Kapitel XVIII
Die Dunkelheit kriecht bereits herein, das Feuer prasselt im Kamin und lässt rotglühende Funken über den züngelnden Flammen tanzen wie Glühwürmchen im Sommer. Ich habe die Beine auf dem Sofa angezogen, mein Stift kritzelt übers Papier, während mir das Abendessen noch schwer im Magen liegt. Ich bin der Erste im Gemeinschaftsraum und wahrscheinlich mindestens eine Viertelstunde zu früh zur von Unteroffizier Jami'in angekündigten Besprechung. Doch ich brauche die Zeit für mich, um die Gedanken, die mir aus dem Kopf strömen, auf den vergilbten Seiten meines Notizbuchs zu sammeln.
Das Klacken der Tür lässt mich zusammenzucken und gleichzeitig aufschrecken. Clarices Kopf erscheint im Rahmen. Als sie mich sieht, stiehlt sich ein vorsichtiges Lächeln auf ihre Lippen. Lautlos zieht sie die Tür hinter sich zu und setzt sich auf die andere Seite des Sofas.
Kurz zögere ich, dann überwinde ich die innere Blockade.
„Wie geht es dir? Ist dir noch schwindelig?"
Schweigend tritt sie näher und lässt sich gegenüber von mir am Sofa nieder.
„Es ist alles in Ordnung. Wahrscheinlich habe ich einfach zu wenig gegessen."
Sie zwirbelt eine Strähne ihres vom Feuer goldblond funkelnden Haars um den Zeigefinger. Die Spitzen sind vom Baden noch feucht und wellen sich. Ihr Blick gleitet zwischen meinen Augen hin und her, als wäre sie sich nicht sicher, ob sie sprechen soll oder nicht. Schließlich zieht sie die Beine an und umschlingt sie mit den Armen. So sitzen wir uns in einiger Entfernung gegenüber, die Knie aufgestellt wie Schutzwände vor dem jeweils anderen. Kurz ist es still, ich senke den Blick wieder über die zur Hälfte bekritzelten Seite, bevor ich das Büchlein zuklappe. Zu groß ist das Gefühl, beobachtet zu werden.
„Ihr seid viel zu früh, ihr Arschkriecher."
Xanthios Stimme lässt meinen Kopf vor Schreck herumreißen. Mein Blick flattert zur Tür, wo sich seine schmale Gestalt abzeichnet. Hinter ihm erscheint Panduk, deren kinnlanges Haar rötlich glänzt, als sie ins Licht des Feuers tritt und auf einem monströsen Lehnstuhl Platz nimmt.
„Du doch auch", kontert Clarice, als Xanthio sich zwischen mich und sie aufs Sofa quetscht. In der Hand hält er ein Schälchen mit Nüssen, dessen Inhalt beinahe überschwappt, als er in den Sofakissen verschwindet.
„Ich bin aber auch aus einem bestimmten Grund hier", meint Xanthio und schiebt sich eine Handvoll Nüsse in den Mund. Kurz ist nur sein Kauen zu hören. „Ich brauche deine Hilfe, Clarice. Es ist wegen meinen Eltern und meiner Schwester."
Mein Blick gleitet von Xanthios blondem Lockenkopf weiter zu Clarice. Sie sieht seltsam angespannt aus, als würde der Gedanke an Xanthios verschollene Familie ihr Unbehagen bereiten.
„Wozu?", fragt sie vorsichtig.
„Ich dachte mir, dass du vielleicht die Möglichkeit bekommst, mit der Königin zu sprechen, wenn der Auftrag im Schattenwald gelingen sollte. Wenn meine Eltern und Gabriella als Flüchtlinge aus Dasos irgendwo untergebracht worden sind, muss das dokumentiert sein."
Ich bleibe still, doch mein Blick flattert in Panduks Richtung. Sie hat die Knie am Lehnsessel angezogen, kaut auf ihrer Lippe. Ich weiß, dass wir dasselbe denken. Königin Charis schert sich einen Deut um Xanthios Familie, wo sie sich aufhalten könnten oder ob sie überhaupt noch am Leben sind.
„Das ... das kann ich tun, Xanthio. Kein Problem", verspricht Clarice, doch ihre geröteten Wangen verraten ihren Zweifel, „Aber wir sollten den Auftrag abwarten und vielleicht noch ... ein bisschen mehr Zeit verstreichen lassen. Die Königin hat ziemlich viel zu tun und wir müssen uns so pflegeleicht wie möglich verhalten."
Nachdem ihre sanfte Stimme verklungen ist, kehrt Stille ein. Xanthio nickt und schiebt sich eine weitere Handvoll Nüsse in den Mund, doch die Enttäuschung in seinen Augen ist unübersehbar.
„Klar", meint er schließlich, seine Nase zuckt wie die eines aufgeschreckten Kaninchens, „Die Beziehung zur Königin geht vor, das versteh ich."
Seine Stimme bricht und Clarice beißt sich vor Scham auf die Lippe. Als sie nach Xanthios Hand greift, zuckt er zusammen.
„Ich habe Briefpapier dabei. Wenn du willst, kannst du ans Verwaltungsgebäude in Satied schreiben oder anderen Verwandten."
Aus dem Gang ertönt Stimmengewirr und Xanthio stimmt schnell zu, auch wenn er kaum überzeugt aussieht. Das Klacken der Tür erklingt und mein Blick gleitet von Clarices schuldbewussten Gesicht, über Panduks teilnahmslose Miene hinüber zum Eingang.
Ein paar andere Soldaten aus unseren Schlafsälen haben den Gemeinschaftsraum betreten, in dem gleich die Versammlung mit Jami'in stattfinden soll. Einer davon ist der junge Mann mit den im Nacken zusammengefassten Haaren. Murak, erinnere ich mich. Janaes rote Mähne taucht dahinter auf, sie winkt uns fröhlich zu.
Es dauert nicht lange, da ist der Raum gefüllt, alle Sitzgelegenheiten besetzt. Die anderen Soldaten nehmen am Boden Platz. Das Lachen einer jungen Frau erklingt, als sie sich auf Muraks Schoß bequemt. Als Letztes tritt Jami'in in Begleitung von Sainika ein, die unserer kleinen Gruppe ein flüchtiges Lächeln zuwirft, als Janae ihr ebenfalls winkt.
„Guten Abend, Mannschaft", erklingt Jami'ins strenge Stimme und er lässt den Blick samt glitzerndem Glasauge durch die Runde wandern. Schließlich stellt er sich vor einen klapprigen Holztisch ans Fenster.
„Königin Charis und die Mitglieder des Großen Rats arbeiten ununterbrochen daran, die Sicherheit der Duniyaner zu garantieren. An den Toren einer jeden Stadt wird strenger denn je kontrolliert, um eventuell Gestaltenwandler ausfindig zu machen, und die Informationen über die Schattenwesen werden gerade sowohl an die Armee als auch an die Zivilbevölkerung verteilt", beginnt er, „Diese Maßnahmen werden bestimmt bald greifen. Zusätzlich machen sich erste Trupps auf die Suche nach den Gestaltenwandlern und ich bin mehr als stolz, dass die Durchsuchung des Gestaltenwandleranwesens unserer Kompanie zugeteilt wurde."
„Vielleicht ist das gar nicht nötig und die fünf da drüben können uns sagen, ob ihre Freunde sich im Schattenwald verkriechen", hallt die Stimme eines Soldaten durch den Raum.
Die Köpfe aller Anwesenden ruckeln in unsere Richtung. Mein Blick trifft den von Murak. In seinen Augen funkelt es boshaft. Ich merke, wie der beißende Zorn in meiner Brust aufkeimt, als ich die anderen Soldaten mustere. Lüsterne Neugier und ein Hauch Arroganz weilen in ihren Blicken. Es steht ihnen praktisch auf die Stirn geschrieben, wer wir für sie sind. Was wir sind. Abschaum, niedrigste Klasse, unterstes Niveau.
Jami'in überhört den Einwand des Soldaten und fährt fort: „Da ich heute Abend zu einem Auftrag im Norden abreisen werde, wird Leutnantin Auia die Durchführung der Mission übernehmen. Bei Fragen wendet euch an sie."
Er deutet auf Sainika, die hocherhobenen Hauptes neben dem Unteroffizier steht und ihren Blick unverhohlen durch die Runde wandern lässt.
„Wir werden morgen nach dem Frühstück bereits aufbrechen und bei Einbruch der Dämmerung das Dorf Ámara, das dem Schattenwald am nächsten liegt, erreichen", erklärt sie.
Kurz ist es still, dann folgt entnervtes Stöhnen und leises Raunen.
„Morgen ist Sonntag. Die meisten von uns hätten einen freien Tag", erklingt eine Stimme aus der Menge und Sainika fixiert Murak, der sich eine lange Haarsträhne hinters Ohr klemmt.
„Niemand hat gesagt, dass ich dich bitte, mitzukommen."
Ihre Stimme ist kalt, ein paar andere Soldaten johlen und feixen leise, doch Sainikas Blicke bringen sie zum Verstummen. Tatsächlich beginnt sie nun, einen Namen nach dem anderen aufzuzählen. Es sind diejenigen, die sich für die morgige Reise vorbereiten sollen, weil sie dabei sein werden.
„Ihr drei kommt auch mit", meint sie zum Schluss und deutet auf Panduk, Clarice und mich. Neben mir vernehme ich Xanthios erleichtertes Aufseufzen und fange Janaes leicht enttäuschten Blick auf. Ich frage mich, ob Sainika allein entscheiden durfte, wen von uns sie mitnimmt, oder ob die Königin die Finger im Spiel hatte. Ich tippe auf Letzteres.
„Was ist mit mir?", meint der Soldat Murak erneut, nachdem sein Name nicht gefallen ist. Sainika stemmt die Arme in die Hüften und mir wird klar, dass ihre Worte tatsächlich ernstgemeint waren. Sie wird Murak nicht mitnehmen.
„Ich kann keine Soldaten gebrauchen, die nicht mit vollem Herzen bei der Sache sind", antwortet die Leutnantin, ihre Stimme duldet keinen Widerspruch, „Wenn du an deinem freien Tag die Füße hochlegen willst, werde ich dich nicht daran hindern."
Mit diesen Worten verlassen sie und Jami'in schweigend den Raum. Ich sehe Muraks Kiefer mahlen, die hellen Augen sprühen Funken. Kaum merklich stiehlt sich ein spöttisches Grinsen auf meine Lippen. Als sich unsere Blicke treffen, ziehe ich eine Augenbraue hoch. Er schnaubt.
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Wie ein Wimpernschlag zieht die kurze Nacht vorbei, der Morgen graut und wirft sein blasses Licht auf die dunklen Holzvertäfelungen des Speisesaals. Wir füllen unsere Mägen mit braungrauem Brei, der mich an das Frühstück bei den Gestaltenwandlern erinnert, packen unsere Satteltaschen, satteln die Pferde und führen sie aus den Stallungen. Clarice zappelt nervös herum, während sie ihrem Schimmel ein paar Stückchen Zucker zusteckt, die er mit weichen Nüstern entgegennimmt. Während sie keine Augen für die anderen Soldaten zu haben scheint, zähle ich die Gruppe durch, fange einzelne Gesprächsfetzen auf und versuche, mir die Namen zu merken.
Eine rotbraune Stute an den Zügeln führend, tritt Panduk als Letzte aus der Scheune. Als hätte sie das Zeichen zum Aufbruch gegeben, verstummen die Gespräche und die ersten Soldaten schwingen sich auf die Rücken ihrer Pferde. Panduks Blick trifft meinen, ihre rechte Augenbraue wandert nach oben, bevor sie ihren linken Fuß in den Steigbügel stellt und sich nach oben zieht. Wie sie dort im Sattel sitzt, den Rücken gerade durchgebogen und die Zügel locker in der Hand, könnte man meinen, sie wäre bereits auf tausenden Pferden gesessen. Doch ich weiß es besser. Es ist allenfalls ihr drittes oder viertes Mal, genauso wie es bei mir war, als Clarice und ich im Auftrag der Königin die Ormonen vor Satieds Stadttoren jagen mussten. Ich greife nach den Zügeln, platziere den Stiefel im Steigbügel und schwinge mich in den Sattel.
Panduk und ich sind beide gut. Gut darin, so zu tun als ob.
Sainikas laute Worte hallen über den Platz und reißen mich aus meinen Gedanken.
„Hergehört, Soldaten! Bis Einbruch der Dunkelheit sollten wir die kleine Stadt Ámara erreichen, wo eine Raststätte für die Nacht für uns bereitstehen wird. Morgen werden wir bei Tagesanbruch weiterreiten und in ein paar Stunden den Eingang zum Schattenwald erreichen. Gibt es Fragen?"
Weil es still bleibt, deutet Sainika zwei Wachen das Tor zur Kaserne zu öffnen. Zungenschnalzen ertönt, nervös tänzelt mein schwarzer Rappe unter mir, als könnte er kaum erwarten loszustürmen, bis der Schotter spritzt und der Wind seine Mähne zerzaust.
Wir verlassen die Kaserne, es dauert nicht lange, da haben sich die besten Reiter an die Spitze des Trupps gesetzt. Meine Hände, als Schutz vor der Kälte in schwarze Lederhandschuhe gehüllt, umklammern die Zügel, der frische Winterwind treibt mir die Tränen in die Augen.
Nebelstreifen liegen über den Feldern und hängen sich in den Kronen vereinzelter Bäume am Wegesrand fest. An den freien Stellen lassen erste Sonnenstrahlen den Tau auf den Wiesen glitzern wie tausende funkelnde Diamanten, Duniya präsentiert sich uns von der schönsten Seite.
Durch das Nordtor verlassen wir Satied, lassen die Stadt zu einem grauverwaschenen Umriss in der Ferne werden, während wir die rotgefrorenen Nasen tapfer in den Wind halten. Die Sonne erhebt sich aus dem Osten, beleuchtet unsere Gesichter und projiziert ihr goldenes Licht in unsere entschlossenen Blicke. Mein Herz rast in meiner Brust, während eine Gruppe an Soldaten an mir vorbeizieht. Clarices blonder Zopf schiebt sich in mein Blickfeld. Sie sitzt fest im Sattel, die Arme locker angewinkelt.
Ihre Eltern kommen mir in den Sinn. Heute werden sie zurück nach Satied übersiedeln, sie werden das verdorbene Gemüse wegwerfen und ein Feuer im Kamin entfachen. Und damit bricht unsere letzte Verbindung zum Palast und zur Königin ab. Ich könnte erleichtert sein, doch das Gespräch mit Clarice im Stall geht mir nicht mehr aus dem Sinn. Immer wieder schmuggelt sich der Gedanke an die Prophezeiung in mein Unterbewusstsein.
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Das Rauschen von Wasser lässt mich aufhorchen, ich drossle mein Tempo und wage es erstmals seit Stunden, die Zügel lockerzulassen und die verkrampften Finger durchzustrecken. Das Trappeln der Hufe meines Rappens auf der gefrorenen Erde wird leiser, in der Ferne erklingt Stimmengewirr. Erleichterung durchströmt mich, als ich die nachtblauen Uniformjacken der anderen und ihre im Abendnebel zu dunklen Schatten verschmelzenden Pferde erkenne.
„Wir dachten schon, wir hätten dich an ein paar Todträgerinnen verloren", witzelt Clarice, als ich mich der Gruppe nähere. Stöhnend gleite ich aus dem Sattel und strecke die schmerzenden Beine durch. Irgendjemand nimmt mir mein Pferd ab und führt es zum Fluss Gudana, der dem Alsimgebirge entspringt und seine Bahn in den Norden des Landes zieht.
„Wie lange werden wir noch unterwegs sein?", frage ich, nicht weiter auf ihre Stichelei eingehend. Meine Schultern krachen, als ich sie kreise.
„Sainika meinte, dass wir in einer Stunde in Ámara ankommen sollten."
„Wird ja auch langsam Zeit", kommt es von Panduk, die den letzten Tropfen aus ihrem Trinkbeutel leert, bevor sie sich zurück in den Sattel stemmt.
Über eine schmale Steinbrücke überqueren wir den Fluss und folgen dem breiten, ausgetrampelten Pfad weiter Richtung Osten. Mit jeder weiterer Minute, die wortlos an mir vorbeizieht, wird mein Neid auf Xanthio und Janae, die nun in der Kaserne zu Abend essen werden und dann unter die Bettdecke schlüpfen können, größer. Doch jede Mühe des Tages hat irgendwann ihr Ende und als die Dämmerung uns einholt und in der Ferne ein paar Lichter erblühen, könnte meine Erleichterung nicht größer sein.
Ámara empfängt uns mit geöffneten Toren des provisorisch errichteten Holzzaunes, der die wenigen Häuser vor der grausamen Außenwelt und den Kreaturen, die in der Dunkelheit lauern, schützt. Wie in Trance gleiten wir von den Sätteln, leises Stimmengewirr schwillt an und erste Witze werden gerissen. Ein paar Knechte nehmen uns die Pferde ab, bringen sie in den Stallungen unter. Das blecherne Hufgetrappel mischt sich mit dem Heulen des Windes. Ich vergrabe meine eisigen Finger in den Taschen meiner Jacke und folge den anderen zu einem der Häuser. Durch die Fenster im Erdgeschoss fällt mattes Licht auf die Wiese, leises Gemurmel und der Klang einer Laute sind zu vernehmen. Die hölzernen Stufen zum Eingang knarren unter unseren Stiefeln, jemand stößt die Tür auf und wir drängen uns ins warme Innere.
Eine kleine, rundliche Frau mit faltigem Gesicht, aber hellstrahlenden Augen kommt hinter der Theke hervor. Ihre Schürze ist dunkel befleckt, in einer jeden Hand trägt sie drei Krüge, die sie zu einem der im Raum verteilten Tische bringt. Eine Runde Männer eines jeden Alters sitzen rundherum verteilt, Karten in ihren Händen. Gelegentlich füllt ihr grölendes Lachen den Raum. Die anderen Tische sind alle leer, auf manchen stehen noch Teller und Krüge.
„Willkommen in der Taverne zur Silbernen Laute", begrüßt uns die Wirtin, während sie sich mit der Schürze die Schweißperlen von der Stirn wischt, „Eure Zimmer sind bereits fertig. Nehmt doch Platz, ich bringe euch etwas zu essen und zu trinken!"
Ihre kräftige Stimme übertönt die leisen Klänge der Laute. Mein Blick gleitet durch den nur schwach von Kerzen und Laternen beleuchteten Raum, auf der Suche nach dem Musiker. Vorbei an der Treppe, die ins Obergeschoss führt, und vorbei an den sechs Fässern, die sich perfekt in eine breite Wandnische fügen. Schließlich bleiben meine Augen an der zierlichen Gestalt hängen, die am hölzernen Tresen sitzt, die Beine überschlagen und eine Laute in den Händen. Die schmalen Finger gleiten über die Seiten, eine Strähne des langen, weißblonden Haares fällt ihr über die Schulter. In dem Moment hält sie inne, die weichen Klänge versiegen und als sie den Kopf hebt, treffen sich unsere Blicke. Ihre blassgrauen Augen fixieren mich, die Lidern flattern kurz, als würde sie etwas sehen, das nur für sie bestimmt ist. Ein schmales Lächeln stiehlt sich auf ihre Lippen, erneut stimmt sie Töne an. Diesmal so schnell und heiter, dass sogar die Kartenspieler ihre Blicke heben und im Takt zu klatschen beginnen. Die süßen Klänge lassen die Herzen eines jeden Einzelnen tanzen.
Erst als ich Clarices Griff an meinem Oberarm spüre, erwache ich aus der seltsamen Trance. Sie zieht mich zu den anderen, die ein paar Tische zusammengeschoben haben, sodass wir alle beieinandersitzen können. Das Geschnatter der anderen mischt sich mit dem Klappern der Teller, die die Wirtin hereinbringt und austeilen lässt. Sofort wuselt sie wieder davon und kommt wenig später mit einer großen Schüssel Fleischbrühe herein. Der würzige Geruch trifft mich unvorbereitet, als mein Magen laut knurrt, höre ich Clarice leise neben mir lachen.
„Sahra, hol Brot für unsere Gäste", ruft die Wirtin quer durch den Raum. Ich schaue auf, als die fröhlichen Lautenklänge verstummen. Die zierliche Gestalt mit den langen Haaren hat ihr Instrument zur Seite gelegt und springt vom Tresen. Ich erhasche einen letzten Blick auf den Stoff ihres rotbraunen Kleides, bevor sie in der Küche verschwindet.
„Und was tut ihr, wenn sie tatsächlich in diesem verfluchten Wald sind?", vernehme ich die Stimme der Wirtin, als sich mein Gehirn wieder in das Gespräch am Tisch einklinkt. Auch wenn ich die vorangegangenen Worte nichtmitbekommen habe, so weiß ich trotzdem, dass es um die Gestaltenwandler geht.
„Es wird sich höchstens eine Splittergruppe dieses Packs im Anwesen befinden. Mit denen werden wir locker fertig", erzählt einer der Soldaten großspurig.
Die Wirtin schüttelt ungläubig den Kopf, die Arme in die breiten Hüften gestemmt.
„So ein Gesindel. Ich sage immer zu meinem Mann: Heutzutage kann man wirklich niemandem mehr trauen."
Hastig nehme ich einen Bissen von meiner Brühe und verbrenne mir augenblicklich die Zunge. Ein Gefühl von altbekannter Bitterkeit lodert in meinem Magen auf, in Rekordtempo leere ich meinen Teller. Auch Clarice hält ihren Blick schweigend über die Schüssel gesenkt, ihre Wangen leuchten noch von der Kälte und in ihren moosfarbenen Augen tanzt das Kerzenlicht.
„Wer fertig ist, kann gerne die Zimmer besichtigen", meint die Wirtin mit einem Blick auf mich und unterbricht ihr Geschimpfe über die Gestaltenwandler, „Sahra soll euch alles zeigen."
In dem Moment erscheint die zierliche Statur der Lautenspielerin hinter der Wirtin, die dem Mädchen grob den Brotlaib aus den Händen reißt.
„Kommst du?", fragt sie mich und ich erhebe mich widerwillig vom Sessel. Gemeinsam stapfen wir die Treppe ins Obergeschoss hinauf, die Blicke der anderen im Rücken, bis wir aus ihrem Sichtfeld verschwinden. Sahras weißblondes Haar strahlt wie das Licht des Mondes, das durch die kleinen Fenster des Raumes fällt, in den sie mich geführt hat. Vier Holzbetten, auf jedem eine karierte Decke, füllen das Zimmer auf. Ich vergrabe die Fäuste in den Taschen meiner Uniform, während Sahra eine Kerze auf einem der Nachttischchen entzündet.
„Ich hoffe, das Zimmer entspricht deinen Vorstellungen, Arkyn", erklingt ihre sanfte Stimme, bevor sie das Streichholz auspustet. Ich halte inne, stolpere beim Klang meines Namens beinahe über meine eigenen Füße.
„Woher kennst du meinen Namen?", frage ich, das Misstrauen trieft aus meiner Stimme wie klebriger Honig.
„Du kennst doch auch meinen", sagt sie schlicht und das warme Kerzenlicht spiegelt sich in ihrem Gesicht, als sie sich zu mir umdreht. Ich mache einen Schritt zurück, ein seltsames Gefühl beschleicht mich und lässt mein Herz flattern.
„Ich hab' dich gesehen, Arkyn. In meinem Traum, heute Nacht."
Ich verschränke die Arme vor der Brust, mustere die graugesprenkelten Augen des Mädchens.
„Du bist eine Zukunftsleserin?", hake ich nach und als sich ein kleines Lächeln auf ihre Lippen stiehlt, entblößt sie eine millimeterbreite Lücke zwischen ihren oberen Schneidezähnen.
„Was du nicht sagst, Schlaumeier. Obwohl ich die Bezeichnung Traumleserin für meine Wenigkeit bevorzuge, in die Zukunft habe ich noch kein einziges Mal geblickt", meint sie unbekümmert, „Deine Satteltasche wurde übrigens vorhin bereits hierhergebracht."
Mit diesen Worten kehrt sie mir wieder den Rücken zu und öffnet die Truhe am Fußende des Bettes.
„Da ist sie ja", meint Sahra und deutet ins Truheninnere, „Die kartierten Decken da sind übrigens selbstgemacht. Du bist vielleicht besseres aus dem Palast der Königin gewöhnt, aber das hier ist nicht schlecht."
„Was soll der Scheiß?", zische ich, mein Blick gleitet hinter meine Schulter, wo die Tür einen Spaltbreit offensteht. Das Gefühl, bedrängt zu werden, breitet sich in meiner Brust aus und schnürt mir die Kehle zu. Warum auch immer dieses Mädchen so viel über mich weiß, es kann nichts Gutes bedeuten.
„Hör zu, ich weiß nicht, warum du mich in deinem Traum gesehen hast oder was du von mir weißt, aber ..."
Sahra unterbricht mich, bevor ich auch nur den Satz vollenden kann. Ihre Augen funkeln, doch das Grinsen ist verschwunden. Stattdessen wirken ihre Gesichtszüge nun beinahe ernst.
„Ich träume öfter von Menschen. Es liegt mir im Blut, ihre Lebensgeschichten vor meinem inneren Auge ablaufen zu sehen. Manchmal lerne ich sie nie im echten Leben kennen, manchmal treffe ich sie auf der Straße und ... und manchmal kommen sie in die Taverne. So wie du, kleiner Gestaltenwandler."
Sie verschränkt die Arme vor der Brust, als wolle sie mich spiegeln. Als ich Andeutungen mache, das Zimmer zu verlassen, schnellt ihre Hand nach vorne und sie packt mich am Arm.
„Ihr sucht die Gestaltenwandler, aber sie sind nicht mehr im Anwesen", zischt sie, ich halte inne. Die Neugier überwiegt. Längst hat sie mich an den Knochen gepackt.
„Nicht mehr?"
Sahra überlegt kurz, als hätte sie die Antwort irgendwo in ihrem verkorksten Zukunftsleserinnengehirn parat.
„Ich weiß, dass sie dorthin zurückgekehrt sind, nachdem du und deine Freunde aus Fatalwa entkommen konnten. Sie waren einige Zeit dort, aber vor kurzem haben sie sich ein neues Lager gesucht. Und sie verstreuen sich – sie verstreuen sich im ganzen Land."
Ein überraschter Ausdruck huscht über ihr Gesicht, als hätte sie die Kontrolle über ihren Mund und die Worte, die herausströmen, verloren. Doch für mich ergeben sie Sinn und fügen sich in ein Puzzle aus Informationen.
Ein Gedanke schießt mir durch den Kopf.
„Weißt du etwas über eine Prophezeiung? Clarice und eine Vision?"
Sahras Blick liegt auf mir, sie hat die Augen zu Schlitzen verengt, als würde ihr das bloße Nachdenken extreme Kraft kosten. Mit den Fingerspitzen reibt sie sich über die Schläfen.
„Ich habe von dir geträumt, nicht von ihr", meint sie schnippisch, doch bevor ich mich abwenden kann, packt sie meine Hand, „Warte, ich weiß noch etwas anderes. Du wirst es ihr heute erzählen."
Ihre eisigen Finger drücken meine, bevor sie sie in den Taschen ihres Kleids vergräbt.
„Was werde ich wem erzählen?"
Die Verwirrung in meiner Stimme ist unüberhörbar, auch wenn mich ein seltsames Gefühl beschleicht. Es klammert sich um mein Herz, eine leise Vorahnung keimt in mir auf.
„Du wirst Clarice die Wahrheit sagen müssen", meint sie etwas zögerlich, „Du weißt schon ... alles von früher. Es wird Zeit, Arkyn. Es wird wirklich Zeit."
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