1. Kapitel
Fassungslos nehme ich das Stück Holz entgegen, was mir feierlich von meinem Bruder überreicht wird.
Ein schelmisches Grinsen schleicht sich auf sein Gesicht und lässt seine dunklen Augen gefährlich aufblitzen. So schaut er immer, wenn er etwas im Schilde führt. Ich hasse diesen Blick.
Denn immer, wenn ich ihn zu sehen bekomme, ist bisher nie etwas gutes passiert. Entweder hat er meinen Hintern mit Sekundenkleber an einem Küchenstuhl festgeklebt, in der Schule habe ich fast ein rohes Ei gegessen anstatt eines gekochten, und musste klebriges Eigelb von meinem Matheheft kratzen, oder aber er steht an meinem fünften Hochzeitstag mit einem Stück Holz in der Hand vor meiner Wohnungstür.
„Holz. Ist das dein Ernst?" Anstelle einer Begrüßung halte ich das besagte Stück eines Baumes in die Höhe und sehe missmutig dabei zu, wie er begeistert anfängt zu lachen. „Eine tolle Idee, oder?"
Mit vor Stolz geschwellter Brust marschiert er an mir vorbei nach drinnen und ich kann hören, wie er Gianna überschwänglich begrüßt. Kurz darauf bilde ich mir ein, die Frage zu hören, wie sie es schon fünf Jahre lang mit einem Vollpfosten wie mir aushält.
Berechtigterweise stelle ich mir diese Frage oftmals selbst.
Seufzend lasse ich das Stück Holz sinken und zwinge mir ein Lächeln aufs Gesicht, da ich die Begleitung meines Bruders noch begrüßen muss. Sie steht etwas verloren im Flur und streicht sich eine kurze rote Haarsträhne aus der Stirn.
Ihre hellen Augen sehen meinem Bruder hinterher und ich hasse ihn in diesem Moment dafür, nicht die erste Frau in solch eine unangenehme Situation gebracht zu haben.
Seit einiger Zeit schleppt er Damen vom Escort Service oder Prostituierte zu solch offiziellen Familientreffen an, um nicht alleine aufzukreuzen. Was purer Schwachsinn ist, da ich sein Bruder bin und nicht erwarte, dass er in Begleitung erscheint.
Die rothaarige Frau streckt mir zurückhaltend lächelnd ihre Hand entgegen und entblößt eine Reihe strahlend weißer Zähne.
„Ich bin Lucy. Freut mich, euch kennenzulernen."
Höflich lächelnd schüttle ich ihre Hand und trete einladend einen Schritt zur Seite, damit sie hereinkommen kann.
„Wir freuen uns auch, dass du hier bist", antworte ich einfach mal im Namen meiner Frau. Diese kämpft scheinbar immer noch in der Küche mit unserem gekauften Kuchen, damit er nach selbstgebacken aussieht.
Bevor mein Bruder geklingelt hat, hatte sie ihn gerade mit einem Nudelholz bearbeitet, damit er nicht so perfekt geformt aussieht. Als ich nun mit Lexi die Küche betrete, streut sie frischen Puderzucker auf das deformierte Ding und betrachtet skeptisch ihr Werk. Lexi? Oder Lucy? Wie hieß sie doch gleich?
Konzentrieren Noah. Lucy war es.
Melvin hat es sich bereits an unserem kleinen Tisch bequem gemacht, der direkt neben der offenen Küche steht und zupft an der Serviette herum, welche Gianna, gefühlte Stunden lang, heute morgen ausgesucht hatte. Schließlich soll für heute alles perfekt sein. Es ist immerhin unser fünfter Hochzeitstag. Das muss gefeiert werden.
Mit einem lauten Klacken lege ich das Stück Holz neben Giannas Kuchen auf der Arbeitsplatte ab und sie stockt in ihrer Bewegung.
„Wo hast du das denn her?"
„Das ist unser Hochzeitstagsgeschenk. Von Melvin." Ihre Augenbrauen wandern in die Höhe und sie nickt unmerklich. „Wieso wundert mich das nicht?", flüstert sie und bringt mich damit zum Grinsen.
„Hey hey hey, über Gäste wird erst gelästert, wenn sie gegangen sind!" Ermahnend erhebt sich Melvin und zeigt auf sein Geschenk. „Ihr haltet mich auch für ganz bescheuert."
Anstatt einer ernst gemeinten Antwort, werfen Gianna und ich uns einen Blick zu, der Bände spricht. Selbstverständlich hat Melvin ihn bemerkt und hebt seufzend seine Hände.
„Okay, ich erkläre es euch. Scheinbar wisst ihr nicht, dass bestimmte Hochzeitstage ein Symbol besitzen. Sowas wie die goldene oder silberne Hochzeit. Ich habe mich etwas erkundigt und herausgefunden, dass man in Fachkreisen den fünften Hochzeitstag auch die 'Hölzerne Hochzeit' nennt."
Erwartungsvoll grinst er uns an, als hätte er soeben die Relativitätstheorie innerhalb von dreißig Sekunden verständlich erklärt.
„Wo genau hast du das herausgefunden?" Giannas Stimme klingt einige Oktaven höher und sie muss sich zusammenreißen, um ernst zu bleiben.
„Google", antwortet Melvin und versteht seinem Blick nach überhaupt nicht, wieso Gianna nun doch losprustet und dabei den frischen Puderzucker vom Kuchen weht.
Hastig verteilt sie neuen darauf und grinst mich dabei breit an. „Habe ich eigentlich schon mal erwähnt, wie sehr ich deinen Bruder liebe?"
Ich runzle meine Stirn und tippe auf das Stück Holz. „Pass auf, was du sagst...", drohe ich lachend und sie stößt mir direkt als Strafe ihren Ellenbogen in die Seite.
„Hey!" Grunzend zucke ich leicht zusammen und ziehe sie dann in meine Arme. In ihren Haaren hängt noch etwas von dem Puderzucker und kitzelt mich in der Nase. Ich vergrabe sie etwas tiefer und sauge tief ihren unverkennbaren Geruch in mich ein.
Sie hat das Parfüm benutzt, was ich ihr zum letzten Geburtstag geschenkt habe. Gleichzeitig tragen ihre Haare eine leichte Note von Vanille und ich schließe meine Augen, obwohl ich durch den Puderzucker jeden Augenblick niesen muss.
Gianna drückt sich an mich heran und hätten wir keine Gäste, würde ich sie sofort auf die Arbeitsplatte setzen und jede erdenkliche Stelle ihres wunderschönen Körpers küssen.
So aber muss ich mich damit abfinden, ihr nur schnell einen Kuss auf die Haare zu geben und widerwillig loszulassen, damit sie den Kuchen servieren kann. Als sie sich einige Meter von mir entfernt hat, niese ich laut und sie bedenkt mich mit einem strafenden Blick.
„Sei froh, dass der Kuchen schon außer Reichweite ist." Als passende Antwort niese ich erneut und weil es noch nicht genug ist, bekomme ich direkt noch einen Hustenanfall, den ich erst nach einigen Sekunden unter Kontrolle bekomme.
„Nicht verrecken, Brüderchen. Habe gelesen, dass der achte Hochzeitstag etwas mit Blech zu tun hat. Wollte dir so einen alten Topf schenken, den ich sowieso loswerden will. Das musst du noch erleben."
Kurz schnappe ich nach Luft, dann ist der Hustenreiz endlich verschwunden und ich kann wieder frei atmen.
„Ich freue mich schon sehr darauf." Murrend hole ich den frisch gekochten Kaffee. Nachdem ich alle Tassen befüllt habe, setze ich mich neben Gianna an den Tisch.
Während wir den Kuchen essen, unterhält sie sich mit meinem kleinen Bruder. Die Anwesenheit von Lucy fällt kaum auf, da sie schweigend neben ihm sitzt und sich wahrscheinlich fragt, warum sie sich als Begleitung für ihn einverstanden erklärt hat. Sie übertrifft all unsere Erwartungen, indem sie zugibt, arbeitslos zu sein und momentan etwas improvisieren zu müssen, wie sie es selbst betitelt.
Meine Hochachtung für sie steigt damit gewaltig, auch wenn sie natürlich nicht offen zugibt, in welchem Milieu genau sie tätig ist. Das würden auch weder Gianna noch ich von ihr verlangen, offen zuzugeben.
Selbst diese Information hätte sie uns nicht geben müssen.
Ich finde es schade, dass Melvin ihr keine Aufmerksamkeit schenkt. Immerhin scheint sie eine sehr ehrliche Person zu sein und vermittelt mir durch ihre etwas unbeholfene Art das Gefühl, selbst noch nicht lange mit Typen wie meinem Bruder zu tun zu haben.
Leider wundert es mich nicht mehr, dass Melvin mit einer Begleitung hier auftaucht, deren Namen er sich nicht einmal selbst merken kann.
Nachdem der Kontakt zu unseren Eltern vor einigen Jahren wegen eines Streits abbrach, haben wir nur noch uns beide an Familie. Daher sind uns solche Treffen wie heute wichtig. Wir wohnen nicht weit voneinander entfernt, sodass wir uns auch neben diesen offiziellen Treffen regelmäßig sehen. Aber scheinbar nicht oft genug.
Seit ich Gianna kennengelernt habe und wir hier in diese kleine Altbauwohnung eingezogen sind, fühlt er sich etwas außen vor. Mit solch seltsamen Bekanntschaften wie zu Lucy scheint er uns beweisen zu wollen, dass er selbstständig ist und uns in seinem Leben nicht braucht. Aber insgeheim ist es ein Hilfeschrei, weil er sich von uns verlassen fühlt.
Ich kenne ihn zu gut, um seine oberflächliche, lustige Art richtig deuten zu können. Er versucht, viel zu überspielen und wenn man es nicht besser weiß, glaubt man ihm sofort. Er sucht auch keinen Babysitter, sondern möchte einfach nur weiter dazugehören. Ich frage mich nicht zum ersten Mal, wie ich ihm verständlich machen soll, dass ich ihn nicht vergesse. Und dass es keine Lösung ist, Frauen wie Lucy in solch unangenehme Situationen zu bringen.
Er ist mein kleiner Bruder, meine einzige Familie. Ich liebe ihn. Auch wenn ich mir ein Leben mit Gianna aufbaue, werde ich ihn nie aus meinem Leben streichen. Und auch wenn er gefühlt eine Fehlentscheidung nach der anderen trifft und sich manchmal wie ein Arschloch verhält, würde ich immer alles für ihn tun.
Niemand ist perfekt, jeder hat Fehler.
Irgendwann wird auch er die richtige Frau finden. Einfach einen Partner, der ihn glücklich macht. Mit seinen 28 Jahren sieht Melvin noch immer sehr jugendlich aus. Auf einen richtigen Bartwuchs wartet er noch heute, weshalb sein markantes Kinn und die Wangen glatt rasiert sind. Seine blonden Haare, die er von unserer Mutter geerbt hat, fallen ihm lose in die Stirn. Er trägt wie meistens nur ein schlichtes, einfarbiges T-Shirt und ich bin froh, dass wir nicht dieselbe Farbe tragen.
Im Gegensatz zu ihm kann ich meinen Bart einige Tage stehen lassen, bis er Gianna zu sehr kratzt und ich ihn etwas kürzen muss. Ich habe die dunklen, fast schwarzen Haare unseres Vaters geerbt, dafür haben wir beide seine dunklen, braunen Augen.
Optisch würde man uns niemals für Brüder halten. Wir haben verschiedene Haarfarben, sind zwar gleich groß, aber sein Körperbau ähnelt trotz Fitnessstudio eher einem Lauch. Ich hingehen habe durch meine körperliche Arbeit auf dem Bau automatisch ein breites Kreuz und durchtrainierte Oberarme, ohne dass ich in meiner Freizeit etwas dafür tun müsste. Zwar begleite ich ihn regelmäßig ins Gym, aber brauchen tue ich es körperlich eigentlich nicht.
Ich spüre, wie Gianna unter dem Tisch nach meiner Hand greift und sie sanft drückt. Sie scheint zu spüren, dass mich etwas beschäftigt und ihrem Blick nach weiß sie auch, dass es um Melvin geht. Aber wir wissen beide, dass jetzt der falsche Zeitpunkt für ein solches Thema ist.
Mit ihren Fingern fährt sie sanfte Kreise auf meinem Handrücken und nicht zum ersten Mal frage ich mich, womit ich diese Frau in meinem Leben verdient habe. Seit sie damals das Eis auf die Baustelle gebracht hat, hat sie mein Leben komplett auf den Kopf gestellt. Ich genieße jede einzelne Sekunde mit ihr und kann mir keinen einzigen Tag mehr ohne sie an meiner Seite vorstellen.
Mit der freien Hand hebe ich spontan meine Tasse Kaffee und halte sie für einen Prost nach oben. Melvin und seine Begleitung tun es mir gleich. Gianna sieht mich mit großen Augen an.
„Auf dich Gianna. Die tollste Frau, die mir jemals über den Weg gelaufen ist. Ich liebe dich über alles. Auch wenn du die schlechteste Köchin auf der Welt bist, nicht backen kannst und ich diesen verbrannten Geruch von dem ersten Kuchen für die nächsten Wochen nicht aus der Nase bekommen werde. Mein sorgsam gekaufter Kuchen sah nach deiner Behandlung absolut grausam aus. Aber er hat trotzdem hervorragend geschmeckt. Es ist also insgesamt ein perfekter Tag. Dank dir."
Gerührt stößt sie ihre Tasse gegen meine. „Auf dich, Noah. Danke dafür, dass du nicht deine Klappe halten kannst, was den Kuchen angeht. Ich war stolz auf ihn. Er sah aus wie selbstgemacht." Amüsiert trinkt sie einen Schluck und Melvin starrt uns geschockt an.
„Warte. Der war nicht selbstgemacht?"
Gianna lehnt lachend ihre Stirn gegen meine Schulter und klopft mir ermutigend auf den Oberschenkel. „Deine Schuld. Du erklärst es ihm."
Ich seufze.
„Nichts lieber als das."
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