Kapitel 15
Noch immer saßen wir auf der Wiese, geschützt durch den kühlen Schatten des Baumes. Der Vorfall von eben verwirrte Noah nur noch weiter, je mehr Zeit verging, aber ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. In meinem Kopf war alles so durcheinander, es herrschte ein riesiges Chaos und ich hatte keine Ahnung mehr, in welcher Reihenfolge all das passiert war. Trotzdem gab es selbst für mich eine Frage, deren Antwort ein unlösbares Rätsel darstellte. Weshalb hatte Sörens Verhalten damals eine drastische Wendung genommen? Er hatte oftmals versucht, mir alles zu erklären, verstanden aber habe ich es nie. Noah drehte seinen Kopf zu mir und sah mich fragend an.
„Was meinte er, als er gesagt hatte, dass du ihn ersetzen würdest?” Seine Stimme klang so sanft wie der Windstoß, der über die grünen Grashalme strich. Ich seufzte und versuchte angestrengt meine Gedanken zu ordnen. Ich lächelte zufrieden, als mir das gelang.
„Wir waren zusammen, mehr oder weniger. Er hat mich geliebt, zumindest hat er das immer gesagt. Ich fühlte nichts für ihn. Klar, wir waren vorher irgendwie Freunde, aber sonst war da nichts, keine Liebe oder so. Ich war einfach neugierig, wollte das alles ausprobieren. Das war so neu und verunsicherte mich. Er schien so sicher in allem, was wir taten. Sören sagte mir ständig, dass wir aufpassen mussten, niemand sollte uns sehen. Niemand durfte von uns wissen. Seine Eltern sind strikt gegen Homosexualität und waren dementsprechend nicht sonderlich begeistert, als sie uns halbnackt auf seinem Bett erwischten. Sie waren trotzdem nicht wirklich überrascht. Irgendwie hatten sie sowas schon geahnt. Wir hatten zu viel Zeit alleine in seinem Zimmer verbracht, aber ich denke, dass sie nie ganz glauben wollten, dass Sören schwul ist. Für sie war das irgendein tiefgehender Verrat. Was sollten denn schließlich jetzt die Leute von ihnen denken? Er wurde seit er klein war dazu erzogen worden, seine Eltern und die Familie stolz zu machen. Genau das versuchte er in den Wochen danach auch. In der Schule erzählte er so viele homophobe Witze und Geschichten, demütigte sich selbst, um anderen zu gefallen. Traurigerweise funktionierte das, viele bewunderten ihn dafür, dass er seine augenscheinlich echte Meinung so offen aussprach. Immer mehr Mädchen interessierten sich für ihn und er brachte fast täglich eine Neue mit nach Hause. Und das nur, um seinen Eltern zu beweisen, dass er auf Frauen steht.”
Noah fuhr sich einmal durch die Haare und atmete einmal tief ein.
„Das ist ziemlich krass. Trotzdem verstehe ich nicht, weshalb er sich jetzt so dir gegenüber verhält. Gab es irgendwie Streit zwischen euch beiden?”, Noahs Blick lag mit ganzer Aufmerksamkeit auf mir und er blendete alles Überflüssige aus.
„Zuerst hat er eine ganze Weile nicht mit mir gesprochen. Ich war nie wirklich beliebt, aber mich hat auch keiner ausgegrenzt. Mit Sören hat sich das geändert und das kam ziemlich plötzlich. Wir hatten keinen richtigen Streit. Also nicht, dass ich wüsste”, ich zuckte mit den Schultern. Noah runzelte die Stirn und streichelte mit seinem Daumen über meinen Handrücken.
„Was ist mit diesem merkwürdigen Gerücht? An dieser Vergewaltigung ist doch bestimmt nichts dran. Das traue ich dir einfach nicht zu”, sprach er und zog eine Augenbraue nach oben. Ich überlegte kurz.
„Wir hatten Sport, Sören hatte mehrere Tage schon nicht mit mir gesprochen und ich wollte ihm nicht hinterlaufen. Wie gesagt fühlte ich auch nichts für ihn und deshalb sah ich keinen Sinn darin, unsere geheime Beziehung aufrecht zu erhalten. Ich war schon immer nicht der Schnellste, wenn es um Dinge wie das Einpacken oder Umziehen ging. Sören wusste das und machte deshalb extra langsam. Er wollte mich abpassen. Er wollte mir erklären, warum er in den letzten Tagen nicht mit mir geredet hatte. Sören hatte tatsächlich mit aller Kraft versucht, seinen Eltern etwas vor zu spielen. Da sie den Anschein machten ihm wieder zu glauben, wie er das geschafft hatte, weiß ich bis heute nicht, wollte er mich überreden so weiter zu machen, wie vorher. Er sagte mir, wie sehr er mich liebte und dass es ihm leid täte, dass das alles passiert war. Dann hatte er mich gefragt, ob ich wieder mit ihm zusammen sein wollte. Ich lehnte ab. Ich hatte keine Lust mehr auf das Versteckspiel, auf vorgetäuschte Gefühle, ehrlich gesagt hatte ich keine Lust mehr auf ihn.” Wieder zuckte ich mit den Schultern, um meine Gleichgültigkeit der Sache gegenüber zu demonstrieren. Ich hob meinen Kopf und sah in Noahs Gesicht, das einen interessierten Blick trug.
„Er war geschockt, sagte mir, dass ich ihm das nicht antun könne. Als er aber begriff, wie ernst ich das meinte, behauptete er, dass ich das bereuen würde. Danach ist er zu seinen Freunden gegangen, erzählte, dass ich versucht hätte, ihn zu missbrauchen. Die glaubten ihm sofort, mich hat man nie gefragt und dann sind die zum Direktor gelaufen. Seine Freunde haben sich irgendwelche Lügen einfallen lassen, sowas wie, dass sie uns gesehen hätten, um seine Aussage glaubwürdiger zu machen. Danach habe ich eine Verwarnung bekommen. War nicht schlimm, ich bin davor ja nicht aufgefallen.”
Noah nickte verstehend und schlang seinen Arm um mich. Dann legte er seine Lippen sanft auf meine. In diesem Moment vergaß ich wieder alles. Meine Probleme, Sorgen, Sören und meinen Vater. Als Noah sich wieder von mir löste und mit seiner Hand über meine Wange streichelte, fiel mir wieder etwas ein. Verdammt, ich hatte noch eine Unterschrift zu fälschen! Ich sprang panisch auf und wollte schon los sprinten, als ich am Arm zurückgezogen wurde.
„Sehen wir uns morgen nach der Schule wieder hier?” Ich nickte nur schwach und zog Noah nochmal fest in meine Arme. Ich spürte, wie er mir einen Kuss auf den Kopf drückte und lächelte. Dann rannte ich wirklich los. Es war schon dunkel und als ich die Haustür öffnete, hörte ich in meinem Kopf schon die laute Stimme meines Vaters nach mir schreien.
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