Kapitel XXI
Das taubenetzte Gras funkelt im warmen Licht der Spätjanuarsonne, vor uns erhebt sich sanft ein Hügel. Am obersten Punkt erkenne ich die Mauer, die sich rund um den Schattenwald schlingt wie ein Schutzwall. Wir werden langsamer, das Getrappel der Hufe auf harter Erde verklingt. Mein erster Blick gilt Arkyn, sein erster Blick gilt mir.
Es ist, als würden wir hunderte Erlebnisse wieder durchmachen müssen. Mit meinem sechzehnten Geburtstag verbinde ich unaufhaltbar die eisernen Griffe der Wachen an meinen Armen, als sie mich den Hügel hinaufschleiften. Ich kann nicht anders, als an die Todträgerinnen dort drinnen zu denken, die schwarzen Äste der Bäume, nach mir greifend wie Raubtiere, die nach ihrer Beute fassen. Ich frage mich, was Arkyn und Panduk vor ihrem inneren Auge sehen, als wir alle den Hügel hinauftraben.
Doch auch wenn der Anblick uns bekannt ist, so hat sich seit den letzten Wochen viel verändert. Das Herz bleibt mir beinahe in der Brust stehen, als ich erkenne, dass das in die Mauer eingelassene Tor nur noch in seinen Angeln hängt und dass ein Stück der angrenzenden Mauer fehlt.
„Was ist hier passiert?"
Ich sage es mehr zu mir selbst, doch Arkyn antwortet mir.
„Die Gestaltenwandler haben den Schattenwesen das Tor geöffnet, um sie auf Duniya loszulassen. Sie werden so rasend in die Freiheit geflohen sein, dass sie Teile des Tors und der Mauer mit sich gerissen haben."
Ich mustere die klaffende Wunde im Schutzwall, die in den Angeln hängenden Tore. Der Zauber, der einst auf diesen Mauern gelegen hat, der unser Land vor all den Wesen im Inneren des Waldes schützen sollte, scheint gebrochen worden zu sein.
Ich schnalze mit der Zunge, meine Stute setzt sich in Bewegung und wir folgen den anderen, die sich bereits rund um das einstige Tor versammeln.
„Ihr drei da", beginnt Sainika mit einem Blick auf Arkyn, Panduk und mich, „Ihr werdet nach vorne zu mir kommen. Keiner von uns weiß besser, wer oder was in diesem Wald auf uns lauern könnte."
Ich spüre die Blicke der anderen Soldaten im Rücken, als ich zur Leutnantin trabe.
So betreten wir als erstes den Wald, lauschen dem Rascheln der Blätter im Wind und mustern die unheimlich und gleichzeitig vertraute Umgebung. Es ist ein gewohntes, aber lang verdrängtes Gefühl, als die morschen Holzstückchen leise knirschen und die fröstelnde Stille des Schattenwalds uns umgibt.
Sainika hat den Blick auf eine Karte gesenkt, auf der genau eingezeichnet ist, wo sich das Anwesen befindet. Der Gedanke, dass Königin Charis schon immer wusste, wie man den Weg zum Anwesen bewältigt, während Arkyn und ich unser Leben riskiert haben, um für die Gestaltenwandler eine Karte anzufertigen, hinterlässt einen bitteren Beigeschmack auf meiner Zunge.
Mit der strukturierten Karte, Sainika als Anführerin und den Pferden unter unseren Hintern dauert der Weg bis zum Anwesen tatsächlich nur halb so lange, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Ich wechsle kein Wort mit irgendjemandem, schon gar nicht mit Arkyn, doch unsere Blicke treffen sich immer wieder. Wir können es nicht verhindern, zu viele bekannte Orte fallen uns ins Auge. Der See, aus dem die Nebelfrau gekommen ist, bevor sie mich beinahe getötet hätte, das Gerippe des Ormons, den Arkyn zur Strecke gebracht hat. Die Erinnerungen an diese Zeit erscheinen mir so unwirklich wie ein Fiebertraum.
Als sich endlich die vermooste Mauer, die das Anwesen der Gestaltenwandler umgibt, vor uns auftut, habe ich das Gefühl, eine Reise durch die Zeit hinter mir zu haben.
Sainika erteilt Anweisungen, denen ich nur mit halbem Ohr folgen kann, Soldaten steigen von ihren Pferden ab, ducken sich hinter Gebüsch und Bäume. Während die anderen in Deckung gehen, wagen Panduk und ich Blicke zwischen den Stäben des hohen Eisentors hindurch. Meine Augen folgen dem Kiesweg, der sich zum Anwesen hinaufschlängelt, umgeben von schief aus der Erde ragenden Gedenksteinen. Das Bild, das sich uns bietet, wirkt wie eingefroren. Ich erwarte, jemanden im Kräutergarten oder auf den Feldern zu sehen, aber alles bleibt still.
„Niemand hier", zischt Panduk den anderen zu und Sainika deutet auf uns beide.
„Ihr werdet euch einen Weg zum Schloss bahnen und uns ein Zeichen geben, wenn die Luft rein ist."
Sollte die Luft nicht rein sein, sind wir so gut wie tot, denke ich, aber sage es nicht laut. Ein leises Quietschen ertönt, als Panduk das Tor öffnet – ein erstes Indiz, dass die Gestaltenwandler tatsächlich nicht im Anwesen sind, ansonsten wäre es verschlossen.
Der Kies knirscht unter unseren Stiefeln, als wir den Weg hinauf zum Anwesen hinter uns bringen. Es erscheint mir wie eine halbe Ewigkeit, bis wir endlich die Stufen erreichen, die zum breiten Eingangstor hinaufführen.
Panduk öffnet die Tür und ich deute ihr, gefälligst leise zu sein, als ein Quietschen ertönt. Doch meine Sorgen bleiben unbegründet, denn auch die Eingangshalle ist wie ausgestorben. Staub tanzt über den schwarzweißen Schachbrettboden, Spinnweben zieren die tiefen Bogenfenster und die erloschenen Fackelhalterungen an den Wänden. Die Stille, die herrscht, ist beinahe beängstigend. Sie kriecht mir die Wirbelsäule hinauf, nagt an meinen Knochen und lässt die Gedankenschleifen in meinem Kopf wildlaufen. Was wenn das eine Falle ist? Was wenn die Gestaltenwandler nur darauf warten, dass wir aus der Deckung kommen, bevor sie uns einem nach dem anderen dafür bezahlen lassen, was wir ihnen angetan haben?
Mein Blick flattert zu Panduk, von der ich erwarte, dass sie mindestens genauso misstrauisch ist wie ich, doch ihre Augen funkeln entschlossen. Keine Spur an Skepsis ist darin zu erkennen. So als wüsste sie bereits, dass wir alleine sind.
Die spiegelglatten Fliesen quietschen unter den Sohlen ihrer Stiefel, als sie erste Schritte in Richtung Mitte der Eingangshalle setzt. Schweigend folge ich ihr, an der breiten Treppe, die sich auf beiden Seiten neben dem Thron verzweigt, geben wir uns ein schnelles Zeichen.
Ich nehme die Stufen links, sie die rechts. Oben angekommen begegnen wir uns wieder.
„Wollen wir stichprobenartig in ein paar Räume hineinschauen?", schlage ich vor und lasse meinen Blick durch den dunklen Gang wandern. Panduk zögert kurz, als müsste sie die Sinnhaftigkeit meiner Idee abwiegen, bevor sie zustimmt.
Unsystematisch beginnen wir, Türen zu öffnen, Räume im Eiltempo zu durchsuchen, bevor wir leise weiterhuschen. Jedes Mal, wenn ich die Finger um einen Knauf schlinge und die zugehörige Tür aufziehe, erwarte ich im nächsten Moment auch schon eine Messerklinge am Hals oder einen gezielten Schlag in die Seite. Doch weit und breit ist niemand, der mich angreifen könnte, niemand der vorhaben könnte, mich zu töten, oder gar als Köder zu benutzen, um die anderen Soldaten aus ihren Verstecken zu locken. Panduk und ich sind mutterseelenallein im Anwesen.
Wir treffen uns vor dem Thron in der Eingangshalle wieder. Einen winzigen Moment lang kreuzen sich unsere Blicke, bevor sich ein Grinsen auf Panduks Lippen schleicht. Ein Außenstehender würde vielleicht glauben, dass es die Erleichterung ist, dass keine Gestaltenwandler hier sind, um uns zu lynchen, doch ich weiß es besser. Es muss ein Gefühl von Gleichgesinntheit sein, das uns beide durchströmt und Panduk so weit bringt, mich anzulächeln. Wir beide und Arkyn sind die Einzigen, die dieses Anwesen so gut kennen wie die eigene Westentasche. Wir sind die Einzigen, die wissen, dass sich unter den breiten Füßen des Throns eine Luke befindet, die in einen unterirdischen Geheimraum führt.
„Wir sollten den anderen Bescheid geben", schlage ich vor, breche das einheitliche Schweigen, das Schwelgen in Erinnerungen, die uns die Furcht durch die Adern jagen und gleichzeitig eine gemeinsame Verbindung sind.
Panduk nickt, zusammen durchqueren wir die Eingangshalle. Sie hält die Eingangstür auf, ich schlüpfe unter ihrem Arm ins Freie. Als ein lauter Pfiff die Stille zerreißt, zucke ich vor Schreck zusammen. Doch es ist nur Panduks Zeichen, das den anderen Soldaten mitteilt, dass die Luft rein ist.
Es dauert nicht lange, da kommen sie aus den Verstecken gekrochen. Sie betreten den Kiesweg, andere stapfen durchs tauüberzogene Gras. Als ich sehe, wie einer von ihnen mit der Fußspitze gegen einen Gedenkstein tritt, ballen sich meine Hände, vergraben in den Taschen meiner Uniformjacke, zu Fäusten. Schnell setze ich ein Lächeln auf, als Sainika die Stufen heraufkommt.
„Es war damit zu rechnen, dass die Gestaltenwandler nicht hier sind", meint sie und streicht sich das schwarze Haar aus der Stirn, das im warmen Mittagslicht glänzt, „Und trotzdem könnten wir uns einen riesigen Vorteil verschaffen, wenn wir jegliche Hinweise auf Zinariyas Pläne oder ihren Aufenthaltsort dort drinnen finden."
Sobald sich unsere Einheit rund um den Eingang zum Anwesen versammelt hat, teilt sie Gruppen ein, die unterschiedliche Teile des Gebäudes durchsuchen sollen. Ihr Blick fällt auf Arkyn, Panduk und mich, sie runzelt die Stirn.
„Wir könnten den dritten Stock übernehmen", schlägt Panduk schließlich vor, „Dort haben die Mitglieder des Dunklen Rates gelebt. Falls es Hinweise gibt, sind sie wahrscheinlich am ehesten dort zu finden."
Um ihr meine Solidarität zu zeigen, nicke ich. Arkyn bleibt schweigend neben mir stehen.
Ich höre eine Soldatin hinter mir fassungslos schnauben, bevor sie die Stimme hebt.
„Spinnt ihr? Wenn du die drei alleine in den dritten Stock schickst, Sainika, lassen die doch die Hinweise verschwinden."
Panduk fährt herum, ich packe ihren Arm, bevor sie etwas tut, was sie am Ende noch bereuen wird. Neben mir höre ich Arkyns Kiefer malmen.
„Pass auf, was du sagst", zischt Panduk, ihre Augen sprühen Funken, „Wir können Leichen genauso gut verschwinden lassen wie Hinweise."
Die Soldatin klappt den Mund auf, doch bevor eine Beschimpfung ihren Lippen entweichen kann, greift Sainika ein.
„Schnauze halten! Alle beide!", fährt sie dazwischen und baut sich vor den beiden Streithähnen auf. Erst jetzt, als sie die beiden um mindestens einen Kopf überragt, fällt mir auf, wie groß sie eigentlich ist.
„Die Einteilung obliegt alleine mir. Panduk, Clarice und Arkyn, ihr werdet den dritten Stock übernehmen."
Ein triumphierendes Grinsen umspielt Panduks Mundwinkel, sie kehrt der aufmüpfigen Soldatin den Rücken zu. Es knarzt, als jemand das Eingangstor öffnet, bevor wir nacheinander ins Innere schlüpfen. Ich folge Panduk und Arkyn hinauf in den dritten Stock.
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Unsere Schritte hallen dumpf von den Wänden, Panduk summt leise ein Lied vor sich hin. Mit jedem Ton wird die Falte auf Arkyns Stirn größer. Er hat die Hände in den Taschen vergraben, den Blick schweigend in die Ferne gerichtet.
„Wollt ihr den Gang übernehmen, in dem eure ehemaligen Zimmer liegen?", fragt Panduk uns. Bevor ich abwinken kann, hat Arkyn schon zugestimmt.
„Muss das sein?", zische ich ihm zu, endlich sieht er mich an. Kaum merklich recke ich das Kinn vor, während Panduk in einen anderen Korridor verschwindet. Das Knallen einer Tür lässt mich zusammenzucken.
„Wieso sollten wir nicht dorthin zurückkehren?", fragt er mich und geht einfach weiter. Seufzend hole ich ihn wieder ein und folge ihm in den besagten Gang. Der Hauch von Wehmut, der in der Luft liegt, ist wie ein Schlag in die Magengrube. Dort liegen unsere Türen mit ihrem abgeschlagenen Holz und den Eisenstreben. Direkt nebeneinander und so altbekannt, dass mein Herz einen Satz in meiner Brust macht.
„Vielleicht sollten wir zuerst die anderen Zimmer durchgehen, uns langsam hierher vorarbeiten und ...", beginne ich, doch da hat Arkyn die Tür zu seinem Zimmer bereits geöffnet. Seufzend folge ich ihm, doch auf den Anblick bin ich nicht vorbereitet.
Die Truhe vor dem Bett wurde aufgerissen, sein weniges Hab und Gut im ganzen Raum verteilt. Die Laden wurden aus dem Tisch herausgerissen, Notizbücher liegen am Boden verstreut. Ihr Papier saugt sich mit der Tinte aus einem umgestoßenen Fässchen voll. Ich bücke mich nach einem der Heftchen, meine Finger wandern über den gebrochenen Buchrücken, schwarze Tinte bleibt an ihnen haften. Dunkel wie Blut.
„Was ist hier passiert?"
Ich finde kaum meine Stimme. Arkyn kehrt mir den Rücken zu. Die Arme in die Seiten gestemmt mustert er schweigend den Ohrensessel in einer Zimmerecke. Die Bezüge wurden aufgeschlitzt und das Futter hängt heraus wie die Gedärme eines erlegten Tieres.
Ein zorniges Knistern liegt im Raum.
„Zinariya muss nach unserer überstürzten Flucht aus dem Anwesen den Befehl gegeben haben, in unseren Zimmern nach etwas zu suchen", antwortet er schließlich. Seine Miene ist gleichgültig, als er sich umdreht.
Ich suche nach Schmerz oder Wut über die Zerstörung in seinen Augen, doch sie bleiben kalt wie geschliffener Onyx.
„Wonach denn?"
„Woher soll ich das wissen? Bin ich etwa ein verdammter Zukunftsleser?", schnauzt er mich an, ich wende mich ab.
„Wahrscheinlich nach Hinweisen. Ich bin mir sicher, Zinariya wollte wissen, wer ich bin", rate ich und lasse meine Finger über die massiven, geschnörkelten Bettpfosten gleiten, „Sie konnte sich ja nicht einmal sicher sein, ob Clarice überhaupt mein echter Name ist."
Ein stechender Schmerz fährt mir durch die Stirn und kribbelt in meinen Schläfen. Wie automatisch wandern meine Finger zu meinen pochenden Schädel. Ob es die Erinnerungen sind, die mich überwältigen?
Ich werfe Arkyn einen schnellen Blick zu, doch er hat mir erneut den Rücken zugewandt und blickt starr aus dem Fenster.
Ich trete hinaus in den Korridor, lasse meine Finger über die kühle Mauer wandern, bis ich Holz spüre. Meine Tür, mein Zimmer. Ich trete ein, mache mich gefasst auf das Chaos, das ich vorfinden werde. Auf die aufgerissene Truhe, die verteilten Klamotten, die umgeworfenen Möbelstücke. Doch der tatsächliche Anblick trifft mich noch heftiger als erwartet, einen Moment lang habe ich das Gefühl, ersticken zu müssen. Ich lehne mich gegen die kühle Wand, starre auf das Durcheinander und warte, bis mein Kopf aufhört, zu pochen. Es dauert eine Weile, bevor die violetten Pünktchen vor meinen Augen endlich verblassen.
Zögernd durchquere ich den Raum. Die Matratze quietscht unter mir, als ich mich ins Bett lege, den Blick starr an die Decke gerichtet. Die Erinnerungen ziehen durch meinen Kopf, als müsste ich all die letzten Monate ein letztes Mal Revue passieren lassen. Mein Herz trommelt aufgeregt gegen meinen Brustkorb, als mir klar wird, was das dunkle Gestein der Zimmerdecke dort oben alles mit mir durchgemacht hat. Es hat mich mit seinem Anblick beruhigt, wenn ich nachts aus einem Alptraum hochschreckte und der Schlaf mich einfach nicht mehr übermannen wollte. Wie ein tröstender Freund lag es schweigend über mir, wenn die Tränen unaufhaltbar aus meinen Augen quollen.
Das Bett knarzt unter mir, als ich mich auf die wackeligen Beine kämpfe. Die Decke kommt mir näher, ich strecke die rechte Hand aus, um sie zu berühren. Meine Finger streifen die kühlen Steine.
„Danke für alles, Decke", sage ich so leise, dass nur wir beide es hören können.
In dem Moment durchzuckt mich ein Blitz. So gleißend und brennend, dass es mir den Atem raubt. Ein stechender Schmerz fährt durch meinen Körper, ich schreie auf, als ich den Halt verliere. Meine schweren Stiefel verhaspeln sich in der zusammengeknüllten Decke, meine Finger gleiten von der Decke und ich falle.
Es kracht, als ich am Boden lande. Meine Hände schlagen als erstes auf, dann folgt mein restlicher Körper. Schweratmend bleibe ich liegen, im Hintergrund höre ich eine Tür knallen. Schritte eilen über den Gang, während mein Sichtfeld von schwarzen Nebeln eingeschränkt wird. Sie scheinen von allen Seiten näher zu kriechen, rauben mir den Blick.
Eine unsichtbare Kraft scheint alles dafür zu tun, meinen Kopf Richtung Boden zu drücken. Ich halte dagegen an, erblicke den Spiegel auf der gegenüberliegenden Wand. Ein grobes Netz an Rissen durchzieht seine Oberfläche, Scherben sammeln sich am Boden rundherum. Was haben die Gestaltenwandler erwartet? Dass ich etwas im Spiegel verstecke?
Ich will mich aufrappeln, mich dem zerbrochenen Ungetüm nähern und ihn von der Wand reißen. Ich will auf ihn einschlagen, bis die Scherben mir meine Finger zerschneiden und das Blut auf die Oberfläche tropft. Dort, wo mir mein eigenes Gesicht entgegenstarrt.
Jemand ruft meinen Namen, ich hebe den Blick. Es ist Arkyn, der mich ungewöhnlich sanft gepackt hat. Er fragt mich, was passiert ist, aber ich kann die Worte nicht fassen. Die unsichtbare Kraft drückt weiter auf mich, sie will mich am Boden halten, sie will nicht, dass ich den Spiegel büßen lasse. Sie ist bösartig, doch ich bin nicht in der Lage, mich ihr zu widersetzen.
Ein erleichtertes Seufzen entweicht mir, als meine Wange auf den kühlen Boden sinkt. Ich schließe die Augen, als der Schmerz wächst. Er scheint mich innerlich zu entzweien, an Füßen und Händen will er mich auseinanderreißen, bis ich in Einzelteilen daliege. In Scherben.
„Clarice, was ist los mit dir?"
Die Besorgnis aus seiner Stimme schmerzt mich in den Ohren. Er kniet über mir und ich strecke die Finger der rechten Hand aus, um sie ihm auf die Lippen zu legen. Ich ertrage keine Töne, keine Worte und Klänge. Beinahe schaffe ich es, doch dann erschlafft meine Hand und knallt auf den Boden. Er packt meinen Arm so fest, dass ich zusammenzucke.
Doch die Erlösung kommt, seine Worte verschwimmen in den Hintergrund, werden langsam leiser, bis sie ersterben. Ich schließe die Augen, meine Lider flackern.
„Clarice, komm zu mir!"
Ich reiße die Augen auf, meine Wange klebt immer noch am Boden, doch es ist ein anderer als vorhin. Marmor, so hell wie das Fell eines Schimmels. Ich rapple mich auf, der Schmerz ist verschwunden und hat einem federleichten Gefühl in meiner Brust Platz gemacht.
Ich brauche keine zehn Sekunden, mich in dem spiegelbehangenen Korridor zurechtzufinden. Gestern war ich noch im Traum hier. Das bläuliche Licht am Ende des Ganges wispert weiterhin meinen Namen, ich lasse den Blick entlang der Fliesen nach vorne schweifen. Diesmal greift kein dunkler Nebel nach mir und von der Königin ist keine Spur zu sehen.
Bevor ich darüber nachdenken kann, laufe ich los. Sanfter Wind streicht mir durchs Haar und kühlt meine heiße Haut. Der patschende Klang meiner Füße hallt von den Spiegelwänden, in meinem Herzen tanzt die Sehnsucht. Das Ende des Korridors scheint mir plötzlich greifbar, ich strecke die rechte Hand nach dem bläulichen Licht aus.
„Du brauchst dich nicht zu fürchten."
Es ist Arkyns Stimme, die durch den Korridor hallt. Vor Scheck verliere ich den Halt, wie in Zeitlupe falle ich nach vorne. Dann geht alles ganz schnell. Bevor meine Schläfe am Boden aufschlagen kann, packt mich etwas am Arm. Arkyns Gesicht taucht eine Millisekunde lang vor meinen Augen auf. Seine hohen Wangenknochen, die dunklen Augen tanzen auf und ab. Doppelt, dreifach. Ich schreie auf, weil es sich anfühlt, als würde mein Körper innerlich zerreißen. Als würden sich zwei Kräfte um mich streiten. Eine davon will mich hier behalten. Mir wird schwarz vor Augen, ich greife ins Leere.
„Du brauchst dich nicht zu fürchten."
Diesmal klingt seine Stimme seltsam verzerrt, während die Welt um mich herum langsam wieder Farbe annimmt. Vor mir erscheint Arkyns Gesicht. Als ich erkenne, dass ich mich nicht mehr in dem Spiegelkorridor befinde, entweicht mir ein verzweifelter Klagelaut. Ich war so knapp davor, so nahe am blauen Licht der Wahrheit.
Als Arkyn nach meiner Hand greift und meine geballte Faust öffnet, zucke ich zusammen. Er legt etwas Kühles, Schweres in meine Handfläche und ich senke den Blick. Eine untertellergroße Platte aus Mondstein wiegt schwer zwischen meinen Fingern. Erstaunt hebe ich den Blick. Die Prophezeiung. Meine Prophezeiung? Der Stein schmiegt sich kühl und tröstlich an meine Haut. Erst jetzt wage ich, meine Umgebung zu mustern.
Das Mosaik der zwölf Göttinnen funkelt am Ende der meterhohen Halle. Ich erkenne es sofort. Das Archiv der Prophezeiungen. Arkyn lächelt und ich lehne meine Stirn an seine Schulter. Ein erleichtertes Seufzen entweicht meinen Lippen, das schmerzliche Gefühl der Sehnsucht in meiner Brust ist verschwunden. Das Kühl der Prophezeiungen hat die lodernden Flammen in mir gelöscht.
In dem Moment gibt Arkyns Schulter nach, ich falle einfach in ihn hinein. Alles um mich herum wird schwarz. In meinem Magen kribbelt es, als ich das Gefühl habe, in die unendliche Tiefe zu stürzen.
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