Kapitel 11
Nachdem ich das Direktorat verlassen hatte, lehnte ich mich neben die Spindwand, die sich gegenüber von meinem Klassenraum befand.
Nach kurzer Zeit des Nichtstuns, beschloss ich, nach einer Beschäftigung zu suchen. Ich nahm meinen Ranzen von meiner Schulter und suchte nach etwas, das mir meine Wartezeit verkürzen sollte. Konzentriert wühlte ich in den Tiefen der Tasche und fand Dinge, von denen ich nicht einmal mehr wusste, dass ich sie besaß. Darunter auch ein alter Zauberwürfel. Entschlossen zog ich diesen hervor und übte die Züge, an die ich mich noch erinnern konnte. Nach ein paar Stunden schaffte ich es sogar, den komplett verdrehten Würfel in knapp unter einer Minute zu lösen. Das erfüllte mich mit Stolz. Während der Pausen hatte ich mich versteckt, um einer weiteren Demütigung größtenteils aus dem Weg zu gehen. Als ich dann aber darauf wartete, dass der Unterricht vorbei war, blieb ich auf dem Flur stehen, um Noah abzufangen.
Zeitgleich mit dem Ertönen der Schulklingel strömten unzählige Schüler in den Flur, um kurz darauf die Treppen herunter zu sprinten.
„Aaron, verdammt da bist du ja! Wo warst du?", riss mich Noahs aufgedrehte Stimme aus meinen Gedanken. Verwirrt musterte ich sein hübsches Gesicht.
„Was?", war meine sehr geistreiche Antwort darauf.
Noah verdrehte genervt seine Augen.
„Warum warst du nicht im Unterricht? Ich hab' mir Sorgen gemacht!", dann runzelte er seine Stirn und sah mich besorgt an.
„Ach, ich war nur kurz beim Direktor. Der hat mich für zwei Tage suspendiert, sonst nichts", winkte ich ab. Noah hingegen entgleisten die Gesichtszüge und seine Kinnlade war weit geöffnet.
„Wieso warst du beim Direktor? Und weshalb hat er dich suspendiert? Was sollst du denn getan haben?", fragte er nun sichtlich verwirrt und zugleich auch schockiert. Irgendwie war sein Verhalten niedlich.
„Ich hab' Sören geschlagen."
„Aber, du hast doch gar nicht... Ich meine, ich hab' ihn doch geschlagen. Warum hat er dich dann bestraft?"
Darauf zuckte ich nur mit den Schultern und stopfte meine Hände in die Hosentaschen. Was sollte ich denn schon antworten? Weil Sören mich loswerden will? Weil er meinen Anblick nicht ertragen kann?
Und immer dann, wenn man vom Teufel spricht, erscheint er höchstpersönlich.
„Tja Aaron, ich weiß ja, dass du auf mich stehst, aber nur weil du mich anekelst, musst du mich nicht gleich verletzen. Selbst schuld würde ich sagen", sprach Sören herablassend und grinste mich triumphierend an.
Noah spannte sich augenblicklich neben mir an und ballte seine Hände zu Fäusten, jeder Zeit bereit zu zuschlagen. Diesmal aber war ich schneller. Ich griff nach seiner Hand und verschränkte unsere Finger ineinander, um ihn zu beruhigen. Normalerweise würde ich mich das nicht trauen, normalerweise wäre ich schon längst abgehauen, aber seitdem Noah aufgetaucht war, war nichts mehr wie vorher. Auf verdrehte Weise gab er mir Halt und das allein mit seiner Anwesenheit. Er machte mich glücklich, ich fühlte mich sicher bei ihm. So auch jetzt.
Noah drückte meine Hand und baute sich dann auf. Sörens Blick fiel auf unsere Hände und ich konnte Schmerz und Verletzlichkeit in seinen Augen sehen. Würde ich ihn allerdings nicht so gut kennen, wäre mir das nicht aufgefallen. Er war sehr gut darin, seine Gefühle zu verstecken.
„Wir wissen alle drei, dass Aaron nichts falsch gemacht hat. Ich weiß ja nicht, was bei dir nicht ganz richtig läuft, aber du solltest dich schämen. Wie kannst du nur ruhig schlafen, wenn du genau weißt, dass du jeden Tag mehr das Leben eines Menschen zerstörst? Hast du auch nur den leisesten Hauch einer Ahnung, was du damit anrichten kannst? Stell' dir vor, Aaron wäre nicht so verdammt stark und hätte sich etwas angetan. Könntest du jeden Tag mit dem Gedanken leben, dass du Schuld daran trägst, dass ein junger Mensch aus purer Verzweiflung sein Leben beendet hat? Du hättest jemanden auf dem Gewissen. Ganz ehrlich: Schäm' dich. Es ist so traurig, dass du andere fertig machst, um dich besser zu fühlen. Es ist so erbärmlich, dass du andere beleidigst, weil du mit deiner eigenen, erbärmlichen Existenz nicht zurechtkommst."
Noah bebte vor Wut und ich hatte Mühe ihn festzuhalten. Er zitterte und ich hatte keine Zweifel, dass er gerade versuchte, seine Vergangenheit zu verarbeiten. Ich strich mit meinem Daumen beruhigend über seine Handrücken.
„Menschen wie du sind die, die mich anwidern. Ihr ergötzt euch am Leid anderer, damit ihr nicht an euer eigenes, trauriges Leben denken müsst. Denk' doch bitte einfach nach! Es ist ekelhaft, Menschen mit etwas zu beleidigen, für das sie nichts können. Und nicht etwa, eine Krankheit, eine Behinderung oder sogar etwas so natürliches wie Liebe. Es ist doch egal, wen man liebt, solange das aufrichtig geschieht. Und jetzt verpiss' dich und komm' erstmal auf dein Leben klar, du Spinner."
Sören war kreidebleich und bildete damit das komplette Gegenteil zu Noah, dessen Gesicht ein feuriges Rot angenommen hatte. Ich war erleichtert, überrumpelt, berührt und doch verdammt glücklich. Noch nie in meinem ganzen Leben, hatte sich jemand so für mich eingesetzt und ich war ihm so dankbar dafür.
Sören hatte sich als Erster wieder gesammelt und taumelte ein paar Schritte rückwärts, ging dann aber schnellen Schrittes an uns vorbei.
Noah stand neben mir und war immer noch stocksteif. Er drehte seinen Kopf zu mir und sah mir intensiv in die Augen. Auf einmal machte er einen Schritt auf mich zu und zog mich fest in seine Arme. Im ersten Moment war ich überrumpelt von der plötzlichen Nähe, dann aber ließ ich mich fallen und erwiderte die Umarmung. Ich hörte seinen heftigen Atem und seinen schnellen Puls.
Nach einer Weile löste er sich von mir und zog mich an der Hand weiter.
„Komm, wir müssen zum Direktor und etwas mit ihm klären."
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