Scherben
In der eiskalten Dezembernacht im Jahre 1954 schien nicht viel auf den bröckeligen Straßen des kleinen Dorf mitten im Nirgendwo los zu sein.
Keine Menschen, die unterwegs waren.
Keine Tiere, die bellten oder einfach nur umherstreunten. Keine Geräusche.
Totenstille herrschte in dem bescheidenen Örtchen.
Alle schliefen anscheinend.
Doch wie so oft trügte der Schein.
Denn dort, auf dem hölzernen Pfad kurz vor der Grenze, ging ein kleines Mädchen.
Der Körper des Mädchens war dürr und abgemagert, eine richtige Mahlzeit hatte es wohl lange nicht mehr gegessen.
Es hatte langes, blondes Haar, das schon bessere Zeiten hinter sich hatte und ganz verfilzt und dreckig war.
Den Leib des Mädchen schützte bloß ein erbärmliches langes Hemd, das an einigen Stellen schon zerrissen und durchlöchert war, weshalb sie auch ständig am Zittern war.
Das Mädchen hatte sich eine dreckige, graue Stofftasche umgelegt.
Ohne Zweifel, jeder Passant, der dieser jungen Gestalt begegnete, machte einen großen Bogen um sie, so ärmlich sie war.
Betteln war für das Mädchen die einzige Möglichkeit, über die Runden zu kommen.
Und Familie?
Die hatte sie nicht.
Die Familie, die sie nicht hatte, war auch der Grund warum das Mädchen an diesem Tag wenige Minuten vor Mitternacht wach und unterwegs war.
Zielstrebig steuerte die Kleine auf den Friedhof zu.
Bei jedem ihrer Schritte knirschte der Schnee unter ihren bloßen Füßen.
Dort angekommen, öffnete sie das protestierend knarzende Tor, schritt mit schlotternden Knien hindurch und ließ es ins Schloss fallen.
Hunderte von grauen Grabsteinen säumten sich direkt vor ihr, düster und unheilverkündend.
Des Mädchens Blick war jedoch stets nur an zwei der Grabstätten geheftet.
Und je näher sie den beiden Gräbern kam, umso langsamer wurden ihre Schritte, bis sie schließlich davor stand.
Wieder einmal bewunderte die Kleine die Schönheit der Gräber. Der Gräber ihrer Eltern.
Das linke Grab war das ihrer Mutter.
Und obwohl der gesamte Friedhof so unheimlich und düster wirkte, schien dieses Grab dennoch hervorzustechen.
Es war wie die anderen hellgrau und der unebene Stein war unauffällig und unscheinbar, der Schriftzug war verwittert und man konnte ihn kaum noch lesen. Jeder normale Mensch hätte sich gefragt, was an diesem Grab so besonders war.
Jeder hätte dem Grab keine Beachtung geschenkt und hätte ihn gekonnt ignoriert.
Jeder außer ihr.
Sie wusste als einzige, was an diesem Grab so einzigartig war.
Es waren die Blumen.
Der Stängel jeder der zwei Blumen, die angepflanzt waren, war von einem dunklen Grün und besaß spitze Dornen.
Das faszinierendste an den Blumen waren aber die Blüten. Diese waren so rabenschwarz wie das Auge der Nacht.
So elegant, wie eine Ballerina die frei und ungebändigt durch einen Raum tanzt.
Wunderschön.
Die Blume spiegelte die Persönlichkeit ihrer Mutter in jeder Hinsicht wieder.
Ihre Eleganz und Grazie, mit der sie sich durch das Leben bewegt hatte, bis zu ihrem letzten Atemzug.
Ihr Lachen, dass immer so laut und durchdringend war, dass es durch den ganzen Raum hallte. Alles an der Blüte erinnerte sie an ihre Mutter.
Tränen glänzten in den Augen des Kindes.
Ihr Blick schweifte zu dem Grab ihres Vaters, der neben ihrer Mutter bestattet worden war. Auch bei diesem Anblick kamen viele Erinnerungen in ihr hoch. Sein Lachen.
Seine Einfühlsamkeit.
Seine Art, alle Leute gleich zu behandeln, egal wer sie waren und wo sie herkamen.
Trauer überkam sie und der Kummer schnürte ihr die Kehle zu.
Es war so schwer, nach einem Jahr wieder hier zu sein.
Ein Jahr nach dem Tod der Menschen, die sie am meisten geliebt hatte.
Ihr ersticktes Schluchzen durchbrach die Stille und die Kleine begann hemmungslos zu weinen.
Tränen kullerten ihre Wangen hinunter und sie konnte sich nicht beruhigen.
Ihr Herz war in Tausende von Stücken zerrissen und die Splitter konnten sich nicht wieder zusammenfügen.
Und gerade, als sie dachte, sie würdesich nie wieder beruhigen, schwankten ihre Gefühle.
Aus ihrer Trauer wurde Wut.
Eine glühend heiße Wut, die alles verbrannte was ihr im Weg stand und unberechenbar war.
Wie konnten ihre Eltern es ihr antun, sie komplett alleine zu lassen, ohne jemanden, der ihr nahe stand?
Wie hatte sie das verdient?
„Wie konntet ihr mir das antun?", schrie das Mächen hysterisch und ihr Schrei hallte im ganzen Friedhof wieder.
„Wieso ich? Wieso?"
Einige Zeit lang weinte, schluchzte und schrie sie bis sie sich dann dazu zwang, sich endlich zusammenzureißen und sich langsam, aber dennoch beruhigte.
Sie wusste, dass der Grund, warum sie hier war, ein ganz anderer war.
Ein Zittern lief über ihren kompletten Körper, als sie in ihre Tasche griff und einen gläsernen Gegenstand hervorzog.
Ein Flakon.
Es war der schönste Flakon, den das Kind jemals gesehen hatte.
Er war aus dünnem, rötlichem Glas angefertigt und hatte die Form eines Herzens.
Eine rosa schimmernde Flüssigkeit befand sich innerhalb des Glases, die im hellen Mondlicht so strahlend glitzerte wie die Sterne am Himmel.
Sie hielt den Atem an, als sie ganz vorsichtig und mit Bedacht den Flakon öffnete.
Mit geschlossenen Augen hielt sie sich den Flakon unter die Nase. Sie sog den sanften Duft von frischen Rosenblättern tief in sich auf und erinnerte sich an dem Moment, als ihre Mutter einige Wochen vor ihrem Tod ihr den Flakon überreicht hatte.
Ob sie damals ihren nahen Tod schon geahnt hatte?
Jedenfalls konnte sie sich daran erinnern, dass es schon seit langer Zeit in ihrer Familie ein Brauchtum war, zu jedem Jahrestag eines Verstorbenen Familienmitglieds dessen Grab zu besuchen und einen gläsernen Gegenstand über die Grabstätte zu zerbrechen, woraufhin unzählige Scherben über das Grab niederregneten.
Warum sie das taten, wusste sie nicht.
Sie hatte ihrer Mitter oft diese Frage gestellt, jedoch ohne eine Antwort zu bekommen.
Und damals, in jener Nacht hatte ihre Mutter ihr das Fläschchen mit folgenden Worten überreicht: „Mein kleiner Engel, du kennst ja unsere Familientradition gegenüber der Verstorbenen unserer Familie. Wenn ich und dein Vater jemals sterben werden, versprichst du mir, die Tradition an unserem Gedenktag mit diesem Flakon weiterzuführen?"
Ihr damaliges Ich hatte feierlich genickt und mit zitternden Händen die Flasche entgegen genommen.
Ihr war bewusst gewesen, das Lieblingsparfüm ihrer Mutter in ihren Händen gehalten zu haben. Und seit diesem Tag wurde der Flakon von ihr gehütet wie ein Schatz.
Bis zu diesem Tag.
Und nun stand sie vor dem Grab ihrer Eltern mit dem Flakon in der erhobenen Hand.
Sie hatte es ihrer Mutter versprochen, und sie wollte dieses ganz besondere Versprechen nicht brechen.
Das Mädchen hielt den Atem an während ihr Herz raste.
Dann tat sie es.
Mit geballter Kraft schmetterte sie den Flakon auf die Gräber und sah zu wie die Flasche in Hunderte von Scherben zersprang. Ein zufriedenes Gefühl breitete sich in ihr aus. Sie hatte ihre Mission, ihren Aufrag erfüllt. Sie hatte ihr Versprechen gehalten.
Von diesem Tag an wurde das Mädchen in dem Dorf nie wieder gesehen.
Dessen Bewohner konnten nur spekulieren, was passiert war. Einige glaubten, sie wäre fortgegangen, während andere vermuteten, sie wurde entführt, gekidnappt oder anderes.
Doch wiederum andere dachten, sie wäre fort gegangen, und zwar für immer.
Zu ihren Eltern die sie mit offenen Armen empfangen hatten.
Was nun aber wirklich passiert war, wusste nur das Mädchen selbst.
1155 Wörter
Sooo, das war meine Abgabe zum Schreibwettbewerb.
Ich weiß, es ist jetzt nicht eine Kurzgeschichte wie man sie warscheinlich erwarten würde, aber ich hoffe es hat dir trotzdem gefallen!
Jupiter Ashlin
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