätter reichten ihm nicht einmal vom Handgelenk zu den Fingerspitzen. Die pinselartigen Kolben bestanden aus winzigen, limettengrünen Körnern.
Der Druide biss sich auf die Unterlippe. Sein Brustkorb bebte und er stand starr wie eine Statue zwischen den Soldaten.
»Ein Ertrag für mehrere Monate, Druide.« Der Stadtgraf spazierte vom Steg zurück zu Alistair und wartete, bis dieser ihm wieder in die Augen sah. »Ich erwarte Erfolg, keine Ausreden.« Damit verließ er den Platz gefolgt von den Männern, die ihn herbegleitet hatten.
Alistair sackten die Schulten herab.
Die Anspannung über dem Platz löste sich. Der Griff um ihre Hand ebenfalls.
Sera atmete auf. Blinzelte. Betäubte irgendetwas ihre Sinne oder warum fühlte sie sich so träge?
»Ich sollte gehen. Marika hat mir die Fürsorge über Janek anvertraut, also sollte ich nach ihm sehen.« Sie wollte sich von Luciens Hand befreien, aber er ließ sie nicht.
»Hältst du das wirklich für 'ne gute Idee? Du solltest hierbleiben und Alistair für dich gehen lassen.« Seine Stimme flehte beinahe.
Sera stutzte. Woher wusste er von Marikas letzten Bemühungen? Sie wollte Janek sehen. Wissen, ob es ihm gut ging und ihm von Marikas Ableben berichten – ihn trösten –, aber ... »Ja, wahrscheinlich ... Alistair kann sich besser artikulieren und mir geht es –«
»Unser Schmetterling sollte gehen und für den Kleinen da sein«, sagte Saoirse mit einer Bestimmtheit, die Lucien stocken ließ, und trennte Sera von ihm.
Der schüttelte den Kopf. Sorgenfalten auf der Stirn. »Dann bitte. Wir bringen dich.«
»Nicht nötig. Tjelvar« – winkte Saoirse den Professor herbei – »wird deiner kleinen Goldblume in ihrer Trauer sicher beistehen.« Sie stieß Sera so energisch nach vorn, dass sie gegen Tjelvars Brust taumelte.
Lucien ballte die Fäuste und knurrte Saoirse an, ehe er Tjelvar musterte.
»Natürlich.« Als suchte ihr Professor in Seras Gesicht nach etwas, huschten seine blutroten Augen über ihre, ihre gerunzelte Stirn und ihre klammen Hände. Seine Brauen zogen sich zusammen und er brummte. Dann fixierte er Lucien. »Jedem sollte seine Zeit gegeben werden, zu trauern, nicht wahr?«
Mit einem Schritt zur Seite trat sie aus seinen Armen. »Was hat Lucien euch eigentlich getan? Mir geht es gut und ich bevorzuge es, allein bei Janek zu sein.«
Saoirse und Tjelvar tauschten einen Blick. »Dein Lehrmeister begleitet dich auch nur zum Jungen. Wenn du allein sein möchtest, respektieren wir das.« Sie legte sich die Hand aufs Herz. »Und vergiss nicht: Der Tod bedeutet niemals das Ende.«
Sie funkelte Saoirse an und spurtete dann den Weg zur Stadt zurück, dass Tjelvar ihr nachhetzen musste. Als ob sie über den Tod nachgedacht hatte! Viel mehr darüber, wie sie Janek trösten und ihn auf die Burg bringen konnte. »Ich kann gut auf mich selbst aufpassen, Tjelvar. Alistair braucht dich mehr als ich.«
»Du unterschätzt seine Fähigkeit, Probleme auf Messers Schneide zu balancieren. Er wird sich auf das nächste Projekt stürzen, sobald ich Bastiens Erlaubnis eingeholt habe.« Problemlos hielt er mit ihr Schritt und betrachtete die Stadt im schwindenden Morgenrot. »Es wird höchste Zeit, das Hospital funktionstüchtig zu wissen.«
Jetzt blieb sie stehen.
»Ach, dir sagt er also, was los ist? Liegt das an eurer uralten Professor-Studenten-Beziehung, oder habe ich etwas anderes verpasst?« Ihr log der Druide ins Gesicht, während er Tjelvar alles beichtete?
Er hob die Brauen. »Den Aufbau des Hospitals habe ich vorgeschlagen, weil wir es in absehbarer Zeit brauchen werden. Woran denkst du gerade?«
Alistair hatte ihm nichts erzählt? Schnell schloss sie den Mund wieder und schluckte ihre spitze Bemerkung herunter. »Die Widerständler. Dein Schüler arbeitet daran, ihnen entgegenzuwirken.«
»Sicher tut er das.« Tjelvar zuckte mit den Schultern. »Aber ich rechne sowieso damit, dass sie bald kommen. Überleg mal: Es gibt tatsächlich noch lebende Druiden, die in Geiselhaft der Mervailler sitzen. Dieses Wissen allein wird die Rebellen zum Handeln zwingen – schließlich weiß niemand mit Sicherheit, was Bastien und Nolann mit ihnen machen, sobald sie sie nicht mehr brauchen.«
»Bastien würde sich bestimmt auch einen Hausdruiden halten, um ihn mit Fragen zu foltern und Nolann wird nachgesagt, dass er schon im Duthchal-Wald dutzende von ihnen abgeschlachtet hat.« Den Blick gen Boden rieb sie über ihre eisigen Fingerknöchel. »Verzeih mir bitte meinen scharfen Ton. Als ich Alistair auf Ctirads Aufenthalt im Wald angesprochen habe, hat er mir stattdessen gedroht und ich war frustriert, dass du scheinbar besser mit ihm reden kannst.«
Ein Knirschen vor ihr und Tjelvar trat näher. »Womit?«
Sie erstarrte zu einer Marmorsäule. Wenn er das Alistair erzählte ...! »Äh, nein. Mit gar nichts. Bitte vergib m–«
»Jeanne.«
Sie fuhr zusammen und sah zu ihm auf.
Das Blutrot in seinen Augen war warm wie Kerzenlicht. Die strengen Falten auf seiner Stirn weicher als je zuvor in ihrer Gegenwart. »Womit hat Alistair dir gedroht?«
Eisen.
Ihre Unterlippe stach. Der Geschmack klebte an ihren Zähnen, ihrer Lippe – verteilte sich auf ihrer Zunge. »Er weiß, wer ich bin. Und er ist bereit, es gegen die Mervailler auszuspielen.«
Der Geruch nach alten Büchern und Metall umfing sie. Eine große Hand legte sich auf ihre Schulter und er lächelte – wirklich und wahrhaftig. »Das wird er nicht, versprochen. Alistair sollte es besser wissen, als meine Schülerin einzuschüchtern.«
Seine Schülerin? Jemand, der ihr half und für sie einstand? Den sie fragen durfte?
Seraphina strich sich mit den Fingerspitzen die Tränen aus den Augen. Dass sie jemals vor dem unsympathischten Professor des gesamten Lehrpersonals weinen würde ...
»Fehltritte und Ratlosigkeit werden dich noch lange begleiten und genau dafür bin ich da. Sterne fallen, aber sie erlöschen nicht. Ich beschütze dich, komme was –«
Jemand hatte die Kerze ausgeblasen.
Der Professor für Politik, Wirtschaft und Geschichte zuckte zurück und sein Lächeln starb. Einen Augenblick war es ... Schmerz? Dann herrschte wieder Leere in seinem Gesicht. »Du wolltest zu Janek. Geh allein. Ich rede mit Alistair.«
Er flüchtete zum Festplatz. Ließ sie allein wie ihre Mutter – wie Lucien, Johanna und Marika. Sein wippender Pferdeschwanz verschwamm in ihrer Sicht.
Natürlich. Niemand blieb lange bei ihr.
Sie war allein.
~✧~
»Janek?« Ihre Fingerknöchel klopften gegen Marikas raue Haustür. Sie hatte Minuten gebraucht, ehe sie sich durchgerungen hatte, doch nach Janek zu sehen. Jetzt stand sie vor der Tür und stellte sich der Stille.
Sie klopfte noch einmal.
Wieder verhallte der dumpfe Ton ohne eine Reaktion.
Was hatte sie auch erwartet? Nach Luciens vermeintlichem Tod hatte sie sich in seinem Schlafzimmer eingeschlossen, die Vorhänge vor die riesigen Fenster gezogen und sich mit den Kissen ihres Bruders ins Bett gekauert.
Als ihr Vater die Tür nach zwei Tagen aufbrechen ließ, hatte sie jeden angeknurrt, der ihr zu nahe kam – einschließlich Quentin und ihren Vater. Sie hatte ihn angeschrien. Ihn zwingen wollen, seine Tat zuzugeben; ihr ihren Bruder zurückzugeben.
Würde Janek genauso reagieren, wenn sie Marikas Haus ohne seine Erlaubnis betrat? Würde er sie dafür verantwortlich machen, nichts gegen Marikas Opfer getan zu haben – sie dafür hassen?
Ihre Hand sank vom dunklen Holz.
Warum hatte sie auch wie festgeleimt dagestanden, anstatt Marika von ihrem Suizid abzuhalten? Die Krähe war doch eindeutig. Ihre Nahrungsverweigerung, ihr Blick in die Ferne – dass sie fortging.
Seraphina hätte es wissen – es verhindern sollen.
Sie schloss die Augen und konzentrierte sich aufs Atmen, um jeden Schluchzer zu ersticken.
Wie lange schon hatte Marika geplant, zu sterben? Wie viel früher hätte Sera die Zeichen sehen können?
Ihre Fäuste zitterten unter dem mäßigen Erfolg, ihre Tränen zurückzuhalten.
Sie hatte wieder versagt! Konnte ja nicht einmal Marikas Bitte erfüllen, für Janek zu sorgen!
Atmen!
Ein. Aus. Ein.
Die Regelmäßigkeit löste ihre enge Brust.
Noch ein paar weitere Züge und sie verdrängte die Tränen.
Ein letzter und sie öffnete ihre Fäuste. Rote Linien in den Handflächen, wo ihre Fingernägel in die Haut stachen.
Seraphina trocknete jede Tränenspur. Dann betrat sie das Haus ohne weitere Ankündigung.
Als ob Marika nur für fünf Minuten fortgegangen wäre.
Die getrockneten Kräuter dufteten und hingen an Schnüren durch den vorderen Teil des Hauses. Flämmchen züngelten in der Feuerstelle. Mobiliar und Werkzeuge standen und lagen, wo sie immer waren.
Das rotgrüne Wolltuch verbarg das hintere Zimmer.
»Bist du hier, Janek?«, fragte Sera auf Moragi und schlich um Tisch und Feuerstelle zum Vorhang.
»Ist Marika bei dir?«, klang eine gebrochene Stimme.
Sie blieb stehen. Wie überbrachte man eine Todesnachricht am besten?
Von ihrem Vater hatte sie sich immer Ehrlichkeit gewünscht – auch wenn sie grausam war. Sie schob den Vorhang beiseite.
Janek lag zusammengerollt wie sie selbst damals. Mit dem Rücken zu ihr.
»Nein.« Sera setzte sich neben den Jungen und suchte zwischen dem weiß verputzten Mauerwerk nach Worten. Warum hatte sie nicht früher begonnen, das moragsche Vokabular zu lernen? »Marika ist bei Lewian. Sie bittet mich, für dich zu sorgen. Ihr Leben ist bei Alistair und Getreide.«
Das konnte doch nicht ihr Ernst sein! Mit diesen Worten erklärte sie einem Trauernden den Tod einer Freundin? Erbärmlich!
Janek rollte sich weiter auf dem Bett zusammen. Sprach kein Wort.
»Es tut mir leid, Janek.« Wie eine Feder legte sie die Hand auf seine Schulter. Fragte um Erlaubnis, bevor er herumschnellen und sie schlagen würde.
Er tat es nicht.
Also strich sie über seinen gerippten Rücken.
Janek hatte Besseres als das hier verdient! Eine Familie, die ihn liebte. Freunde, mit denen er spielte. Ein Umfeld, in dem er glücklich war.
Stattdessen erhielt er Krieg, Hunger und Tod.
Er war wie sie: Verlassen von denen, die ihn liebten. Unter denen, die ihn hassten.
»Es tut mir leid«, wimmerte sie. Warum bei allen Sternen hatte sie Marika nicht aufgehalten? Es gab Menschen, denen sie etwas bedeutete – lebende Menschen, die auf sie angewiesen waren!
Sie alle hatte die Moragi jetzt sich selbst überlassen.
Sera blinzelte die Tränen weg. Fassung, verdammt! Sie konnte doch nicht vor einem Kind zusammenbrechen.
Sie hätte Marika nur aufhalten müssen, als sie zu Alistair ging. Sie hätte nur fragen müssen, was sie mit Fortgehen meinte. Sie hätte nur skeptisch werden müssen, warum sie plötzlich so ruhig war.
Und jetzt hockte sie hier und weinte vor dem Kind, das sie trösten sollte?
Ein anderes leises Schluchzen schloss sich ihrem an.
Janek presste die Fäuste vors Gesicht und zischte bei jedem Atemzug. »Mama. Papa. Ich will nach Hause!«
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