Vielleicht werde ich ja nicht umgebracht.
Es gibt nur noch einen Ausweg. Eine geradezu nukleare Option. Mit zitternden Fingern drücke ich den unscheinbaren, aber lebenswichtigen Chip, der in mein Handgelenk integriert ist. Er ist für absolut lebensbedrohliche Notfälle gedacht. Dieses winzige Stück Technologie, mein letzter Rettungsanker, pocht leicht unter meiner Haut. Ich spüre das Adrenalin, das durch meinen Körper schießt, während ich darauf hoffe, dass dieser verzweifelte Schritt mich aus der Misere befreit. Meine allerletzte Möglichkeit zur Rettung. Die Sekunden ticken an mir vorbei, während der Mann meine DNA-Probe in einem Mini-Sequenzierer, wie ihn die Polizei unterwegs verwendet, analysiert.
70%
Die Ladeanzeige an dem Gerät füllt sich gnadenlos und meine Hoffnung schwindet, dass ich rechtzeitig hier herauskomme. Kalter Angstschweiß sammelt sich auf meiner Haut.
80%
Die blinkenden Lichter auf dem Gerät wirken wie das Ticken einer Uhr, die unaufhaltsam auf mein Ende zugeht. Jeder Atemzug fällt mir schwerer, als ob der Raum immer kleiner und enger wird.
92%
Mein Herzschlag donnert in meinen Ohren wie das Trommeln eines bevorstehenden Sturms. Ich mache mich auf das Schlimmste gefasst. Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen, und meine Hände zittern so sehr, dass ich sie kaum ruhig halten kann. Der Raum scheint sich um mich zu drehen, als ob ich in einem Strudel gefangen bin, aus dem es kein Entrinnen gibt.
95%
Auf der Straße kommt es mir immer endlos lang vor, doch jetzt geht der Sequenzierungsprozess viel zu schnell. Die Zeit scheint sich zu beschleunigen, jede Sekunde rast an mir vorbei. Die Wände des Raumes scheinen auf mich zuzukommen, der Druck auf meine Brust wird unerträglich.
97%
Ein ohrenbetäubendes Klirren ertönt. Das Fensterglas über mir zersplittert und glitzernde Scherben regnen scheppernd herab. Instinktiv ziehe ich den Kopf zwischen die Schultern. Der Mann kann gerade noch erschrocken den Kopf heben, bevor dieser von dem sich abseilenden Kaz mit Schüssen durchlöchert wird. Er geht zu Boden. Der andere versucht abzuhauen, wird aber auch getroffen und ist tot, bevor die Tür aufgetreten wird und die Meister sichtbar werden. Severin, Estera und Mirea sind sofort mit erhobenen Waffen im Raum, blicken umher und lassen ihre Arme sinken. Kaz, der inzwischen unten angekommen ist, löst mir mit wenigen geschickten Handgriffen die Fesseln, aber ich kann nicht aufstehen. Der letzte Stromschlag war zu viel für meinen Körper und ich bin zu schwach. Ohne zu zögern, hebt er mich hoch. Dass er mich im Arm hält wie ein Baby, gefällt mir absolut nicht, lässt sich aber gerade leider nicht ändern, also wehre ich mich nicht.
„Wie viele?", blafft Severin. Seine Stimme ist scharf wie ein Messer und seine Augen blitzen vor eiskalter Wut.
„Ich denke, nur die zwei. Der am Schreibtisch hat ein Foto von mir gemacht und meine DNA sequenziert." Meine Stimme klingt in meinen eigenen Ohren schwach und zittrig. Mirea flucht, doch Severin nickt und zeigt mit seinem Daumen nach oben. Ich verstehe erst, als Kaz den Boden unter den Füßen verliert, weil er uns beide mit der Windenautomatik hochzieht. Die drei Meister bleiben zurück und durchsuchen den Raum.
Oben auf dem Dach angekommen stellt mich Kaz auf meine immer noch wackligen Beine. Zuerst greife ich in meine Manteltasche und finde zum Glück das Nährgel. Der Wundkleber ist auch noch da. Alles andere haben sie mir abgenommen. Ich schraube die Tube auf und sauge die elektrolytreiche Nährstoffmischung aus ihr heraus. Nach ein paar Sekunden geht es mir besser. Ich mustere Kaz, doch der hat seine Maske noch auf und bedeutet mir, leise zu sein und ihm über die Dächer zu folgen. Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich das wirklich tun oder nicht besser die Flucht ergreifen und mich irgendwo verstecken sollte. Kaz scheint mein Zögern richtig zu interpretieren, denn er schüttelt den Kopf. Meine Augen zucken nach links und rechts und suchen nach einem Ausweg, doch mir ist bewusst, dass ich ihm in meiner Verfassung nicht entkommen würde. Außerdem wüsste ich gar nicht, wo ich überhaupt hinlaufen sollte. Und schließlich bin ich mir absolut sicher, dass die Schattentänzer mich finden würden. In meinen Augen brennt es und Tränen drohen sich zu sammeln, doch ich blinzle sie weg und schlucke meine Angst herunter. Ich werde ihm folgen müssen und die Konsequenzen tragen. Vielleicht werde ich ja nicht umgebracht.
Also machen wir uns auf den Weg über die Dächer des Stadtviertels, bis wir uns in einer schmalen Seitengasse abseilen. Da mir auch mein Enterhaken abgenommen wurde, und es zu tief zum Springen und zu glatt zum Klettern ist, muss ich mich an Kaz klammern, um nach unten zu kommen. Der Körperkontakt ist gleichzeitig vertraut und fremd. Kaz' Körper ist mir durch die unzähligen Kämpfe bekannt und ich habe normalerweise keine Scheu davor, ihm nah zu kommen oder ihn anzufassen. Doch mir jetzt von ihm helfen zu lassen, ihm ausgeliefert zu sein, alleine mit ihm hier in der Dunkelheit, das ist seltsam. Unangenehm. Ich fühle mich wie eine der Prinzessinnen in den uralten Märchen, die ich immer so dämlich fand. Warum Frauen von Männern gerettet werden müssen, habe ich nie verstanden. Aber in Colonia Nord gibt es auch nicht dieselben Unterschiede zwischen Männern und Frauen, die es zu den Zeiten dieser Geschichten gab. Dass ich nun ein Mädchen bin, dass durch einen spektakulären Stunt von einem jungen Mann gerettet wurde, der sich von der Decke abseilte, um sie aus der Gefahr zu holen, ärgert mich zusätzlich. Sobald wir auf dem Boden ankommen, trete ich einen großen Schritt von Kaz, der gerade seine Maske öffnet und seine Jacke schließt, weg und folge ihm durch die dunkle, enge Gasse in Richtung Licht. Wir kommen nicht direkt an einer Hauptstraße heraus, aber in einer großen Fußgängerzone.
Das Neonlicht spritzt seine Farben durch die Gegend und benetzt alles mit einem bunttriefenden Wirrwar, das mich wie nie zuvor mit dieser Sehnsucht nach Mehr füllt. Eine spürbare Abwesenheit von Etwas. Und mehr denn je sehe ich schwarz, dass diese Sehnsucht jemals gestillt werden, dieses Etwas gefunden werden könnte. Was immer mit mir passieren wird, wird dies mindestens für eine Weile sicherstellen. Die kleinen Ausbrüche in die Freiheit, die ich mir in letzter Zeit ergaunert habe, sind vorüber. Es gibt keinen rationalen Grund, weshalb ich überhaupt den nächsten Tag erleben dürfen sollte. Wir sind nun fast am Loft angelangt, und es wird immer schwerer, den Impuls zur Flucht zu unterdrücken. Lediglich die Gewissheit, dass es aussichtslos ist, treibt mich dazu an, Kaz auf dem Weg zu folgen.
Die Tür zum Appartementgebäude ist viel zu schnell da. Kaz hält sie mir auf und ich trete ins große, helle Treppenhaus. Wie automatisch gehe ich über den marmornen Boden an den aufgestellten Zimmerpalmen vorbei zum Aufzug und will meinen Daumen auf das Display legen, doch Kaz ist schon hinter mir und ergreift meine Hand.
„Lass mich los!", schreie ich. Die Reaktion ist überzogen, doch meine aufgestauten Emotionen bahnen sich ihren Weg. Kaz' Griff bleibt aber unbeweglich, obwohl ich versuche meinen Arm wegzuziehen.
„Ist in deinem Hirn für irgendetwas anderes als Rachsucht und Übermut Platz? Du hast gesagt, er hat ein Foto von dir gemacht und deine DNA sequenziert." Mein Arm wird schlapp, als ich verstehe, worauf er hinauswill.
„Genau. Wenn du jetzt mit deinem Fingerabdruck die Tür öffnest, haben wir sofort die Polizei hier stehen." Kaz' Worte treffen mich wie ein Schlag ins Gesicht. Es liegt keine Häme in seiner Stimme. Er spricht ganz sachlich mit mir. Das regt mich viel mehr auf, als wenn er mich verspotten würde. Denn es zeigt mir den Ernst der Situation und das bereitet mir eine Furcht, die meine Knie wieder zittrig werden lässt. Doch ich weigere mich, ihn die Angst sehen zu lassen und lasse stattdessen meinen Frust hochbrodeln. Wütend reiße ich meinen Arm aus seinem Griff und zeige damit trotzig auf das Display, damit er selbst den Fahrstuhlknopf bedienen kann. Kaz rollt seufzend mit den Augen und benutzt seinen Finger, um den Aufzug zu rufen. Ohne Zwischenstopps fährt uns der geräumige Edelstahlraum bis ganz nach oben in unser Loft.
Während der Fahrt habe ich Kaz unter meiner Kapuze hervor nicht angesehen. Die Stille im Aufzug ist drückend, jeder Atemzug schwer. Beim Aussteigen würdige ich ihn keines Blickes, sondern marschiere schnurstracks in mein Zimmer. Meine Hände zittern, als ich die Tür zuknalle und abschließe. Die Wut und der Frust entladen sich in diesem kleinen, verzweifelten Akt. Ich setze mich an den Glastisch, projiziere Tastatur und Bildschirm und beginne, fieberhaft an einer Verteidigungsstrategie zu arbeiten. Meine Gedanken rasen, angetrieben von Angst und der schieren Notwendigkeit zu überleben. Wenn ich diesen Abend überleben will, muss ich unbedingt deutlich machen, was für einen Wert mein Leben jetzt noch hat. Und wenn ich bedenke, dass man mich vor wenigen Wochen noch töten wollte, weil ich durch mein mangelndes Engagement keinen Umsatz generiert habe, wird mir umso deutlicher, warum ich wirklich gute Argumente brauchen werde. Ich überlege also fiebrig und notiere alles, was mir einfällt. Dann gehe ich systematisch durch, was ich über rhetorische Strategien gelernt habe, und filtere die Aspekte heraus, die mir in meiner Situation helfen können. Ich werde auf jeden Fall hart bestraft werden. Aber vielleicht darf ich weiterleben. Wenn ich das hier nicht versaue.
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