Kapitel X
Als ich die Treppe nach unten schleiche, dröhnt es in meinen Ohren und ich fühle mich wie in Watte gepackt. Zwei Mal laufe ich an der richtigen Tür vorbei und als ich sie schließlich mit einem Quietschen aufziehe, spüre ich immer noch das wohlig warme Kribbeln in meinem Magen und Clarices Lippen auf meinen. Seufzend fahre ich mir durchs Haar, stolpere durch die Dunkelheit des Wohnzimmers, auf der Suche nach einer Kerze und einer Packung Streichhölzer. Als ich mir das Knie an einem hölzernen Beistelltischchen anstoße, entfährt mir ein Fluchen.
Aus der Dunkelheit des Raums dringt ein leises Lachen zurück. Vor Schreck entweicht mir ein Keuchen. Dann erklingt ein ratsch und eine kleine Flamme tanzt in der Finsternis. In Panduks braunen Augen tanzt das Feuer. Als sie grinst, starre ich böse zurück. Das Licht bewegt sich flackernd auf mich zu, beinahe leckt die Flamme schon an ihren Fingern, als sie endlich die Kerzen auf dem Tischchen anzündet und das Streichholz auspustet. Der Raum um uns herum nimmt Farbe an. Ich erkenne einen Kamin, über dem ein Spiegel hängt und das Zimmer in die Länge zu ziehen scheint. Die gesamte Raummitte macht ein bestickter, edel aussehender Teppich aus.
„Was soll das, Panduk?", frage ich sie genervt und lasse mich rücklings in den altrosa Diwan fallen. Ich versinke darin wie in einem Wolkenmeer.
Panduk lacht nur leise, bevor sie sich nicht weniger lässig in das gegenüberliegende Sofa fallen lässt. Das Altrosa brennt mich in den Augen, Clarices Mutter scheint ein Faible für hässliche Farben zu haben.
„Schönes Haus, nicht?", weicht Panduk meiner Frage aus und streckt sich quer am Sofa auf. Als ihre Stiefel den Bezug berühren, zucke ich zusammen, aber ich sage nichts. Stumm lasse ich meinen Blick über die breite Regalwand hinter ihr wandern, die mit hunderten Büchern gespickt ist. Das aufregende Gefühl in meiner Brust hat einer dumpfen Leere Platz gemacht.
„Zerbrich dir nicht den Kopf, Arkyn", flüstert Panduk und spielt mit der Streichholzstachel zwischen ihren Fingern.
„Worüber sollte ich mir den Kopf zerbrechen?"
Der kühle Klang in meiner Stimme ist beabsichtigt. Ich will, dass er ihr den Hals zuschnürt. Ich will, dass sie bereut, hergekommen zu sein. Aber so ist Panduk nicht. Sie bohrt so lange in einem wunden Punkt herum, bis dir der Schmerz den Atem raubt und die Sicht vernebelt.
„Xanthio war das schwächste Glied der Kette", fährt sie auch schon unbedacht fort und ich knirsche mit den Zähnen. Ich weiß genauso gut wie sie, worauf sie hinauswill. Und so soll es auch bleiben. Was tief in der Vergangenheit liegt, soll auch dort bleiben.
„Ich kann mir beinahe bildlich vorstellen, wie du versucht hast, ihn vor den Fängen von Charis' Wachen zu retten. Oder auch nicht", meint sie und der Spott trieft aus ihrer Stimme wie klebriger Honig, „Vermutlich hätten wir alle so reagiert, nicht?"
Ihre Stimme nimmt einen gefährlich kalten Klang an, jetzt bin ich derjenige, dem ein heiseres Lachen entweicht, auch wenn ich ihr am liebsten den Mund zukleben würde.
Sie setzt sich auf, stützt die Ellbogen auf den Knien ab und mustert mich unverhohlen.
„Ich kann dich verstehen, Arkyn. Das kann ich wirklich", behauptet sie und ich kneife die Augen zusammen, „Wir beide sind tief in unserem Inneren egoistische Seelen, die nichts mehr lieben als das eigene Leben."
Die letzten Worte verlassen ihre Lippen flüsternd und in dem Moment reißt mein Geduldsfaden. Ich springe auf und packe sie am Arm, bevor ich sie auf die Füße zerre.
„Hör mir mal gut zu: Ich traue dir nicht, Panduk", zische ich, „Und nur weil Clarice es tut, heißt das nicht, dass du hier tun und lassen kannst, was du willst. Jetzt bist du nämlich das schwächste Glied der Kette und solltest du jemals auf die äußerst dumme Idee kommen, den Mund aufzumachen, um Clarice irgendetwas zu sagen, wirst du auch für die längste Zeit unser schwächstes Glied gewesen sein. Ich werde dich schneller los, als du Schattenwald sagen kannst. Hab' ich mich klar genug ausgedrückt?"
Meine Stimme erlaubt keinen Widerspruch und jeder andere hätte sich sofort vor Angst in die Hose gepinkelt, aber Panduk ist nicht jeder andere und als sie sich losreißt, klebt ihr das spöttische Grinsen immer noch im Gesicht. Am liebsten hätte ich sie dafür geohrfeigt.
„Gute Nacht, Arkyn", schnurrt sie und zwinkert mir zu, bevor sie sich vom Sofa erhebt und aus dem Zimmer huscht.
Sie lässt mich mit geballten Fäusten und vor Wut angespannten Schultern zurück. Ich starre in die Flamme der Kerze, bis meine Augen so trocken sind, dass sie wie Feuer brennen. Eine Idee formt sich in meinem Kopf, unaufhaltsam wirbeln mir die Gedanken durch den Kopf. Angetrieben werden sie von einem einzigen Satz, der immer wieder abläuft. Ich brauche dich.
Es ist dieser eine Satz, der Clarice wie ein Versprechen an mich bindet. Sie hat diese drei Worte an mich gerichtet und nun bin ich dafür verantwortlich, sie zur Wirklichkeit zu machen. Seufzend vergrabe ich den Kopf in den Händen, raufe mir die Haare. Im Hintergrund höre ich das Ticken der massiven Standuhr, der Stundenzeiger ist längst über seinen höchsten Punkt hinweg. Meine Zeit ist begrenzt.
Ich erhebe mich vom Diwan und greife nach der Ledertasche aus Xanthios Zimmer, um mir meine Wurfmesser zu holen. Als ich die Hände in den Tiefen der Tasche versenke, spüre ich die harten Kanten meines Notizbuchs unter den Fingern. Ich zögere, dann schließe ich die Tasche und hänge sie mir über die Schulter.
Die Stiefelsohlen quietschen unter meinen Füßen, als ich in den Flur hinaustrete. Immer noch höre ich das unaufhaltsame Ticken der Uhr in den Ohren. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, ins Wohnzimmer zurückzukehren, mir die Schuhe von den Füßen zu streifen, unter die Decke zu kriechen und mich dem erlösenden Schlaf hinzugeben. Panduks Worte dröhnen mir als Antwort durch den Kopf, mein Herz trommelt gegen meinen Brustkorb, als ich einen schwarzen Mantel, der wahrscheinlich Clarices Vater gehört, von einem Garderobenhaken nehme und hineinschlüpfe.
„Darf ich fragen, was das wird, Arkyn?"
Ich fahre herum, der Riemen der Ledertasche rutscht mit von der Schulter und sie fällt zu Boden. Mein Blick gleitet zum oberen Treppenabsatz, wo Clarice zu mir herabblickt. In ihrem knielangen, weißen Nachthemd sieht sie aus wie ein Gespenst. Ihr Haar fällt ihr in weichen Wellen über die Schultern, die Wangen sind gerötet.
„Nein, darfst du nicht", maule ich und hebe die Tasche wieder auf. Ich bin aufgeflogen und nun erwartet sie eine Erklärung. Ich höre ihr zorniges Schnauben und das Knarren der Stufen, als sie herunterkommt. Genervt reibe ich mir über Stirn und Augen. Was bleibt mir denn schon über?
„Ich wollte die Sache mit Xanthio regeln", gebe ich zu, auch wenn es sich verdammt dämlich anhört.
„Die Sache mit Xanthio regeln? Und wie hast du dir das bitte vorgestellt?", schnaubt sie und verschränkt die Arme vor der Brust. Obwohl es dunkel ist, erkenne ich das zornige Funkeln ihrer Augen. Ich seufze. Panduk trägt die Schuld, sie hat mir die Flause in den Kopf gesetzt, doch das kann ich nicht zugeben.
„Königin Charis weiß sowieso, dass wir in Satied sind. Früher oder später wird sie uns finden. Wir können wenigstens mit etwas Würde bei ihr auftauchen, um einen Pakt auszuhandeln. Zumindest, bis sie die Stadttore schließen lässt", versuche ich, mich zu erklären.
„Die Stadttore schließen?", meint Clarice tonlos und nun ist es die blanke Panik, die in ihren Augen aufblitzt. Ich weiß, was sie denkt: Satieds Stadttore werden nicht geschlossen. Sie stehen offen für jeden, der eine Bleibe sucht. Wie sie bin ich hier aufgewachsen und weiß nur zu gut, dass die Straßen stinken, dass es laut ist und die Viertel im Westen gemieden werden sollten, aber auch ich könnte mich an kein einziges Mal erinnern, an dem die Tore verschlossen wurden. Ich kann verstehen, dass ihr meine Worte das Herz brechen.
„Wenn das so ist, dann sind wir auch Zuhause nicht mehr sicher", stellt sie fest. Bei dem Wort Zuhause zucke ich zusammen. Dieses Haus ist ihr Zuhause, aber nicht meins. Für mich ist es nur ein Gebäude im Südviertel Satieds mit Garten und Blick aufs Meer, großen Gästezimmern und ohne jegliche Erinnerungen.
„Richtig erkannt", sage ich schließlich, ein Hauch Ironie schwingt in meiner kühlen Stimme mit, „Was haben wir also zu verlieren?"
Sie lacht trocken. „Unser Leben? Wir haben keinen blassen Schimmer, was passieren wird, wenn wir uns ihr stellen. Das wäre wahnsinnig, Arkyn."
Sie lässt sich auf der untersten Stufe nieder und umklammert die Knie mit den Armen.
„Die Königin hat sich aber ganz schöne Mühe gemacht, um Xanthio und deine Eltern zu bekommen, was bedeutet, dass du nicht völlig nutzlos für sie sein kannst."
„Vielen Dank auch", schnaubt Clarice, aber ich merke, wie sie darüber nachdenkt. Schweigend warte ich und zähle die schwarzweißen Fliesen, die zwischen uns liegen. Es sind zwölf.
„Vielleicht hast du Recht", räumt Clarice schließlich ein, „Immerhin haben wir auch genau die Information, die Charis im Moment am dringendsten braucht."
Als ich fragend die Stirn runzle, entweicht ihr ein leises Lachen.
„Dass du daran noch gar nicht gedacht hast, Arkyn", wispert sie tadelnd, bevor sie mir verrät, was sie meint, „Die Schattenwesen."
Endlich fällt der Groschen. Wie konnte mir das nur entgehen? Die Gestaltenwandler sind im Moment noch keine akute Bedrohung, aber mit dem Freilassen der Schattenkreaturen wollten sie das Land schwächen. Weil Clarice und ich alle bekannten Informationen über diese Wesen bei den Gestaltenwandlern gelernt haben, sind wir praktisch zwei wandelnde Informationsbunker. Wir sind genau das, was die Königin braucht.
„Lass uns morgen mit den anderen darüber sprechen, in Ordnung?", schlägt Clarice vor und erhebt sich gähnend, „Und zieh den Mantel von meinem Vater aus."
Ich schäle mich aus heraus und hänge ihn zurück an den Haken.
„Gute Nacht, Arkyn", flüstert sie mir zu und mustert mich schweigend, dann dreht sie sich um und huscht die Treppe hinauf. Mein Blick folgt ihr, bis sie am oberen Ende angekommen ist. Dann verschwinde ich wieder im Wohnzimmer.
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Gleißendes Morgenlicht reißt mich aus einem seichten Schlaf ohne jegliche Träume. Ich blinzle und setze mich verschlafen auf. Am Fenster erblicke ich Janaes roten Lockenkopf. Sie ist gerade dabei, die Vorhänge aufzuziehen, die Clarice gestern alle mühsam zugezogen hat.
„Clarice hat Frühstück gemacht", teilt sie mir mit, „Falls du Hunger hast."
Wie auf Kommando knurrt mein Magen und ein glockenhelles Lachen entweicht der Krankenpflegerin. Ich danke ihr schnell, bevor ich den Raum verlasse und dem unglaublichen Duft nach Kannamarmelade und Rührei folge, der mich ins Esszimmer führt.
Panduk sitzt bereits auf der Bank, ihr rechtes Knie blitzt über der Tischkante hervor. Als ich den Raum betrete, ist sie gerade dabei, sich einen Riesenbissen Rührei in den Mund zu stopfen.
„Setz dich doch", meint Clarice vom anderen Ende des Tisches, wo sie an einem mit gelboranger Kannamarmelade bestrichenen Brot kaut. Zögernd setze ich mich zu ihnen und lasse mir von Clarice einen Teller Rührei zuschieben. Nach einer Weile stößt auch Janae zu uns, die gutgelaunt irgendetwas erzählt. Ich höre ihr nicht einmal mit halbem Ohr zu.
„Wir müssen euch etwas erzählen", unterbricht Clarice sie schließlich und ich horche auf. Auch Panduk scheint innezuhalten.
„Arkyn und ich haben darüber nachgedacht, uns heute der Königin zu stellen."
Es ist so still, man könnte eine Feder zu Boden segeln hören. Janaes Blick wandert fassungslos zwischen Clarices und meinem Gesicht hin und her, Panduk starrt schweigend auf ihren Teller.
„Und was soll das bringen?", fragt Janae vorsichtig und lehnt sich verwirrt zurück.
„Wollt ihr etwa für immer hierbleiben und warten, bis das alles vorbei ist?", werfe ich ein, meine Stimme klingt bitter, „Clarice und ich haben genau die Informationen über die Schattenwesen, die Charis braucht. Irgendetwas müssen wir ja tun."
Clarice nickt zustimmend und als Panduk den Kopf hebt, warten wir alle insgeheim auf ihre Worte. Ich gebe es ungern zu, aber ihre Meinung ist wichtig, immer durchdacht.
„Ich halte das für keine schlechte Idee", sagt sie und legt ihre Gabel auf den leeren Teller, „Aber Janae und ich werden hierbleiben. Wir können nicht alle gehen."
Ich weiß, dass sie das sagt, um sich selbst aus der Sache rauszuhalten, aber trotzdem hat sie Recht. Vorerst können wir Königin Charis nicht vier Gestaltenwandler aufdrängen. Clarice und ich müssen so unentbehrlich für sie werden, dass wir mit unserem Wissen und den nötigen Informationen auch die anderen schützen.
„Nach dem Frühstück werden wir aufbrechen", stellt Clarice fest und es klingt, als hätte sie das Schlusswort gesprochen.
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„Geht das nicht etwas schneller?", dränge ich, was mir bloß einen strengen Blick von Clarice erntet. Janae steht hinter und flechtet ihr das lange Haar zu einem kunstvollen Zopf, was eine halbe Ewigkeit dauert.
„Wir müssen einen guten Eindruck bei der Königin hinterlassen", schimpft Clarice, „Und ich werde sicher nicht wie ein wandelndes Gestaltenwandlerklischee oder ein Obdachloser auftauchen."
Sie sieht mich herausfordernd an und ich grinse. „Willst du damit sagen, dass ich wie ein Obdachloser aussehe? Dann musst du dich aber bei Xanthio beschweren, immerhin trage ich seine Sachen."
Sie mustert mich mit zusammengekniffenen Augen und mir wird ganz mulmig zumute, als sie ihren Blick von meinem Kopf bis hinunter zu meinen Füßen wandern lässt.
„Nein", sagt sie schließlich, „Nein, du siehst gut aus. Und jetzt hilf mir mit diesen verdammten Knöpfen."
Sie streckt mir ihre rechte Hand hin, an deren Innenseite zwei Knöpfchen die langen Ärmel ihres Kleides zieren. Zögernd greife ich danach und schließe zuerst die Knöpfe am rechten Ärmel, dann die am linken. Als ich ihre Hand loslasse, kreuzen sich unsere Blicke. Ihrer ist sanft und irgendwie ein bisschen erwartungsvoll. Ich denke darin, wie ich sie gestern geküsst habe und mein Magen krampft sich zusammen. Scheiße, wieso habe ich das getan? Weil du es wolltest, höhnt eine Stimme in meinem Inneren, und wenn du könntest, würdest du es wieder tun. Ich bücke mich, um meine Schuhe zuzubinden.
„Passt gut auf euch auf!", meint Janae, als die Frisur fertig ist, und drückt Clarice an sich. Ich öffne bereits die Haustür und trete hinaus auf den Kiesweg. Nebel kriecht über das satte Grün des Rasens, greift nach meinen Händen und umschlingt meine Beine. Ich vergrabe die Fäuste in den Manteltaschen und ziehe den Kopf ein. Satied am Morgen ist wie ein kalter Regenguss. Ungemütlich. Clarice erscheint im Türrahmen und hüpft die Stufen, bevor wir uns auf den Weg machen. Wir überqueren die Straße und huschen in eine Seitengasse.
Satieds Straßengewirr verschluckt uns und spuckt uns erst wieder am Stadttor aus, das von zwei Wachmännern im Blick gehalten wird. Eine kleine Menge an Ausreisenden hat sich vor dem Tor versammelt. Vermutlich sind es Händler, die frühmorgens die Stadt verlassen wollen, um ihre Ware in Duniya zu verticken.
Als Clarice Anstalten macht, sich hinten anzustellen, packe ich genervt ihren Oberarm.
„Wir wollen uns der Königin stellen, Clarice. Dafür müssen wir ja wohl wirklich nicht anstellen", fahre ich sie etwas zu missmutig an.
Doch die Zeit für Einwände bleibt ihr nicht, kaum sind wir aus der Reihe getreten, werden die Wachmänner schon auf uns aufmerksam. Sie geben sich ein schnelles Zeichen, dann treten sie näher. Ich merke, wie Clarice tief Luft holt.
„Ich bin Clarice Ovun und –"
Bevor sie zu Ende sprechen kann, hat einer der Wachen sie bereits am Arm gepackt. Ein Zweiter ergreift mich. Während Clarice verzweifelt versucht, sich zu erklären, bricht unter den herbeigerufenen Wachmännern ein kleiner Tumult aus.
Es dauert nicht lange, da ist eine Kutsche organisiert wird, in die wir hineinbugsiert werden.
Aus Clarices Frisur haben sich die ersten Strähnen gelöst, ihre Augen sind weit aufgerissen, als könnte sie nicht fassen, was wir hier eigentlich tun. Ratternd setzt sich das Gefährt in Bewegung.
„Wo bringen die uns hin?", wispert sie und schiebt den kleinen Vorhang zur Seite, der das Rückfenster der Kutsche verdeckt.
„In den Palast natürlich. Das war auch unser Plan, du ... du Dussel", bringe ich etwas lahm hervor und lehne mich genervt von mir selbst zurück in die Rückbank.
Die Fahrt zum Palast vergeht wie im Flug, bald verlangsamt sich die Kutsche und hält dann schließlich ganz an. Die Tür wird aufgerissen und Clarice und ich treten ins Freie.
Auf der vorgelagerten Insel baut sich das Schloss der Königin in den Himmel. Das warme Morgenlicht spiegelt sich in den blitzblanken Fenstern, vereinzelter Goldstuck an den Außenwänden zwinkert mir verlockend zu. Jedes Kind in Satied kennt jede einzelne Verzierung, die Anzahl der Türmchen und Erkerfenster. Doch ich bin kein naives Kind mehr und der Anblick lässt mich kalt. Es ist, als wäre der Palast immer ein prächtiger, roter Apfel gewesen. Nun habe ich erkannt, dass er faulig ist.
Das Tor wird uns geöffnet, wenig behutsam schiebt man uns über die steinerne Brücke, die zum Palast auf der Insel führt. Kein Wort wird an uns gerichtet, als wir zum Haupttor des geführt werden. Mit den beiden bewachten Türmen und dem massiven Holztor erinnert der Eingang mich beinahe an die Stadtmauern Duniyas. Ein winziges, ins Tor integrierte Fenster öffnet sich und ein grimmiges Männergesicht mit kantigen Zügen blickt uns entgegen. Als er Clarice erblickt, verengen sich seine Augen zu schlitzen.
„Die Gesuchte und noch so ein Gesindel", brummt der Wachmann neben mir, der meinen Arm langsam aber sicher unter seinem festen Griff zerquetscht.
Die Klappe wird geräuschvoll geschlossen, im nächsten Moment öffnet sich tatsächlich das Tor und wir werden durch einen Gang bugsiert und durch ein weiteres Tor geschoben, bevor man uns in eine gigantische Eingangshalle führt. Wir scheinen das Kerninnere des Palasts betreten zu haben und vor lauter Erleichterung rutscht mir beinahe das Herz in die Hose.
Doch bevor ich die Räumlichkeiten genauer inspizieren kann, wird mir ein schwarzes Stück Stoff um die Augen gebunden. Clarice scheint es genauso zu gehen, denn als der Stoff an unseren Hinterköpfen festgezurrt wird, zuckt sie neben mir zusammen.
Der Wachmann lacht kehlig.
„Hättet euch wohl gerne etwas umgeschaut, was?", bellt er und ich werde nach vorne gestoßen. Gerade noch kann ich mich fangen.
„Schaut nach, ob sie bewaffnet sind!", bestimmt einer der Männer und im nächsten Moment wird mein Körper abgetastet. Bei dem Gedanken, dass diese Wachen auch Clarices Körper berühren, sträubt sich alles in mir, aber ich versuche Ruhe zu bewahren.
Nachdem die Wachen keine Waffen gefunden haben, werden wir wieder an den Armen gepackt und weitergeschleift. Eine schiere Ewigkeit wandern wir durch das Ganggewirr des Palastes. Die ersten sieben Abbiegungen kann ich mir noch einprägen, aber irgendwann schaltet sich mein Gedächtnis aus und ich muss aufgeben. Als wir endlich anhalten und uns die Binden abgenommen werden, lässt die plötzliche Helligkeit meine Augen tränen. Ein Pochen erklingt, als der Wachmann an einer Tür klopft und nach der Königin fragt. Mein Blick gleitet den Gang hinunter, an dessen Seitenwänden in regelmäßigen Abständen Wachmänner aufgestellt sind. Das ist kein Palast, fährt es mir durch den Kopf, das ist eine verdammte Festung.
Ein zartes Herein ertönt aus dem Inneren des Raumes und der Wachmann stößt die Flügeltür auf. Die Wachen führen uns auf Kopfnicken der Königin hin auf den roten Samtteppich, der den gesamten Marmorboden auskleidet. Mintgrüne Vorhänge flattern leicht im Windzug des gekippten Fensters, ansonsten ist die Dekoration in Goldtönen gehalten. Goldene Kerzenhalter an den Wänden, goldener Stuck als Verzierung und auch das blonde Haar der Königin schimmert golden im Kerzenlicht. Sie steht auf einer plateauartigen Zwischenebene, wo sich ein wuchtiger Holztisch mit Stuhl befindet.
Als sie uns sieht, fällt ihr nicht wie erwartet die Kinnlade hinunter, sondern sie blickt bloß schweigend zwischen Clarice und mir hin und her. Sofort ist mir klar, dass sie bereits informiert wurde, während Clarice und ich mit Tüchern vor den Augen durch den Palast geirrt sind. Wahrscheinlich sind die Wachen extra ein paar Umwege mit uns gegangen.
Lächelnd kommt die Königin die breite Marmortreppe herunter. Der cremeweiße Stoff ihres Kleids vermischt sich mit den gleichfarbigen Stufen, ihr Haar fällt ihr über die Schultern wie flüssiger Honig.
„Clarice", sagt sie und der Klang ihrer Stimme ist warm und einlullend, „So schnell sieht man sich wieder."
Sie lächelt und ihre Zähne blitzen auf. In ihren markanten Gesichtszügen und den blauen Augen erkenne ich die Ähnlichkeit zu ihrer Schwester Zinariya, aber ansonsten scheinen die beiden grundverschieden zu sein. Clarice versinkt in eine tiefe Reverenz und nach kurzem Zögern verbeuge auch ich mich.
„Eure Hoheit, wir sind hierhergekommen, um zu reden."
„Wie aufmerksam", meint die Königin und seltsamerweise klingt es kein bisschen ironisch, „Tatsächlich gibt so Einiges, über das wir beide sprechen müssen."
Sie deutet den Wachen, den Raum zu verlassen, sodass nur noch zwei Männer, die mit Speeren die Tür bewachen, hierbleiben. Teilnahmslos starren sie ins Leere. Charis räuspert sich.
„Nun, Clarice, erzähl mir, wie es sich zutragen konnte, dass mein Land nur zwei Monate, nachdem du zu meiner Spionin geworden bist, im Chaos erstickt."
Ihre Stimme hat ihre Lieblichkeit immer noch nicht verloren, aber ich höre den ersten Hauch von Bedrohung heraus, der mich daran erinnert, dass wir vor der mächtigsten Frau dieses Landes stehen.
„Ich habe es tatsächlich in das Anwesen der Gestaltenwandler im Schattenwald geschafft", beginnt Clarice, „Sie lebten dort ziemlich zivilisiert und ich konnte mich gut anpassen. Nach nur wenigen Wochen habe ich es geschafft, in den Rat aufgenommen werden. Der Rat ist praktisch die Quelle aller Informationen. Bis zum Schluss konnte ich meine Tarnung als Spionin gehalten."
Clarice holt tief Luft, aber Charis hebt die Stimme, bevor sie fortfahren kann.
„Und wieso, im Namen der Göttinnen, sind die Gestaltenwandler dann nicht mehr im Schattenwald, wo sie hingehören? Wie trägt es sich zu, dass unser Land von den Schattenwesen heimgesucht wird, die von diesem Gesindel freigelassen wurden?", zischt die Königin und ihr Zorn bricht frei. Der Wind bläht die Vorhänge im Hintergrund. Ich räuspere mich, doch Charis hebt die Hand, um mich zum Schweigen zu bringen.
„Ich weiß nicht, wie sie es schaffen konnte, aber Zinariya hat die Wahrheit über mich erfahren", wispert Clarice, die Augen groß wie zwei Unterteller, „Ich wollte fliehen, aber wurde erwischt. Mit meiner Hilfe konnten die Gestaltenwandler freikommen."
Charis makelloses Gesicht verzerrt sich zu einer schmerzerfüllten Fratze, als würde es ihr unendlich viel Kraft kosten, die Wahrheit zu erfahren.
„Du hast also meiner Schwester und ihrer Bande an Gesindel zur Flucht verholfen?", stellt sie fest, ihre Stimme zittert. Ist es Wut oder die Realisation?
„Ich weiß, dass ich Schuld trage", entfährt es Clarice, Tränen glitzern in ihren Augenwinkeln, bevor sie sich lösen und ihre geröteten Wangen hinunterrollen.
„Und wer ist das hier?", seufzt Charis, als wäre sie mehr enttäuscht als wirklich erzürnt.
„Ein Verbündeter", sage Clarice bloß und die Königin nickt, auch wenn ihre Augen nicht gerade vor Begeisterung sprühen.
„Clarice, du hast mein Vertrauen missbraucht und dein Land verraten", fährt Charis fort, ihre Stimme ist zärtlicher denn je, „Ihr werdet die nächsten Tage hier verbringen und ich hoffe wirklich, dass wir auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Denn du hast etwas, was ich sehr dringend brauche und ich habe etwas, was du sehr liebst. Verstehst du das?"
Sie hakt nach, als wäre Clarice ein Kleinkind und ich kann mir ein Schnauben nicht verkneifen, das die Königin geflissentlich ignoriert.
Als sie mit den Fingern schnippt, lösen sich die beiden Wachen von der Tür und treten näher.
„Bringt sie weg", meint die Königin bloß und ihr Lächeln entblößt eine Reihe perlweißer Zähne, „Getrennt."
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