Estera überprüft zum dritten Mal meine Ausrüstung und die Funktionen meines Anzugs.
„Hast du Munition? Wundkleber? Spuckgift?" Ich nicke jeden Punkt ab. Vor allem der letzte ist ihr wichtig. Eine neue Erfindung aus ihrem Labor. Kleine Kapseln, die man im Mund verstecken kann und bei Bedarf aufbeißen, um einem Gegner das Gift entgegenzuspucken. Im Speichel ungefährlich, reagiert es bei Hautkontakt und fügt dem Angespuckten schwere Verätzungen zu. Besonders in der Augenpartie äußerst unangenehm. Weil tödlich. Hätte ich die gehabt, als ich gefesselt auf dem Stuhl saß, hätte ich damit die Gorillas von Leo und Dorrit ausschalten können. Dieses Mal werde ich für so einen Fall gewappnet sein. Auch wenn so eine Situation sicherlich nicht auf mich wartet. Vielleicht werde ich eine Gelegenheit bekommen, Leo und Dorrit damit meine Verachtung ins Gesicht zu spucken.
Oder Kaz bekommt eine Ladung davon ab.
Auch wenn der Gedanke nicht ganz so befriedigend ist, wie der davor. Ich sehe ihn an. Das arrogante Grinsen, das er mir zuwirft, werde ich ihm heute noch vom Gesicht wischen. Die selbstkontrahierenden Kabelbinder, die ich in meiner Manteltasche versteckt trage und das Extrapaar in der Unterarmtasche meines Anzugs habe ich für ihn reserviert. Obwohl ich auch keine Skrupel hätte, ihn zu töten. Wenn er Hand an Finnick legt, wird er zumindest keine Hand mehr haben. Ich grinse bei dem Gedanken ebenso arrogant zurück.
„Du bleibst bei Kaz. Keine-", ermahnt mich Estera und ich beende mit ihr zusammen im Chor „Alleingänge."
„Ist schon klar. Wir schalten unsere Wache aus, ihr eure, ihr schnappt euch die beiden Zielpersonen und fixiert sie. Kaz und ich kommen dazu, wenn die Luft rein ist und dann darf ich sie verhöhnen und umbringen." Beim vorletzten Punkt verzieht sie missbilligend den Mund, nickt aber alle anderen ab. Leandra zwinkert mir durch den Raum hinweg zu und ich lächle zurück. Hoffentlich passiert ihr nichts. Aber die Schlangen wollen niemanden töten. Das Problem wird sein, dass es bei den Schattentänzern genau andersherum sein wird und es dazu kommen könnte, dass den Schlangen, die Leandra festnehmen wollen, nichts Anderes übrigbleibt.
Ich erinnere mich noch einmal an den Abend mit Severin und Estera zurück. An die schwangere Frau. Das ist es, was Schattentänzer tun. Was wir alle tun. Also auch Leandra. Ich weiß, dass es wahr ist und trotzdem ist es so schwer anzunehmen. Dass ich mir selbst die Chance geben will, diesem Leben zu entfliehen, aber ihr und den anderen nicht. Vielleicht kann ich mit den Schlangen verhandeln. Ich werde es zumindest versuchen.
Meinen Rucksack schulternd mache ich mich bereit, das Haus zu verlassen und rufe den Aufzug.
*
„Du zuerst", zischt Kaz mir zu und hält mir seine verschränkten Hände zur Räuberleiter hin. Kaz ohne Konsequenzen mit Füßen treten zu dürfen, ist eine Einladung, die ich nicht ablehnen kann und so steige ich auf die improvisierte Stufe und lasse mich von ihm mit Schwung hochheben, um das Sims zu erreichen, das eben noch über unseren Köpfen war. Ich ziehe mich hoch, und strecke ihm dann eine Hand entgegen, um ihm zu helfen, die Wand zu erklimmen. Von hier ist es nur ein kleines Stück zum Dach, das wir ohne Probleme erklimmen.
Noch nicht. Noch nicht. Noch nicht. Dieses Mantra läuft in meinem Kopf ohne Pause im Hintergrund. Kaz und ich werden erst die Wache auf dem Dach ausschalten und sichergehen, dass die anderen drei Wachen auch erledigt sind, bevor wir in die Lagerhalle eindringen, die dann von den Schlangen gestürmt wird. Die neue Halle befindet sich ein paar Blocks südlich von Leos und Dorrits ursprünglichem Stützpunkt, sie sind also nach meinem letzten Versuch umgezogen. Und sie haben die Sicherheitsvorkehrungen verschärft. Jedoch nicht genug, um vor einer Mission wie dieser geschützt zu sein. Gibt es gerechte Rache? Denn diese Männer und die, die für sie arbeiten, aus dem Verkehr zu ziehen, fühlt sich verdammt richtig an.
Kaz gibt mir ein Zeichen und wir legen uns flach hin, um auf dem Bauch zum Rand des Daches zu robben und nach unten zu spähen, wo wie erwartet ein bulliger Mann in Tarnkleidung steht und vorgibt, die Lagerhalle zu bewachen. Dass er es lediglich vorgibt, erkenne ich daran, dass ich von hier die Innenseite seiner VR-Brille erkennen kann, auf der er Cartoons abspielt. Ich signalisiere Kaz, dass ich das Zeichen zum Sturm geben werde, er nickt knapp. Wir checken die Umgebung. Keine weiteren Wachen zu erkennen. Zur Sicherheit überprüfe ich alles noch einmal mit der Wärmebildkamera. An jeder der anderen drei Seiten der Halle ist eine weitere Wache postiert, an die sich jeweils kaum sichtbare Schemen anpirschen, die zu den anderen Schattentänzern in ihren klimatisierten Schleichanzügen gehören. Es sieht aus, als wären alle bereit und über das Interface der Anzugmaske erreichen mich die Okays der anderen, ich sende unseres und gebe Kaz das Zeichen.
Wir drücken uns vom Boden mit den Armen hoch und schwingen unsere Beine über den Rand des Daches. Die Wucht unserer Körper, die aus über zwei Metern Höhe mit ihren Stiefeln voraus in seinem Rücken landen, ist genug, um den Mann umgehend zu fällen. Er bleibt bewusstlos liegen. Mechanisch bin ich schon dabei, meine schallgedämpfte Pistole zu ziehen, um ihn zu erschießen, als ich innehalte. Was mache ich hier? Dieser Mann hat mir nichts getan. Vielleicht kann ich ihn fesseln und die Schlangen sich um ihn- Piu. Kaz hat nicht gezögert. Mit aufrichtigem Bedauern lasse ich ihn dort liegen, als wir unsere Enterhaken nutzen, um uns auf das gegenüberliegende Dach der Lagerhalle zu schwingen.
Jetzt müssen wir abwarten. Ich nutze den Moment, um Sona eine Nachricht zu schicken. Bei den Schlangen läuft alles nach Plan, sie warten in umliegenden Lagerhallen auf ihren Einsatz. Ich kontaktiere Finnick. Auch er bestätigt, dass bei ihm alles bisher gut gelaufen sei. Er warte auf mein Zeichen. Noch nicht. Noch nicht. Noch nicht. Ich beobachte via Wärmebild die Schemen der anderen Schattentänzer, die ihren Aufgaben nachgehen. Odo setzt über den Earpod seines und Esteras Wachmanns den Notruf ab, Leandra und Mirea postieren sich auf der einen und Severin, Estera und Odo auf der anderen Seite der Tür zur Lagerhalle. Kaz und ich beobachten vom Dach aus die Umgebung, um sicherzustellen, dass es keine unerwarteten Überraschungen gibt. Deshalb müssen die Schlangen noch warten, bis wir in der Halle sind.
Ein Dröhnen dringt nach oben. Die Tür schwingt auf. Scheinbar sind sie noch nicht lange in diesem neuen Unterschlupf, sonst würde sie sich geschmeidiger öffnen.
Ein verzerrtes Popp! und ein dumpfer Aufprall. Wache Nummer fünf ist auch tot. Hätte ich die Männer irgendwie retten können? Retten sollen? Vielleicht werde ich mich später dafür verantworten müssen. Das Noch nicht. Noch nicht. Noch nicht. wird nun doppeldeutig und ich rolle meine Augen über mich selbst. Aus der Lagerhalle sind gedämpfte Geräusche zu hören. Schüsse, ein Aufprall hier und da, das Klingen von Metall auf Metall.
Ich mache mich bereit, Sona und Finnick das Signal zu geben. Noch nicht. Noch nicht. Noch nicht. Die Worte hallen im Rhythmus meines beschleunigten Pulses durch meinen Geist. Kaz dreht sich zu mir. Die Masken verdecken zwar unsere Mimik, doch Kaz' grimmiges Halbgrinsen muss ich gar nicht sehen, um zu wissen, dass es da ist. Ich schlucke. Noch nicht. Noch nicht. Noch nicht. Dann kommt über die Maske das Zeichen von Estera und wir nicken einander zu. Mit Hilfe unserer Enterhaken seilen wir uns an der Seite des Gebäudes ab und huschen durch die Tür. Jetzt.
Ich denke das Wort nicht nur, sondern sende es auch an Finnick und die anderen Schlangen, als ich die Lagerhalle betrete. Sie sieht genau aus, wie auf unseren Plänen. Etwas staubiger als erwartet, aber das verstärkt meinen Eindruck, dass sie erst vor Kurzem hier untergekommen sind. Ich sehe mich genau um und versuche so viele Details meiner Umgebung wie möglich zu erfassen, um gleich, wenn der eigentliche Kampf losbricht, eventuell Vorteile zu haben. An den Stahlträgern und Säulen, die die Konstruktion der großen Halle ausmachen, blättert der dunkelgrüne Lack ab und darunter kommt Rost zum Vorschein.
Das Wärmebild führt uns in die hintere Ecke des großen Raumes, vorbei an Kistenstapeln und großen Maschinen, die mit vergrauten Tüchern abgedeckt sind, um sie vor Verfall zu schützen. Der Flugrost, den die sichtbaren Teile angesetzt haben, spricht dafür, dass es nicht so gut funktioniert hat. Holzpaletten und Kistenbretter liegen in manchmal ordentlichen Stapeln, manchmal umgekippten Haufen dazwischen. An einigen Stellen sind Spuren der Kämpfe zu sehen, die hier eben stattgefunden haben. Eine Schleifspur im Staub hier, Blutspritzer da und natürlich die Leichen der drei Wachmänner, an denen wir vorbeikommen. Ich höre ein leises Geräusch aus der Richtung, aus der wir kommen. Einer der Schlangen muss unvorsichtig gewesen sein. Kaz scheint nichts bemerkt zu haben. Trotzdem entscheide ich, für ihre Deckung zu sorgen und trete verächtlich gegen einen Palettenstapel, der umfällt.
Kaz schnellt zu mir herum und über die Maske erhalte ich eine Nachricht von Severin, was passiert sei. „Wir müssen doch jetzt eh nicht mehr leise sein. Dann muss ich auf diese Schrotthalde hier ja auch nicht aufpassen", sage ich, sodass es sowohl bei Kaz als auch über das Mikro gehört wird. Wobei sie mich vermutlich auch ohne Mikrofon hören konnten. Wir sind fast da. Gleich geht es los. Die letzte Kiste wird umrundet und da, gefesselt und von den andren Schattentänzern umstellt, sind die zwei Männer, die ich vor wenigen Wochen verfolgt habe. Die Männer, die meine Eltern ermordet haben. Die Männer, die ich jetzt eigentlich verschonen sollte.
Doch noch sind keine Schlangen hier. Ich könnte sie erschießen, ohne dass jemand herausfände, dass ich es war. Mein kurzes Zögern reicht jedoch aus, um meine düsteren Absichten zu vereiteln, da es plötzlich laut kracht. Ein Holzkistenstapel bricht von links in sich zusammen und von der Decke fällt eine ganze Gruppe bewaffneter Schlangen auf die Schattentänzer herab. Der Kampf geht sofort los. Ich bekomme noch mit, wie Sona Mirea in einen Messerkampf verwickelt und höre an Nyx' Schnauben, dass er auf Severin getroffen ist, bevor Kaz und ich das tun, was wir laut Notfallplan tun sollten: Abhauen.
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