Kapitel II
Die Nacht ist still und klar, kurz bevor das Chaos ausbricht. Es ist, als würde sie stehen bleiben und für einen Moment über dem Abgrund taumeln, bevor sie endlich stürzt und zerschellt.
Dann bricht Tumult aus. Stimmengewirr und erstickte Rufe erfüllen die Luft. Bevor ich ihre Stimme höre, weiß ich, dass sie in Gefahr ist. Ich kämpfe mich auf die Knie; meine Arme kann ich nicht benutzen, so fest sind sie hinter meinem Rücken zusammengeschnürt. Die Augenbinde raubt mir die Sicht, aber auf meine Ohren ist Verlass und was sie hören, klingt nicht gerade gut. In meinem Kopf gehe ich alle Möglichkeiten, die ich habe, durch, aber ich finde keine bessere, als still zu bleiben und zu warten.
Doch ich muss mich nicht lange gedulden, wie immer erreicht mich das Unglück wie eine dunkle Gewitterwolke. Schon an den schroffen Schritten, die sich nähern, erkenne ich, dass es die Königin höchstpersönlich ist. Eine Tür wird aufgerissen und wenig später zieht sie mir die Augenbinde vom Kopf. Goldenes Fackellicht blendet mich und lässt den Raum um mich herum milchig weiß erscheinen. Es ist eine winzige Hütte, nur aus einem Zimmer bestehend und nicht möbliert. Die blitzende Klinge eines Messers taucht in meinem Augenwinkel auf und wenige Sekunden später bin ich von meinen Fesseln befreit.
„Stell ja keine Dummheiten an, Arkyn", faucht Zinariya und ich spüre die Messerspitze in meinem Rücken.
Ich könnte ihr das Messer in einem Überraschungsmoment leicht entwenden, aber da ich weder weiß, wohin ich gebracht werde, noch wo Clarice sich befindet, entscheide ich mich dagegen. Die Königin bugsiert mich ins Freie und als die kalte Nachtluft meine Lungen füllt, kann ich nicht anders, als mich das erste Mal seit langem lebendig zu fühlen.
Ich nutze die Situation, um mich umzusehen, aber der Ort ist nur durch wenige Fackeln beleuchtet. Ich erkenne windschiefe, morsche Holzhäuser, die sich eng aneinanderdrücken, um den pfeifenden Wind standzuhalten. Wir befinden uns irgendwo in Duniya, wahrscheinlich nur zwei oder drei Tagesmärsche vom Schattenwald entfernt und nahe an einem Gewässer, was mir das stetige Rauschen im Hintergrund verrät.
In der relativ kurzen Zeit, die wir uns erst hier befinden, wäre es den Gestaltenwandlern niemals möglich gewesen, ein ganzes Dorf voller Hütten aufzubauen.
Zinariya schiebt mich in Richtung des größten Hauses der Siedlung, das die anderen ein Stück überragt. Obwohl es noch am besten von allen aussieht, lassen die kaputten Fenster im ersten Stock und die Schlingpflanzen, die die Fassade hinaufkriechen, darauf schließen, dass es seit Jahren nicht mehr bewohnt wurde. Die anderen Gestaltenwandler haben also weder ein ganzes Dorf errichtet, noch ein bereits Erbautes geplündert.
Wie Schuppen fällt es mir von den Augen.
Wir befinden uns in Fatalwa, einer Geisterstadt im Osten Duniyas.
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„Hier rein!", befiehlt Zinariya, kaum habe ich den Gedanken zu Ende gedacht, und ich werde geradewegs durch eine breite Flügeltür aus massivem Holz in das größere Haus geschubst.
Das Knarzen der Dielen unter unseren Füßen mischt sich mit dem Knacken eines Feuers, das gefährlich im Kamin lodert und das Hausinnere erstaunlich warmhält. Bis auf ein breites Regal, das sich unter der Last verstaubter Bücher biegt, ist der Raum leer.
Auf einmal ertönen Rufe aus dem ersten Stock und ich nutze die Sekunde der Unaufmerksamkeit, um ungesehen eine Packung Streichhölzer, die auf dem Kaminsims liegt, in meine Hosentasche gleiten zu lassen. Kaum lassen meine Finger die eckigen Kanten des Schächtelchens los, hat mich Zinariya schon wieder gepackt. Grob drängt sie mich zu der morschen Holztreppe, die in den ersten Stock hinaufführt.
„Erste Tür rechts", zischt die Königin, als wir oben ankommen, und ich lege die Finger um einen eiskalten Türknauf.
Neunzehn Paar Augen blicken mir entgegen und mein Blick gleitet kurz über die anderen Gestaltenwandler hinweg, bevor er von ihrem angezogen wie ein Magnet. Das blonde Haar ist ungekämmt und ihre sonst so elfengleiche Haut schmutzig. Sie sieht verloren in ihren Kleidern aus. Beinahe so, als würden die Sachen sie tragen und nicht umgekehrt.
Ich habe sie gezählt. Zwölf Tage sind seit unserer Flucht aus dem Schattenwald vergangen, mein achtzehnter Geburtstag und das Neujahrsfest Karshe sind klanglos an uns vorbeigezogen. Zwölf Tage in Gefangenschaft; sie starrt mich aus ihren erschrocken geweiteten Augen an und ich frage mich, wie ich innerhalb von zwölf Tagen vergessen konnten, wie intensiv das Moosgrün in ihnen ist.
Ich wende den Blick ab, als ich eine Messerklinge im Rücken spüre.
„Verehrte Ratsmitglieder", beginnt die Königin, „Wir haben uns heute hier versammelt, weil es an der Zeit ist, eine Entscheidung zu treffen."
Die Ratsmitglieder nicken ehrfürchtig und ich fühle mich zurückversetzt in die Zeit, als Clarice und ich selbst zu ihrer Gruppe gehörten. Die gemeinsame Verbundenheit scheint sich in Luft aufgelöst zu haben. Außerdem hocken wir längst nicht mehr im Anwesen der Gestaltenwandler im Schattenwald. Jetzt haben die verehrten Ratsmitglieder alle denkbaren Sitzmöglichkeiten angeschleppt und in einem Kreis angeordnet. Sessel, Schemel, Sofas und Schaukelstühle; wahllos zusammengewürfelt.
„Setz dich zu ihr!", befiehlt mir die schneidende Stimme der Königin und sie versetzt mir einen kleinen Schubs in die Mitte des Kreises. Ich spüre die Blicke der Ratsmitglieder auf mir. Obwohl ich seit einer Ewigkeit nicht mehr die Gelegenheit hatte, in einen Spiegel zu blicken, kann ich mir doch bildlich vorstellen, was sie sehen. Eine Wunde über der rechten Augenbraue, verkrustetes Blut unter der Nase und ein bereits abheilendes Veilchen.
Schweigend lasse ich mich neben Clarice auf ein modriges, einst wohl himmelblaues Sofa fallen. Das erste Mal seit einer Ewigkeit sind wir wieder zusammen, ich spüre ihre Schultern an meiner. Keiner von uns wagt einen Blick in die Richtung des anderen. Keiner spricht es aus, doch ich fühle die Reue eines jeden von uns. Sie hat Duniya ins Verderben gestürzt, ich habe den Gestaltenwandlern das Messer in den Rücken gestoßen. Wir beide hassen uns dafür.
Ich lasse den Zorn nicht die Oberhand gewinnen. Stattdessen mustere ich die Ratsmitglieder, die uns feindselig betrachten; die Arme verschränkt und die Lippen angewidert gekräuselt. Leises Tuscheln schwillt an und füllt den Raum wie das Summen von angriffslustigen Wespen. Königin Zinariya sitzt uns gegenüber in einem riesigen, schmutziggrauen Lehnstuhl und betrachtet die Situation aufmerksam. Sie räuspert sich kurz und als sie zu sprechen beginnt, verstummt das Wispern augenblicklich.
„Ich habe in den letzten Tagen beobachtet, wie einige unter uns, Gestaltenwandler unseresgleichen, versucht haben, Kontakt zu den Gefangenen aufzunehmen. Wir haben uns nicht aus der jahrhundertelangen Verbannung befreit, um uns mit diesen Verrätern herumzuschlagen. Sie haben ihren Zwecken erfüllt, jetzt haben sie keinen Nutzen mehr für uns."
Clarice sinkt in sich zusammen wie ein Häufchen Elend, die Haare fallen ihr vors Gesicht wie ein Schleier, während ich meinen Blick entschlossen durch die Runde gleiten lasse. Er bleibt schließlich an Panduks haselnussfarbenen Augen hängen, die mich kritisch mustern. Sie sieht Clarice an, dann wieder mich und hebt die Augenbrauen. In mir brodelt es, tausende Flüche und Schimpfwörter liegen mir auf der Zunge, aber ich halte den Mund. Ich möchte nicht eine weitere Tracht Prügel verpasst bekommen. Also erwidere ich Panduks Blick, nicht bereit, ihn als erstes abzuwenden. Panduk ist auch ein Ratsmitglied, aber im Gegenteil zu mir hat sie nicht den Fehler gemacht, einer Spionin von Königin Charis auf die Schliche zu kommen und sie dann aber nicht zu verraten. Panduk hätte Clarice sofort bei Zinariya auffliegen lassen, aber ich war so dumm, es nicht zu tun. Das hast du jetzt davon, wispert die erzürnte Stimme in meinem Inneren, du bist ein Verräter. Ich kann nicht fassen, dass die Anhänger der gefürchtetsten Gabe den Fängen ihrer Verbannung entkommen konnten. Und ich bin nicht auf ihrer Seite, stehe nicht an meinem rechtmäßigen Platz. Ich bin ein bedeutungsloser Gefangener, ein Risiko, das vermeidbar ist.
„Könnte uns Clarice nicht nützlich sein, um an Informationen über Charis zu gelangen?", fragt ein Mitglied und eine heftige Diskussion bricht aus.
Königin Zinariya hebt das Wort. „Laut einer Prophezeiung meiner Schwester soll sie Duniya vor uns retten, aber sie wurde als Spionin in den Schattenwald geschickt, als sich herausstellte, dass sie selbst Gestaltenwandlerkräfte hat. Clarice ist nur eine Spielfigur im Leben meiner Schwester. Und wenn sie tot ist, dann gibt es niemanden, der Duniya retten kann."
Mir wird übel, als der Applaus anschwillt. Die Ratsmitglieder grinsen hämisch, trampeln mit den Füßen auf den krachenden Holzboden und klatschen in die Hände.
„Wir werden aber auch keine Verräter unter uns erdulden", fährt die Königin fort und als ihre eisblauen Augen meine treffen, hebt sie die Augenbrauen, „Wenn das Mädchen stirbt, stirbt er auch."
Clarice zuckt zusammen, als hätte der Blitz sie getroffen und als sie mich aus ihren riesigen Augen ansieht, wird mir schwindelig. Du hast es verdient, kreischt meine innere Stimme, du hast es verdient, zu sterben. Ich bleibe ruhig, mit den Neuigkeiten war sowieso zu rechnen. Gefangene, egal welcher Art, bleiben selten besonders lange Gefangene.
Mit einem Räuspern zieht die Anführerin der Gestaltenwandler die Aufmerksamkeit wieder zurück zu sich.
„Aber genauso, wie Clarice Arkyn um den Finger gewickelt hat, hat sie es auch geschafft, andere auf ihre Seite zu ziehen. Jedem, der sich von ihr manipulieren lässt, droht das gleiche Schicksal wie ihr", meint die Königin und fährt fort, „Ich habe in den letzten Tagen immer wieder beobachtet, wie unsere eigenen Leute zu der Gefangenen Kontakt aufgenommen haben. Ich habe mir erlaubt, fünf Verdächtigte, die schon im Schattenwald eine Freundschaft zu Clarice entwickelt haben, hierher bringen zu lassen."
Zinariya hebt die Hand und gibt Panduk ein Zeichen, die sich lässig erhebt und aus dem Raum verschwindet. Ich höre die Tür zum Nebenzimmer schlagen und wenig später kommt sie mit den fünf Verdächtigen zurück.
Eng zusammengedrängt stehen sie in der Mitte des Kreises und ihre aufgescheuchten Blicke wandern durch den Raum. Das Tuscheln erreicht sein Maximum und die Königin muss die Hände zusammenklatschen, um wieder für Ruhe zu sorgen.
Clarice hat erschrocken die Hände vor den Mund geschlagen, als sie erkennt, wer die Verdächtigten sind und ich spiele kurz mit dem Gedanken, beruhigend ihren Arm zu drücken. Weil Panduks Blick immer noch hämisch auf mir liegt, lasse ich es bleiben.
„Chase, Kwit, Magretta, Janae und Xanthio", beginnt die Königin, „Ihr seid verdächtigt, euch auf die Seite der Verräter geschlagen zu haben, von den Plänen Bescheid gewusst zu haben und den Gefangenen geholfen zu haben."
Chase lacht trocken, sein Kiefer malmt unaufhaltsam. Ich spüre, wie Wut in mir aufkocht, heiß und unnachgiebig. Bis auf Chase, der seit meiner Ankunft bei den Gestaltenwandlern mein Jagdgefährte und so etwas wie ein Freund gewesen ist, kenne ich die vier Verdächtigten nur vom Sehen.
„Das ist doch lächerlich", sage ich und Spott trieft aus meiner Stimme, als wäre Zinariyas Gedanke, mögliche Mittäter zu entlarven, einfach nur kindisch.
„Das hast du nicht zu entscheiden", zischt die Königin und erhebt sich.
„Diese Menschen haben nichts anderes getan, als ihre Arbeit", entrüstet Clarice sich, „Chase war nur mit uns auf der Jagd und auch mit den anderen hat uns nur der Zufall verbunden."
Zinariya setzt sich wieder und legt die Stirn in Falten, während sie unsere Worte abwägt. Totenstille herrscht im Raum.
„Chase und Kwit, ihr könnt gehen", meint sie schließlich und die beiden verlassen erleichtert den Raum. Chase mit hocherhobenem Haupt und der mollige Koch Kwit ängstlich zitternd wie ein Mäuschen. Ich frage mich, wie die Königin auf die Idee kommen konnte, er hätte irgendetwas mit dieser ganzen Sache zu tun.
„Was euch anbelangt", meint Zinariya und betrachtet die übrigen drei Verdächtigten aus ihren eiskalten Augen, „Ihr habt bereits in der Verbannung enge Freundschaften zu Clarice aufgebaut und seid so weit gegangen, eure Mitmenschen zu hintergehen und zu verraten. Ihr habt die Gefangenen versorgt und ihnen geholfen, obwohl es euch verboten war und das ist Hochverrat. Ihr werdet morgen früh alle fünf hingerichtet und als Verräter sterben."
Mein Blick flattert verwirrt zu Clarice, deren Gesicht sich immer noch hinter einem Schleier ihrer Haare verbirgt, bevor er weiter zu Panduk schießt. Ihre Augen glänzen wie zwei Haselnüsse, während Clarices leises Schluchzen sich mit dem lauten Klatschen der Ratsmitglieder mischt. Panduk applaudiert nicht, aber dass sie sich in ihren Stuhl zurücklehnt, als würde sie das alles nichts angehen, macht mich noch rasender.
Meine alten Gefährten stehen vielleicht nicht mehr auf meiner Seite, aber was die Enttäuschung noch heftiger in mir aufflammen lässt, ist, dass Clarice ihre Freunde kein einziges Mal zu mir geschickt hat, während sie sich von ihnen helfen ließ.
Vielleicht ist es wahr, dass Clarice eine Spielfigur im Leben von Königin Charis ist, aber dann bin auch ich eine. Dann bin ich eine Spielfigur in ihrem Leben und sie schiebt mich über das Schachbrett, als wäre ich ein Bauer, den es zu opfern gilt.
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