Kapitel XIX
Die heiteren Gespräche der anderen Soldaten verschwimmen im Hintergrund, während ich mit aller Kraft versuche, die Augen offenzuhalten. Meine Lider sind bleiern, die Schwerkraft drückt sie unaufhaltsam nach unten. Niemand beachtet mich, als ich die Arme auf der Tischplatte verschränke und den Kopf hineinlege. Nicht einschlafen, ermahne ich mich, doch der Tagesritt nach Ámara steckt mir tief in den Knochen. Ich erlaube mir kurz die Augen zu schließen und ...
„Du warst Teil meiner Vision, Clarice."
Ich öffne die Lider und starre in tiefes Ozeanblau, umrahmt von blonden Wimpern. Die Königin beäugt mich schweigend, doch ich weiche ihrem Blick aus, um den Gang zu mustern, der sich hinter ihr in die Ewigkeit erstreckt und in einer Dunkelheit verliert, die meine Augen nicht zu erfassen vermögen. Marmorne Wände bahnen sich ihren Weg in die Höhe und verschwinden irgendwo in den Wolken. Ein sanfter Wind streicht mir durchs Haar, beinahe drängend greift er nach mir. Vom Ende des Korridors scheint mich eine Stimme zu rufen. Von dort, wo Finsternis die Fliesen verschluckt.
Königin Charis wendet mir den Rücken zu, der Saum ihres pechschwarzen Kleids streift meine Beine und lässt den dunklen Nebel aufschrecken, der unsere Füße umgibt. Einen Moment lang starre ich auf die komplizierte Schnürung ihres Kleids, bevor sie den Weg Richtung Ende des Ganges beginnt. Ich folge ihr erleichtert, prickelnde Neugier nagt an meinen Knochen. Der Rauch federt meine Schritte ab, schlängelt sich meine Beine hinauf und färbt den bestickten Saum meines blütenweißen Kleids grau. Ich hole den Abstand zur Königin auf, lasse den Blick über die marmornen Seitenwände wandern. Hunderte Spiegel sind aufgetaucht und verdecken fast jede freie Stelle. Ich sehe mein eigenes Gesicht vorbeiziehen, weiter vorne das der Königin. Es ist zu einer erzürnten Grimasse verzogen. Einen Moment lang sehe ich Zinariyas harsche Züge darin aufblitzen, dann hat mich die Stimme vom Ende des Gangs wieder in ihren Bann gezogen. Ich höre, wie sie meinen Namen wispert, nach mir fleht. Charis verfestigt ihre Schritte, ich beginne zu laufen, um ihr folgen zu können.
Als sie plötzlich anhält, rutsche ich über den Stoff ihres Kleids und falle zu Boden. Der dunkle Nebel fängt mich sanft ab, liebkost meine Haut und färbt sie gräulich.
Charis beugt sich über mich, im schummrigen Licht erscheinen mir ihre Gesichtszüge fahl und bedrohlich.
„Siehst du sie?"
Ihr zittriger Finger wandert ans Ende des Korridors, wo ein bläulicher Schimmer begonnen hat, sich auszubreiten. Die Stimme dröhnt laut und gierig in meinem Kopf, bis sich die feinen Härchen in meinem Nacken aufstellen. Komm zu mir, verlangt sie. Plötzlich bin ich mir sicher, dass nur ich sie hören kann.
„Was ist das?"
Über Charis' makellose Porzellanstirn ziehen sich zwei Falten.
„Dein Schicksal. Deine Prophezeiung."
Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern, während sich das blaue Licht immer intensiver von den Wänden widerspiegelt. Ich versuche, mich zurück auf die Beine zu kämpfen, doch einzelne Nebelschwaden drücken mich sanft zurück auf den kalten Marmor. Beinahe zärtlich wickeln sie sich um meine Arme. Ich begreife, dass das Licht und die Stimme eins sind. Vom Ende des Korridors verlangen sie immer noch nach mir. In meinem Herzen stechen Sehnsucht und schiere Verzweiflung.
„Sie ruft mich", entfährt es mir und ich strecke der Königin die Arme hin, um mir aufzuhelfen, „Bitte. Lasst mich zu ihr!"
Charis biegt den Rücken durch und macht einen Schritt zurück. Meine Hände greifen nach dem Stoff ihres Kleids, doch zwischen meinen Fingern löst er sich in Rauch auf.
„Das kann ich nicht zulassen, Clarice."
Als sie weitere Schritte nach hinten setzt, robbe ich auf den Knien hinterher. Heiße Tränen laufen mir über die Wangen und tropfen zischend zu Boden. Der dunkle Nebel leckt sie gierig auf.
„Wieso nicht?"
Meine Stimme ist so flehend und drängend, dass mir ein Schauer über den Rücken läuft. Die Nebelarme greifen wieder nach mir und ziehen mich mit einem Ruck zurück. Mit aller Kraft versuche ich, mich in Charis' Nähe zu halten, doch meine Finger gleiten mühelos über den glatten Marmor.
„Wieso nicht?", brülle ich, während Charis und das bläuliche Licht zu einem Punkt in der Ferne werden.
Wieso nicht?
„Wieso nicht?"
Ich fahre in die Höhe, meine Augen tränen und die Worte hallen durch die Taverne wie ein Echo. Die anderen Soldaten mustern mich verwirrt, ich sinke kraftlos zurück auf meinen Platz in der Realität. Auch wenn ich das Gefühl habe, stundenlang geschlafen zu haben, scheint mein Traum nur wenige Minuten gedauert zu haben. Beinahe ist es so, als wäre ich nie weg gewesen, als hätten meine nackten Zehen nie den kühlen Marmor des unendlichen Korridors berührt. Wie kann das sein? Alles hat sich so echt angefühlt, als wäre ich wirklich dort gewesen. Das Gespräch mit Arkyn im Stall kommt mir in den Sinn. Es muss mich so durcheinandergebracht haben, dass ich jetzt auch noch von der Prophezeiung träume.
Während meine Mitstreiter sich wieder in ihren angeregten Unterhaltungen vertiefen, verblasst der wirre Traum langsam. Das bittere Gefühl der Enttäuschung bleibt.
Schließlich erweckt ein lautes Knarzen meine Aufmerksamkeit. Mein Blick schnell Richtung Treppe, wo gerade das Mädchen mit dem elfengleichen Gesicht und dem weißblonden Haar hinunterhuscht. Kerzenlicht flackert in ihren Augen, als sie den Blick über die Köpfe der Soldaten gleiten lässt. Einen Moment lang mustert sie mich schweigend, dann greift sie nach ihrer Laute auf der Theke und verschwindet hinter einer vor meinen Blicken verschlossenen Tür. Neben mir höre ich Panduk leise gähnen. Sie hat die Ellbogen auf die abgeschlagene Tischplatte gestützt, das rotbraun schimmernde Haar hängt ihr in die Stirn. Sollte sie jetzt einnicken, wird sie mit dem Gesicht voran in der Schüssel landen. Ich überlege, sie anzustupsen, doch da vernehme ich im Augenwinkel eine Bewegung. Mein Blick flattert nach links und fällt auf die Person, die sich mit den Händen gegen das hölzerne Geländer des halboffenen Obergeschosses lehnt. Arkyn. Sein Gesicht liegt zur Hälfte im Schatten, seine Arme ragen aus den hochgekrempelten Ärmeln des weißen Leinenhemds. Ich erkenne ihn an seiner Art, schweigend auf all das herabzublicken, was unter ihm liegt; an der Tatsache, dass er Teil eines großen Ganzen sein will und sich trotzdem am Rand entlangschleicht. Ein Beobachter, nicht bereit seinen Posten aufzugeben.
Wie in Trance erhebe ich mich vom Sessel, knicke beinahe wieder ein, als ich merke, wie die Müdigkeit meinen Körper durchströmt. Meine Oberschenkel sind Brei, matschig und ohne jegliche Konsistenz. Panduk zuckt zusammen, ihr Kopf wandert in meine Richtung.
„Ich gehe hinauf", teile ich ihr mit und deute vage zur Treppe. Sie sieht mich prüfend aus ihren Haselnussaugen an, dann nickt sie, macht jedoch keine Anstalten, ebenfalls aufzustehen. Mein Sessel knarzt leise, als ich ihn über den dunklen Holzboden zurückschiebe, doch niemand nimmt Notiz von mir. Das Gebräu der Wirtin hat die Gemüter locker gemacht, lustige Anekdoten werden erzählt und niemand scheint an morgen zu denken.
Ich husche die ersten Stufen nach oben, mein Blick gleitet zu der Stelle, an der Arkyn eben noch stand, doch sie liegt verlassen vor mir. Kurz denke ich, mein Gehirn hat mir einen Streich gespielt, als wolle es mich testen. Testen, ob ich immer noch auf die Beine springe, sobald ich ihn nur in meinem Augenwinkel erkenne. Offensichtlich habe ich die Prüfung nicht bestanden. Ein Seufzen entweicht mir. Soll ich wieder umkehren? Als ich merke, wie mich ein paar Soldaten verstohlen mustern, entscheide ich mich dagegen. Vielleicht finde ich ja mein Zimmer.
Ich bringe die übrigen Stufen hinter mich und verdrücke mich in einen der Gänge zu den Zimmern. Der Holzboden knarzt unter meinen Füßen, während ich mich durch den dunklen Korridor taste. Alle Türen sind vor meinen Blicken verschlossen, ich wage es nicht, auch nur eine einzige zu öffnen. Ein paar Meter vor mir fällt ein einsamer, blasssilberner Lichtstreifen aus einem der Zimmer, dessen Tür einen Spalt offensteht. Vorsichtig trete ich näher, noch vorsichtiger strecke ich die Hand nach der Klinke aus, bevor ich der Tür einen kleinen Stups verpasse. Laut quietschend öffnet sie sich und ich zucke zusammen wie ein aufgeschrecktes Kaninchen.
Der Streifen Mondlicht, der durch ein winziges Fenster auf der anderen Seite des Raums fällt, blendet mich nun beinahe. Plötzlich fühle ich mich, als würde ich im Rampenlicht einer Bühne stehen. Ich blinzle, bis sich meine Augen an die silberne Helligkeit gewöhnen.
Erst jetzt erkenne ich Arkyn, der vom Schatten gut verhüllt auf einem der Betten an der Wand sitzt und mich mustert. Ich räuspere mich.
„Hast du eine Ahnung, wo mein Zimmer sein könnte?", frage ich und er erhebt sich.
Ich komme dem Bedürfnis nach, die Arme vor der Brust zu verschränken.
„Sahra meinte, dass es das rechts neben dem hier ist."
Arkyns Worte sind kühl und eine winzige Spur gehetzt, als wolle er mich so schnell wie möglich wieder loswerden.
„Sahra?"
„Die Lautenspielerin."
Ich nicke und beschließe, Arkyn den Gefallen zu tun und zu verschwinden. Beinahe kann ich spüren, wie seine Blicke mich erdolchen, als ich ihm den Rücken zukehre und in den Gang hinaustrete. Mein Herz trommelt sanft und gleichzeitig so drängend gegen meinen Brustkorb, als wolle es mich zurückhalten, als wolle es mich mit seinem Rhythmus dazu bewegen, mich nach ihm umzudrehen.
„Clarice?"
Wie aufs Stichwort erklingt seine Stimme; ein bisschen zu rau, um gleichgültig zu klingen. Ich frage mich, ob sein Herz dasselbe tut. Ob es ihm wohl zwischen den schnellen Schlägen leise zuflüstert, mich anzusehen und ehrlich zu sein?
„Hm?"
Meine Stimme ist ein bisschen zu hoffnungsvoll, um gleichgültig zu klingen.
Ich zucke zusammen, als ich mich umdrehe und fast gegen ihn stoße. Völlig unbedarft, beinahe lässig lehnt er im niedrigen Türrahmen, die Arme oben aufgestützt. Ich schlucke und mache einen Schritt zurück, während er nach den richtigen Worten zu suchen scheint.
„Ich ... muss dir etwas erzählen", meint er schließlich, ich runzle die Stirn. Wie automatisch wandern die Finger meiner rechten Hand zur Wand, um mich leicht abzustützen.
„Wenn es wieder um die Prophezeiung geht, schreie ich", stelle ich fest und ein schiefes Grinsen stiehlt sich auf Arkyns Lippen, bevor er den Kopf schüttelt.
„Es geht nicht um die Prophezeiung", beteuert er, sein Blick gleitet zwischen meinem rechten und linken Auge hin und her, als könne er sich nicht für eins entscheiden, „Also ... meine Eltern sind tot."
Seine Stimme ist so kühl, als würde er bloß über das Wetter retten. Als er meinem Blick ausweicht, nicke ich schließlich.
„Ich weiß, Arkyn. Das ... das hast du mir bereits erzählt."
Er schnaubt leise. „Irgendwie muss ich doch anfangen, oder?"
„Wie sind sie denn ... gestorben?", hake ich nach; unsicher, wie weit ich gehen darf, ohne alte Wunden aufzukratzen. Zischend atmet Arkyn aus. Mein Herz trommelt wie wild gegen meine Rippen, als er die Hände vom Türrahmen nimmt und sie vor der Brust verschränkt.
„Meine Mutter bei meiner Geburt und mein Vater ... nun ja, mein Vater ist auch tot. Für mich" – er hält kurz inne, eine steile Falte zieht sich quer über seine Stirn – „Nachdem sie mich aus seiner Bruchbude geholt haben, hab' ich ihn nie wieder gesehen. Wahrscheinlich hat er sich das Gehirn weggesoffen, bis nichts mehr übrigblieb."
Ein trockenes Lachen entweicht seinen Lippen, er hält meinem Blick stand, doch ich kann nicht. Ich kann nicht in diese dunklen Augen blicken und mir vorstellen, wie es ist, keine Eltern zu haben, wie es ist, allein zu sein.
„Und dann?", bringe ich hervor, auch wenn ich mir die Antwort bereits vorstellen kann. Ein Kind ohne Eltern, ein Kind ohne Zuhause. Ein solches Kind landet im Heim.
Er antwortet mir nicht, sein Blick wandert über mein Gesicht, doch in Gedanken scheint er in einer weitentfernten Zeit festzuhängen. Die Neugierde siegt über meine Angst, Salz in die Wunden zu streuen. Sie ist so stark, lodert lichterloh in mir.
„Und Panduk? Woher kennst du sie?"
Die Bilder vor seinem inneren Auge scheinen zu verblassen, sein klarer Blick trifft meinen. Beinahe höre ich es in seinem Gehirn rattern, während er fieberhaft überlegt, wie viel er mir sagen muss, wie viel genügt, um mich abzuspeisen. So ist Arkyn eben.
„Du kennst sie von früher, richtig?", hake ich nach, während Arkyn die verschränkten Arme löst. Ich bilde mir ein, jegliche Kraft aus ihm weichen zu sehen. Sie sickert aus jedem seiner angespannten Muskeln, tropft zu Boden und verdampft zischend. Ich habe ins Schwarze getroffen.
„Wir sind in demselben Heim großgeworden. In Satied", bringt er hervor.
Die Gedanken flackern im Sekundentakt durch meinen Kopf, ich bin unfähig, auch nur einen davon festzuhalten. Die Wahrheit ist keine Flutwelle, die mich von den Beinen reißt, sie ist ein Gift, das sich langsam in meinen Adern ausbreitet und mir die Fähigkeit raubt, klar zu denken. In mir tut sich immer noch der Drang auf, nachzuhaken, weiterzubohren, endlich jedes Stück von Arkyn aufzusammeln, um eine vollständige Person daraus zu bauen.
Ich hebe den Blick, starre in seine pechschwarzen Augen, als mir klar wird, dass wir eigentlich unser Leben lang nie sonderlich weit voneinander entfernt waren. Satied ist groß, aber nicht so groß, dass man sich nicht zufällig über den Weg laufen könnte.
Arkyn hebt eine Augenbraue, als ich ihn ein bisschen zu lange anstarre.
„Und?", fragt er vorsichtig, sein Blick lässt mein Herz schneller schlagen, „Was denkst du jetzt? Wer bin ich nun in deinen Augen?"
Er lehnt sich mit der Schulter gegen den Türrahmen und beobachtet eine jede meiner Regungen. Ich wage kaum, zu atmen. Was will er denn bitte hören?
„Derselbe", antworte ich leise, „Derselbe wie vorher."
Arkyn verzieht keine Miene und ich muss mich erneut fragen, was er denkt. Was ihm hinter seiner steinernen Fassade durch den Kopf spukt.
„Was zieht ihr denn für Gesichter?"
Vor Schreck zucke ich zusammen wie ein ängstliches Kaninchen und fahre herum.
Es ist Panduk, die den dunklen Korridor entlanggeschlendert kommt. Ein vorsichtiges Grinsen umspielt ihre sonst so ernsten Mundwinkel, doch ihr Blick ist bohrend und unnachgiebig wie immer. Ich merke, wie mir heiß wird und die Röte in meinen Hals kriecht. Ich ermahne mich dabei, sie nicht anzustarren wie eine Attraktion, nicht so, als hätte Arkyn mir gerade auch einen Teil ihrer Vergangenheit verraten.
„Das hier ist unser Zimmer", antworte ich etwas zu gutgelaunt und deute auf die Tür. Ihr Blick gleitet zwischen mir und Arkyn hin und her, in ihren Augen flackert es.
„Hab' ich gestört?"
Sie scheint nicht zu ahnen, worüber Arkyn und ich gesprochen haben, doch ihre falsche Vermutung, treibt mir die Röte bis hinauf in die Wangen.
„Schon gut, ich verschwinde", meint sie, als keine Antwort zurückkommt. Sie öffnet die Tür zu unserem Zimmer und ich deute ihr, dass ich sie begleite. Das Letzte, was ich sehe, bevor ich die Tür ins Schloss ziehe, ist Arkyns ernster Blick und seine Augen, die funkeln wie geschliffener Onyx.
„Ich schlafe beinahe im Stehen ein", gähnt Panduk. Ich höre sie hinter mir in ihrer Truhe herumkramen, mein Blick gilt allerdings der silbrigen Mondsichel, die sich dort draußen an pechschwarze Himmelszelt klammert. Arkyns Worte gehen mir nicht mehr aus dem Kopf, sie kreisen um mich herum wie nervtötende Stechmücken im Sommer. Ich frage mich, wieso Panduk und Arkyn so abweisend zueinander sind, wenn sie doch ihre Jugend unter demselben Dach verbracht haben. Eine leise Stimme in mir drängt mich, Panduk einfach zu fragen. Sie zu bitten, mir von ihrer Zeit vor dem Schattenwald und den Gestaltenwandlern zu erzählen. Damals, als wir noch alle Hoffnung auf ein halbwegs gewöhnliches Leben hatten.
Die Stimme bringt mich dazu, mich umzudrehen, die Hände am Fensterbrett abgestützt.
Panduk hat mir den Rücken zugekehrt, sie zieht sich gerade ächzend die Bluse über den Kopf. Am Bett liegt ihre zusammengeknülltes Nachthemd. Das silberne Mondlicht lässt ihre blasse Haut glänzen, ihre Wirbelsäule krümmt sich, als sie sich leicht nach vorne beugt und das Hemd über den Kopf zieht. Ihre Haare knistern, mein Blick landet auf den Striemen, die sich quer über ihre Haut ziehen. Es sind Narben, heller als ihre eigentliche Haut und kaum sichtbar. Trotzdem springen sie mir ins Auge, lassen das Herz in meiner Brust vor Schreck stolpern. Schnell wende ich den Blick ab, lasse mich auf mein Bett sinken und streife mir die Stiefel von den Füßen. Ein tonnenschwerer Stein drückt mir so schwer auf den Magen, dass ich das Gefühl habe, mich übergeben zu müssen. Nicht, weil ich die Narben abstoßend finde, sondern weil ich die Person abstoßend finde, die sie verursacht hat.
Mit den Armen umklammere ich meine Knie, denke an Arkyn und frage mich, ob sein Rücken wohl genauso aussieht. Ob ich auch auf seiner Haut die leicht erhabenen Striemen längst vergangener Schläge spüren könnte? Schweigend verneine ich den Gedanken. Bei den Gestaltenwandlern habe ich bereits unfreiwillig mit seinem nackten Rücken Bekanntschaft gemacht, doch seine Haut war gleichmäßig und bestimmt glatt wie Seide. Erleichterung durchströmt mich.
Im Bett neben meinem raschelt es, als Panduk unter die Decke schlüpft. Sie wünscht mir keine gute Nacht, lässt mich alleine mit all den erdrückenden Gedanken im Dunklen sitzen. Nur eine Wand trennt mich von Arkyn, von den Fragen, die ich ihm nun stellen will, doch ich wage es nicht, aufzustehen. Mein Herz trommelt gegen meine Rippen wie verrückt, ich schlinge mir die karierte Decke um die Schultern. Was würde ich doch geben, um meinen Vater um Rat fragen zu können. Doch ich bin alleine, nur Panduks gleichmäßiger Atem begleitet meine düsteren Gedanken.
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Der Geruch von feuchter Erde liegt in der Luft, samtene Nebelschwaden ziehen über das Feld und verhüllen den Horizont vor meinen Augen. Der Himmel flimmert grau, in der Ferne höre ich ein paar Krähen ihr raues Lied anstimmen. Ich weiß nicht, wie spät es ist, doch mein Bauchgefühl sagt mir, dass es sich um die seltsamste Stunde eines jeden Tages handelt. Dann, wenn die Geschöpfe der Nacht sich zu Bette legen und die Kreaturen des Tages erstmals ihre Fühler strecken. Man sollte nicht wach sein zu dieser Zeit, denn dann ist man der Einzige. Ich schlinge die Arme um den Körper, mein Blick wandert suchend umher. Einmal, zweimal, dreimal drehe ich mich um die eigene Achse. Nichts.
Ein ungutes Gefühl befällt mich, nagt an meinen Knochen und lässt mich erschaudern.
Ein Schwarm Krähen erhebt sich krächzend in die Lüfte. Sie sind die einzigen Lebewesen, die zu dieser Zeit zu wachen scheinen, und ich beschließe, ihnen zu folgen. Die gefrorenen Grashalme knirschen unter meinen Füßen, als ich die Verfolgung aufnehme. Ein sanfter Wind zerrt an meinen Haaren, rauscht mir in den Ohren. Die Krähen lassen sich in Kreisen über den Himmel tragen, hier unten klingt ihr Krächzen seltsam verzerrt. Als wäre es nur das Echo ihres Lieds, das mich erreicht.
Ich halte keuchend an, als sich in etwa fünfzig Meter Entfernung der Umriss eines Hauses auftut. Es versucht sich verzweifelt gegen den pfeifenden Wind, der über die Ebene bläst, aufzulehnen. Ich lege die letzten Meter im Laufschritt zurück; erleichtert, bald ins warme Innere schlüpfen zu können. Eine schmale Gestalt zeichnet sich vor der Haustür ab, der weiße Stoff des Gewandes flattert im Wind und reißt an ihren zierlichen Beinen.
Vorsichtig trete ich näher.
„Clarice?"
Es ist Panduks Stimme, die mir die Böen zu Ohren tragen, doch ich bin noch zu weit entfernt, um ihr Gesicht zu sehen. Ich laufe über das frostige Gras, halte keuchend vor den Stufen zur Haustür an, wo sie sich schützend in den Türrahmen drückt. Sie hält den Kopf gesenkt, das kinnlange, haselnussfarbene Haar verdeckt ihr Gesicht vor mir.
„Panduk, bist du das? Wo sind wir hier?"
Meine Stimme geht beinahe im tosenden Wind unter, Blätter werden umhergeweht, landen mir im Gesicht und verfangen sich in meinem Haar.
„Panduk!", brülle ich und endlich hebt sie den Kopf. Ihre Augen sind seltsam stumpf, der Blick so ungewohnt müde. Hinter ihr fliegt die Haustür auf und gibt einen schmalen Gang und eine abgenutzte Treppe ins Obergeschoss frei. Zwei kleine Kinder, kaum älter als zehn Jahre, luken zwischen dem Geländer hindurch, mustern mich aus ihren großen Augen. Panduk kehrt mir den Rücken zu und verschwindet im Hausinneren. Ich werfe einen letzten Blick über die Schulter, wo sich nun pechschwarze Wolken auftürmen. In der Ferne zucken bereits Blitze über den Himmel, erleuchten für wenige Sekunden das undurchdringbare Dunkel. Schnell trete ich ein.
Nachdem ich sorgfältig die Tür hinter mir geschlossen habe und das Heulen des Sturmes zu einem Hintergrundgeräusch wird, sind die Kinder verschwunden. Bedrückende Stille herrscht, nur das Knarzen des Holzbodens unter meinen Stiefeln ist zu hören. Vorsichtig lege ich meine Finger um das abgewetzte Treppengeländer, die einzelnen Stufen ächzen und stöhnen unter mir, als würde ich sie mit jedem Schritt treten.
„Was brauchst du so lange, Mädchen?"
Eine keifende Stimme erklingt und als ich den Blick hebe, erkenne ich die Statur einer Frau, die sich dort oben gegen das Geländer lehnt. Ich huste, als mir der beißende Geruch von Rauch in die Nase steigt. Ihr Gesicht wird von der grauen Wolke, die aus ihrer Pfeife qualmt, verdeckt. Ich nehme zwei Stufen auf einmal und lande am oberen Treppenabsatz, unsicher wartend, ob weitere Anweisungen folgen.
„Ich weiß, warum du hier bist, Mädchen", sagt sie, während ich weiterhin vergeblich versuche, Gesichtszüge im Qualm auszumachen.
„Ach ja?"
„Du suchst ihn, richtig? Du möchtest ihn verstehen und deshalb suchst du ihn hier", pafft sie, ich huste, „Was für ein lächerlicher Gedanke, mein Mädchen, aber wenn du unbedingt willst, dann folge mir. Lass mich dir zeigen, wer er wirklich ist."
Sie löst sich vom Geländer und ich erhasche einen Blick auf ihren Rücken, bevor sie hinter der nächsten Biegung verschwindet. Ich folge ihr.
Der Gang, durch den sie mich führt, scheint ewig zu sein. Er verliert sich in weiter Ferne am Horizont, zweigt immer wieder in neue Korridore oder Türen ab, von denen die meisten vor meinen Blicken verschlossen sind. Alle paar Minuten tauchen ein oder zwei blasse Kindergesichter in meinem Augenwinkel auf. Das bloße Nicken der Frau mit der Pfeife genügt, um sie zurück in ihre Zimmer zu scheuchen.
„Beachte sie nicht", sagt sie mir immer wieder und ich versuche, meinen Blick auf ihren Rücken gerichtet zu halten.
Nach einer halben Ewigkeit – ich kann kaum fassen, dass wir uns noch immer in demselben Haus befinden – nimmt sie einen klirrenden Schlüsselbund von ihrem Gürtel und drückt ihn mir in die Hand. Sie nickt in Richtung einer Tür; Schnörkelverzierungen ziehen sich über das dunkle Eisen und scheinen sich im Halbdunklen zu bewegen wie Schlangen.
Ich nehme den erstbesten Schlüssel und stecke ihn in das Schloss. Es klickt, die Tür öffnet sich leise quietschend.
Kaum habe ich einen Schritt über die Schwelle gesetzt, fällt das Tor hinter mir ins Schloss. Mein Blick gleitet durch den Raum. Es handelt sich um eine Küche, ein Stapel dreckiger Teller und Besteck steht dort am Tisch, von der Decke baumeln an einem Seil eine Reihe an getrockneten Kräutern.
„Ist hier jemand?", frage ich ins Ungewisse. Im Küchenschrank ruckelt es. Mein Herz trommelt laut gegen meine Rippen, in meinen Fingerspitzen kribbelt es, als würden sie nach langer Taubheit wieder zum Leben erwachen.
In dem Moment fliegt die Tür des Schranks auf und ein Junge kommt herausgeklettert. Das dunkle Haar hängt ihm in die blasse Stirn, zwei große, pechschwarze Augen mustern mich, als er erschrocken zurückweicht. Mein Blick fällt auf den Laib Brot in seinen Händen. Im Unterschied zu mir scheint er mich jedoch nicht zu erkennen. Er starrt schlicht durch mich hindurch, gibt mir das Gefühl nichts weiter als ein Lufthauch zu sein.
Ich folge seinem Blick. Dort steht Panduk wieder, ihr weißes Nachthemd scheint im Dunklen zu leuchten wie der Mond. Hinter ihr steigt gräulicher Nebel auf, umhüllt ihre nackten Fußgelenke und Zehen. Sie starrt uns aus großen Augen an, ihre Finger krallen sich in den Stoff ihres Kleids. Als sich aus dem Nebel die Gestalt einer Frau materialisiert, keuche ich erschrocken auf. Erneut erkenne ich keine Gesichtszüge, doch die Pfeife im Mundwinkel braucht keine weiteren Erklärungen. Es ist die Frau, die mich in ebendieses Zimmer geführt hat.
„Du freches Gör", zischt sie. Ich sehe eine Gürtelschnalle aufblitzen, Panduks Augen weiten sich. Ein gellender Schrei zerreißt die Luft.
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Schweißgebadet und heftig keuchend fahre ich aus dem Schlaf empor. Mein Herz rast in meiner Brust, droht zu zerspringen.
„Clarice? Bist du verrückt geworden, es ist mitten in der Nacht", herrscht mich jemand an und als sich vor meinen Augen langsam mein Bett und die karierte Decke materialisieren, sinke ich erleichtert zurück.
Mein Blick fällt auf Panduk, die kerzengerade in ihrem Bett sitzt. Ihre Pupillen funkeln im Dunklen, vor meinem inneren Auge sehe ich erneut die Gürtelschnalle aufblitzen.
„Ich habe schlecht geträumt", presse ich hervor, meine Stimme ist rau wie Schmirgelpapier.
Trotz der Finsternis erkenne ich, wie Panduk ihre Augen verdreht.
„Träume sind nicht echt, Clarice", sagt sie und ich nicke, auch wenn mein Herz schmerzhaft gegen meine Rippen drückt. Beinahe kann ich noch den Qualm der Pfeife riechen, so echt war dieser Traum.
„Ich hole mir etwas zu trinken. Schlaf ruhig weiter", quetsche ich hervor und erhebe mich mit zittrigen Beinen aus dem Bett.
„Das hatte ich auch vor", grummelt Panduk und kuschelt sich wieder in ihre Decke.
Mein Herz rast immer noch in meiner Brust, als ich hinaus in den Gang trete.
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