Scheinbar ist Totsein eine Eigenschaft, die die Vorsicht rapide sinken lässt
An Schlaf ist aber gar nicht zu denken. Mein Kopf ist ein chaotisches Durcheinander aus Bildern, Geräuschen und mir unbekannten Gefühlen, die mich wachhalten. In meinem Schlafanzug, der aus grauen Shorts und einem schwarzen Trägertop besteht, gehe ich also auf den von Wohnzimmer und Küche erreichbaren großen Balkon, um die Geräusche der Stadt zur Ablenkung um mich zu haben. Ich ignoriere die Terrassenstühle, die links stehen und lasse mich vor dem verglasten Geländer auf den warmen Boden in einen Schneidersitz sinken. Draußen ist immer alles warm, da es nie kalt wird. Angeblich war das früher einmal anders in dieser Region. Die Winter sollen eisig kalt gewesen sein, mit Schnee und Frost, den man sich heute kaum noch vorstellen kann. Aber das ist so lange her, dass niemand, der noch lebt, es aus eigener Erfahrung erzählen könnte. Manchmal frage ich mich, wie es wohl wäre, in einer anderen Zeit zu leben oder an einem anderen Ort. Doch ich weiß, dass die eine Vorstellung ebenso unmöglich ist, wie die andere. Die Kriege des letzten Jahrhunderts haben einen Großteil der Welt unbewohnbar gemacht. Verseucht mit Strahlen und tödlichen Krankheiten, zu heiß und trocken oder auch vom Ozean verschluckt. Einzelne Enklaven existieren, der Austausch zwischen ihnen ist begrenzt und kompliziert, die nächste zur Colonia Nord liegt im Osten. 258 Kilometer entfernt von unserer Stadt. Dazwischen unbewohnbares Ödland.
Ich starre vor mich hin und lasse meine Gedanken schweifen, bis ich eine Berührung am Knie spüre. Mein Kopf ruckt herum. Kaz hat sich neben mich gesetzt. Es ist sein Knie, das meins angestoßen hat. Gerade will ich ihn angiften, als er mit belegter Stimme zu sprechen beginnt: „Ich nehme die Tropfen nicht, weil ich das Gefühl dafür, dass es abnorm ist, Menschen wie Gemüse zu zerschneiden, nicht verlieren will." Er fährt sich mit einer Hand über sein ungewöhnlich blasses Gesicht. So erschöpft sah er lange nicht mehr aus. „Dass ich nach dem zwölften Einsatz dieser Art immer noch Übelkeit verspüre, zeigt mir, dass ich noch ein Mensch bin."
Ich schaue ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen von der Seite an. Wie soll ich reagieren? Der Junge neben mir, wenig älter als ich, mit dem ich zwar aufgewachsen bin, den ich aber vor allem als Gegner zu fürchten gelernt habe und auf den ich mich bei Missionen hundertprozentig verlassen kann. Können muss. So viele Widersprüche. Ein ständiger Balanceakt zwischen Vertrauen und Verrat, der heute zum Spagat wird.
Er trägt eine lange schwarze Trainingshose und ein graues T-Shirt. Seine dunklen, sonst lockigen Haare sind nass und seine ebenso dunklen Augen, die immer aufzublitzen scheinen, wenn er mich verprügelt, sind auf die Stadt gerichtet. Die Neonlichter verleihen den schwarzen Tunneln seiner Iriden ein paar bunte Sprenkel. Er sieht so verloren aus, wie ich mich fühle. Als würde er mit seinem Blick nach Antworten in dem flimmernden Lichtgewirr suchen. Ich weiß wirklich nicht, wie ich reagieren soll. Mein Brustkorb scheint sich zusammenzuziehen. Hin- und hergerissen zwischen Sympathie und Misstrauen schweige ich ihn an. Früher haben wir manchmal wie normale Menschen miteinander gesprochen. Wenn wir nur zu zweit irgendwo waren und es schien, als könnten wir die Fassaden der Profikiller fallenlassen. Manchmal waren wir einfach normale junge Leute, die in einer kaputten Welt leben. Früher hätte ich ihm erzählt, wie lange ich gerade duschen war, um das Gefühl loszuwerden, voller Blut zu sein. Hätte ihn gefragt, ob es besser wird mit der Zeit. Aber jetzt?
Jetzt sind wir meistens Rivalen, die mit der ständigen Angst des Verrats leben müssen.
Es gab zwischendurch einmal mehr Schattentänzer. Die Zahlen schwanken nicht nur, weil mal jemand umkommt oder entdeckt und eliminiert wird, sondern auch wegen Denunziation. Wer einen anderen bei einem Fehltritt beobachtet, ist dazu angehalten, die Information an die Meister weiterzuleiten. Wer dies nicht tut, wird mit dem Täter beseitigt, wenn es ans Licht kommt. Normalerweise greife ich Kaz deshalb zuerst an, wenn ich das Gefühl habe, dass er eine Schwäche bei mir wittert. Aber heute habe ich dazu keine Energie mehr. Heute bin ich einfach nur müde – müde von den Spielen, dem Misstrauen, der endlosen Spirale aus Zweifeln.
Wir sitzen noch ein paar Minuten da und starren in die Nacht. Wortlos. Jeder von uns ist in seine eigenen Gedanken vertieft, und die Stille zwischen uns ist schwer und voller unausgesprochener Worte. Ich ringe mit mir selbst, versuche, eine passende Antwort auf Kaz' Offenbarung zu finden, aber die Worte bleiben mir im Hals stecken. Ich will ihm sagen, dass ich verstehe, dass ich den gleichen Ekel spüre, dass auch ich Angst davor habe, meine Menschlichkeit zu verlieren. Aber die Angst vor dem Verrat hält mich zurück. Irgendwann stammle ich:
„Ich- ähm- gehe ins Bett." Meine Stimme klingt schwach und unsicher, als ich mich erhebe. Kaz nickt, seine Augen immer noch auf die Stadt gerichtet. „Ich bleibe noch eine Weile hier," sagt er leise. Es fühlt sich nicht richtig an, ihn so alleine zu lassen, in diesem aufgewühlten Zustand. Aber ein Teil von mir ist erleichtert. Er wird weniger aufmerksam sein als sonst. Und das kommt mir sehr gelegen.
Eigentlich bin ich nicht in Stimmung, mich heute hinauszuschleichen, doch Kaz' grüblerische Verfassung ist eine zu gute Gelegenheit. Ich gehe also in mein Zimmer und ziehe mir normale Kleidung an. Eine schwarze Jeans, die ich zusammen mit zwei Messern in meine alten Springerstiefel stecke, ein schwarzes Top und, da ich den Camouflagemantel heute einfach nicht wieder anziehen kann, eine schwarze Laborlederjacke, in deren Innentaschen ich einen kleinen Revolver und ein weiteres Messer verstecke. Die Waffen habe ich zwar bisher nicht gebraucht, aber sicher ist sicher.
Mein Weg führt mich heute in eine Kneipe in einem der Arbeiterviertel östlich unseres Lofts. Eine ziemlich heruntergekommene Bar, in der meine zwei Zielpersonen sich treffen wollen. Ich beobachte erst einmal die Leute, die hineingehen. Jeder, der vorbeikommt, wird von mir gründlich gemustert, um ihre Outfits zu analysieren und mich bestmöglich anzupassen. Ihre Kleidung ist eine Mischung aus abgenutzten Stoffen und hochmodernen, leuchtenden Textilien, ein Spiegelbild der sozialen Kluft in dieser verlogenen Stadt. Ich löse meinen Pferdeschwanz und zerstrubbele meine offenen Haare. Mit meinen Zähnen beiße und reibe ich so lange über meine Lippen, bis sie sich wund und leicht geschwollen anfühlen, damit sie rot wirken und mit etwas Staub vom Boden schminke ich mir notdürftig die Augen. Die holografischen Anzeigen der nahen Geschäfte werfen tanzende Schatten auf mein Gesicht, die mein ohnehin schon angespanntes Gemüt verstärken.
Mein Top tief heruntergezogen, schlurfe ich zum Eingang, als hätte ich schon etwas getrunken, aber nicht so viel, dass ich randalieren würde. Die Hände in meine Taschen steckend lächle ich den Türsteher keck an. Er mustert mich, als könnte er nicht richtig entscheiden, ob ich volljährig bin oder nicht. Ich zücke meinen gefälschten Ausweis, auf dem ich neunzehn bin und Luana heiße, bevor er fragen kann, doch er winkt ab und bedeutet mir, hineinzugehen.
Mit einem möglichst unbeeindruckten Gesicht trete ich ein, obwohl meine Nerven wie Drahtseile gespannt sind. Ich lasse meinen Blick unauffällig durch den Raum schweifen, während mein Herz in meiner Brust hämmert. Die Luft ist dick und der Geruch von verschüttetem Bier und Schweiß schlägt mir entgegen. Die Bar ist ein Schmelztiegel aus flackernden Neonlichtern und flimmernden Hologrammen, die an den Wänden tanzen und träge Illusionen projizieren. Eine unangenehme Absteige ist das hier mit zwielichtigem Klientel. Meine AR-Brille zeigt mir, dass Leo und Dorrit in der hinteren Ecke sitzen. Ein kurzer Adrenalinstoß schießt durch mich, als ich sie sehe, und ich muss mich zwingen, nicht direkt zu ihnen zu starren. Jeder Schritt fühlt sich schwer und unnatürlich an, als ob der Boden unter mir nachgeben könnte, als ich zum Tresen gehe, und mir ein Bier zur Tarnung bestelle - wer ist in so einer Bar, ohne etwas zu trinken? Beiläufig lege ich eine der C-Coin Guthabenkarten aus Collins Versteck auf die Theke, deren Nanomaterial bei der Abbuchung pulsiert. Nach diesem haptischen Feedback stecke ich die Karte wieder ein und nehme mein Glas in die Hand. Meine Aufregung niederringend schlendere ich in den hinteren Teil des Raums. In der Ecke sitzen sie mit zusammengesteckten Köpfen und ich habe sogar das Glück, dass ein kleiner Tisch in ihrer Nähe frei ist. Dort begebe ich mich hin und versuche so viel wie möglich von ihrem Gespräch mitzubekommen.
Das ist nicht viel. In dem Schankraum ist es so laut, dass es kaum möglich ist, zwei tuschelnde Männer zu belauschen. Die Tonprisma-Funktion des Earpods ist leider auch nicht gut genug, um ihr Gespräch zwischen den Umgebungsgeräuschen herauszufiltern. Für Lippenlesen kann ich zu wenig von ihren Gesichtern sehen. Frustriert rutsche ich mit meinem Stuhl so weit es geht nach hinten, bekomme aber keinen guten Blickwinkel. Zumindest nicht, ohne auszusehen, als wollte ich angestrengt ihr Gespräch verfolgen.
Ich blicke mich um. Analysiere, was für Möglichkeiten der Raum bietet. Eine Idee formt sich in meinem Geist. Wenn der Plan funktionieren soll, muss es schnell gehen. Ich bestelle zwei Bier, die ich kurz auf dem Tresen stehenlasse. Der Tresen ist so voll, dass es nicht auffällt, aber mein Auge wandert ständig umher, auf der Suche nach verdächtigen Blicken. Jede Bewegung könnte meine Tarnung auffliegen lassen. Dann knote ich mir meine Jacke um die Hüfte, drehe meine Haare zu einem unordentlichen Dutt auf dem Kopf zusammen, schnappe mir unauffällig von der Ecke des Tresens eine schwarze Schürze, die ich mir umbinde und bringe in diesem Aufzug mit einem gezwungenen Kellnerinnenlächeln, das sich fremd und steif anfühlt, die zwei Biergläser zu dem Tisch.
Ich klopfe den beiden schmierigen Mittvierzigern auf die Schultern, obwohl ich sie am liebsten totprügeln würde und es mich anwidert, sie anzufassen und flüstere verschwörerisch: „Eine Dame an der Bar wollte, dass ich euch die bringe." Bevor sie etwas erwidern können, verschwinde ich in der Menschenmenge, streife die Schürze ab, zerknülle sie in meiner Hand und werfe sie in eine Ecke, bevor ich mich unter zwei Armen hindurchducke in Richtung Toilettentür. Den beißenden Gestank und die dubiosen Flecken auf Boden und Wänden ignorierend, schließe ich mich in einer Kabine ein. Mein Atem geht flach und schnell, während ich die Übertragung der beiden Mikrofone einschalte, die ich den Männern an die Jacken geheftet habe. Die Kabine ist ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit, die Metallwände sind mit Graffiti und alten Cyber-Propaganda-Postern bedeckt. Heruntergekommen wie der Rest des Ladens. Das Licht flackert unstetig, während ich meinen Earpod anpasse und die winzigen, an ihren Jacken befestigten Mikrofone aktiviere.
Mit der Tonprisma-Funktion filtere ich die Umgebungsgeräusche so weit heraus, dass ich sie klar verstehen kann. Die digitale Anzeige der AR-Brille flackert kurz, bevor sie die Umgebungsgeräusche auf ein kaum wahrnehmbares Summen reduziert. Meine Anspannung wächst mit jeder Sekunde, in der ich auf ein wichtiges Detail hoffe. Doch stattdessen höre ich, wie sie sich über Belanglosigkeiten unterhalten, momentan streiten sie darüber, wohin sie gleich gehen wollen, um etwas zu essen. Frustration flammt in mir auf, meine Finger krallen sich in meine Handflächen. Das hätte mir eigentlich klar sein sollen, was hatte ich erwartet? Ohne weitere Umschweife verlasse ich die Kneipe. Die Mikros lasse ich das Gespräch aufnehmen. Morgen früh kann ich dann das Gespräch durchsuchen und gezielte Informationen herausfinden, statt jetzt die ganze Nacht auf diesem Kneipenklo zu hocken. Genervt stöhnend mache ich mich auf den Weg zurück zum Loft.
Die Dreiviertelstunde Fußweg zurück zum Loft klärt meinen Kopf nur oberflächlich. Die Straßen sind gesäumt von flackernden Hologrammen und schimmernden Neonschildern, die die Nacht in ein künstliches Tageslicht tauchen. Es ist drückend schwül. Sicherlich regnet es bald wieder. Jeder Schritt ist ein weiterer Schlag meiner Wut auf Leo und Dorrit. Mein Geist rattert, analysiert die gesammelten Informationen und versucht, einen klaren Plan zu formulieren. Jede vorbeigehende Gestalt wird misstrauisch beäugt, meine Sinne sind bis zum Zerreißen gespannt. Der Gedanke an Rache und Gerechtigkeit treibt mich voran durch die silbrig aufragenden Hochhaustürme, meine Entschlossenheit wird mit jedem Schritt stärker.
Ich werde morgen früh die Aufzeichnungen von heute Nacht durchforsten und versuchen herauszufinden, wo ich Leo und Dorrit möglichst bald einmal allein antreffen kann. Dann werde ich mich dorthin begeben und sie erschießen. Sie sind so kriminell und offiziell sowieso längst tot, dass die Polizei in ihrem Fall nicht ermitteln wird. Natürlich ist das so noch kein ganzer Plan. Aber die Informationen, die ich in den letzten Tagen, beziehungsweise Nächten, gesammelt habe, hätte ich auch nie erwartet in so schneller Zeit zusammenzukratzen. Scheinbar ist Totsein eine Eigenschaft, die die Vorsicht rapide sinken lässt.
Die Hoffnung, morgen brauchbare Informationen zu erhalten, um meine Mission zu Ende zu bringen und mich endlich zu rächen für die mir genommenen Eltern und das mir damit auch genommene Leben, ist so groß wie nie zuvor. Denn es ist gewissermaßen die Schuld dieser Männer, dass ich vor wenigen Stunden mit einer Knochensäge zwei tote Männer in Stücke zerteilen musste. Der Gedanke entfacht meine Wut auf Leo und Dorrit noch einmal auf eine ganz neue Art und Weise. Von dieser Seite habe ich es bisher nämlich noch gar nicht betrachtet. Nun wütend grübelnd stapfe ich die restlichen Schritte bis zu unserem Haus und klettere nach einem sorgfältigen Rundumcheck die Fassade hoch, um erneut meinen Schlafanzug anzuziehen, den fast vergessenen Dreck, den ich mir als Schminke um die Augen geschmiert hatte, abzuwaschen und ins Bett zu gehen, wo ich in unruhige Träume verfalle.
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