
Irgendwie fühlt es sich richtig an.
Der Tag vergeht wieder quälend langsam, obwohl ich lange geschlafen habe. Ein flaues Gefühl begleitet mich, das ich versuche durch extrahartes Training loszuwerden, doch ich bin voller Energie und gleichzeitig irgendwie benebelt, wie betrunken.
Kaz tritt in den Trainingsraum, seine Augen fixieren mich wie ein Raubtier, das seine Beute ausspäht. Ein kurzes Zögern überkommt mich, doch die Flamme der Herausforderung in seinem Blick entfacht etwas in mir. Vielleicht ist ein bisschen Prügelei mit ihm genau das Richtige, damit ich mich wieder wie ich selbst fühle. Ich hebe also das Kinn und erwidere seinen Blick. Sein Halbgrinsen werde ich ihm zuerst vom Gesicht wischen, entscheide ich und lächle selbst eine diabolische Variante des Gefühls, das seit vorgestern in meiner Brust haust. Mit einem blitzschnellen Schritt gehe ich in die Offensive, meine Faust trifft seinen Kiefer mit der Präzision eines Uhrwerks, und das Grinsen verschwindet. Stattdessen flammt Ehrgeiz in seinen Augen auf. Und so schlagen und treten wir uns, ringen auf dem Boden miteinander und trotz meiner immer noch empfindlichen Finger besiege ich Kaz, indem ich ihm nach einer gefühlten Ewigkeit die Beine wegziehe, sodass er außerhalb des Rings landet. Die Euphorie des Sieges löst das letzte Bisschen Zurückhaltung. Ein Triumphschrei entfährt mir, wild und ungezügelt, als Kaz auf dem Boden landet. Der Geschmack des Sieges ist süß auf meinen Lippen, und ein Lachen, das mehr einem wahnsinnigen Kichern gleicht, schallt durch den Raum. Kaz blinzelt, auf seine Ellenbogen gestützt, und mustert mich mit einer Mischung aus Verwunderung und Respekt.
„Wo auch immer du diese Energie hernimmst, ich will auch etwas davon", grummelt er und ich antworte ihm mit einer obszönen Geste. Den Raum verlassend blicke ich mich gerade rechtzeitig um, um zu sehen, wie er mich nachdenklich ansieht.
„Möchtest du vielleicht ein Foto von mir machen? Dann kannst du mich immer anstarren", schnarre ich und strecke ihm die Zunge raus. Sein verdutztes Gesicht ist es wert, dass ich mir jetzt vorkomme wie eine Siebenjährige.
Nach einer ausgiebigen Dusche lege ich mich in einen Liegestuhl auf der Terrasse, um vor mich hinzudösen. Finnicks offene Art überrascht mich, sie ist wie ein Lichtstrahl, der durch meine ansonsten misstrauische Fassade bricht. Ich bin gut darin, Menschen einzuschätzen, doch bei ihm fühle ich mich unsicher, als ob seine Freundlichkeit zu einfach, zu unbewacht ist. Es ist, als ob er durch meine Schutzmauern hindurchsieht. Frustriert zerbreche ich mir den Kopf darüber, dass ich nicht einschätzen kann, ob das ein normales Verhalten ist. Ich komme mir vor wie ein Einsiedler. Es passiert doch jeden Tag unzählige Male, dass Menschen andere Menschen ansprechen und ihre Hände anfassen. Sogar mehr Körperkontakt habe ich schon bei anderen beobachtet, die sich offensichtlich gerade erst kennengelernt haben. Dass Finnick sich mir so selbstverständlich genähert hat, ist bestimmt normal. Der Gedanke, dass er das vielleicht oft mit Mädchen macht, kann mich auch nicht gerade beruhigen. Gestern hatte er jedenfalls nur Augen für mich. Meine Lippen verziehen sich unwillkürlich zu einem Lächeln. Heute Abend werde ich ja sehen, wie es weitergeht. Sich darüber den Kopf zu zerbrechen zu machen ist unsinnig. Das habe ich mir heute schon mehrfach gesagt. Es hilft. Für eine kurze Weile.
Ein Knall irgendwo unten lässt mich aufschrecken. Ich muss eingenickt sein. Einen Blick auf die Uhr werfend richte ich mich auf. Kurz vor Mitternacht. Ich strecke mich und schlurfe in mein Zimmer, wo ich anfange, meine Maske herzurichten und mich anzuziehen. Ich entscheide mich für ein dunkelrotes Trägertop und die schwarze Hose mit den Kristallverstärkungen. Ich versuche mir einzureden, dass ich mich nur so sorgfältig schminke, um kein Risiko einzugehen. Nicht wirklich erfolgreich. Dass die Farbe meines Lippenstiftes zur Farbe meines Tops passt, ist das ultimative Anzeichen dafür, dass ich ein peinlicher Laternenpfosten bin. Trotzdem lächle ich meinem Spiegelbild zu, bevor ich aus dem Fenster klettere. Der Camouflagemodus meines Mantels verschmilzt mich mit den Neonlichtern der Stadt, meine Silhouette in einem Kaleidoskop aus Farben auflösend. Der Weg ist mir mittlerweile so vertraut, dass ich kaum noch hinsehen muss, um die Wandvorsprünge zu finden, die mich nach unten befördern. Unten angekommen schalte ich wie immer den Camouflagemodus wieder aus und mache mich auf den Weg. Da heute Sonntag ist, ist die Stadt nicht ganz so voll wie an den vorangegangenen Abenden. Das Arcadia ist trotzdem gut gefüllt. Doch heute ist es etwas anders eingerichtet. Das Klavier steht nicht auf der Bühne, sondern weitere Tische mit Stühlen und überall sind Spielkarten, Spielbretter und Würfel auf den Tischen verteilt.
„Heute ist Spieleabend", sagt eine Stimme, die mir den ganzen Tag nicht aus dem Kopf wollte, direkt in mein Ohr. Dass Finnick es wieder geschafft hat, sich an mich heranzuschleichen, ohne dass ich es bemerke, wäre mir unheimlich, aber bei der Lautstärke, die in diesem Raum immer herrscht, ist es eigentlich keine Kunst. Ich drehe mich zu ihm um und lasse ihn meine Hand nehmen, damit er mich zu dem Tisch mit seinen Freunden führen kann. Sona, Nyx, Mako und Loria begrüßen mich freudig und ich winke grinsend mit meiner freien Hand. Finnick und ich setzen uns nebeneinander an den Tisch und Mako und Loria beginnen damit, mir die Regeln des Kartenspiels zu erklären, das sie nun spielen wollen. Ich versuche den Worten zu folgen und nur mein jahrelanges Training in strategischem Denken ermöglicht es mir, die Regeln zu verstehen, während Finnicks Hand meine hält. Zwischendurch drückt er sie manchmal leicht, was es noch schwieriger macht, nicht den Faden zu verlieren. Zurückdrückend werfe ich einen Seitenblick auf das Lächeln, das sich auf seinem Gesicht breitmacht.
„Alles verstanden?" Loria sieht mich erwartungsvoll an. Nickend nehme ich mit der freien Hand die Karten entgegen, die sie mir reicht. Die erste Runde gewinne ich zwar nicht, aber ich werde zweite, direkt nach Nyx, was mir einen begeisterten Applaus einbringt. Ich verneige mich dramatisch und grinse dabei. Als ich die zweite Runde gewinne, überprüft Mako meine Karten, bevor er etwas von „Anfängerglück!" murmelt. Als ich auch die dritte Runde gewinne, lacht Finnick laut auf, weil sich Loria darüber beschwert, wie unfair es ist, dass sie das Spiel seit Jahren spielt und ich als Neuling so viel Glück habe.
„Loria, du hast doch schon immer bei ,Knacks' verloren!" Sie verschränkt mit übertriebener Dramatik die Arme vor der Brust und schmollt demonstrativ.
„Dafür gebe ich dir das nächste Getränk aus", biete ich ihr an und sie legt die Arme auf den Tisch.
„Endlich mal eine gute Gewinnerin!" Als ich meine Hand widerwillig aus Finnicks lösen will, um zur Bar zu gehen, hält Finnick sie fest und sagt, sich überzogen in die Brust werfend: „Ich helfe der Dame tragen!" Alle, ich und auch Finnick eingeschlossen, fangen an zu lachen.
Die Gruppe äußert Getränkewünsche, die wir mitbringen sollen, wenn wir schon zu zweit zur Bar gehen. Zusammen gehen wir zum Tresen, werden durch die eng beieinanderstehenden Leute unwillkürlich aneinandergedrängt – was mir weniger ausmacht, als es sollte - und bestellen. Um die sechs Gläser zu tragen, müssen wir dann doch unsere Hände voneinander lösen und fangen unvermittelt zu prusten an. Lachend tragen wir die Getränke zum Tisch und verteilen sie. Als wir wieder sitzen, streifen Finnicks Finger unter dem Tisch über den Rücken meiner Hand, die ich auf meinem Oberschenkel abgelegt habe. Ich versuche mir das Lächeln zu verkneifen und greife mit meinen Fingern nach seinen. Er beginnt, immer wieder sanft über meinen Handrücken zu streichen und sendet damit Schauer über meine Haut. Mir wird ganz seltsam und ich kann mich nicht auf die Regelerklärungen zum neuen Spiel konzentrieren.
Sona sieht mich besorgt an, sie weiß ja nicht, woran es liegt, dass mein Blick etwas glasig ist, als sie mich fragt, ob alles in Ordnung ist. Ich spüre, dass ich erröte. Auch das deutet sie offenbar falsch, denn sie sieht zu Finnick hinüber und sagt in einem Ton, den ich interessant finde, weil er nicht zu der freundschaftlichen Beziehung der beiden passt, sondern eher wie eine Anweisung klingt:
„Finnick! Geh doch mit Mona ein bisschen nach draußen. Sie sieht aus, als könnte sie frische Luft vertragen." Als ich protestieren will, zwinkert sie mir zu und lächelt verschwörerisch. Es klickt in meinem Kopf und es ist mir so peinlich, dass ich froh bin, jetzt erst einmal hinauszugehen. Finnick sieht mich besorgt an, bevor seine Besorgnis weicht und er eine Augenbraue hebt. Er blickt in Richtung Tür, wo wir uns nun beide hinbegeben. Wie um mich zu stützen, legt er mir die Hand auf den Rücken.
Ich bin nicht sicher, ob ich froh bin, der peinlichen Situation entkommen zu sein, beschämt, wegen dem, was die anderen jetzt vermutlich denken, was wir hier tun, aufgeregt, wegen dem was passieren könnte oder panisch deswegen. Nur meine Lektionen in Emotionskontrolle helfen mir dabei, nicht in irgendeine Richtung überzureagieren. Also versuche ich ruhig zu atmen und meine Gefühle distanziert zu betrachten, statt mich von ihnen überwältigen zu lassen.
Erleichtert, dass kein anderer meine Gedanken hören kann, schelte ich mich selbst, weil ich so aufgewühlt bin. Ein Junge hat meine Hand berührt. Und meinen Rücken. Kaz hat heute schon mehr Teile meines Körpers angefasst. Doch an Kaz will ich jetzt nicht denken. Warum das hier so anders ist, ist mir jedoch rätselhaft. Finnicks Hand mit den langen Fingern ist warm auf meinem unteren Rücken, als wir durch die Tür nach draußen treten. Wir setzen uns auf eine der Bänke, die vor dem Arcadia stehen.
Und schweigen.
Die Zeit kommt mir ewig vor, obwohl vermutlich nur zwei oder drei Minuten vergehen. Ich reiße mich schließlich zusammen und drehe mich zu Finnick um, um etwas zu sagen. Er hatte gerade vermutlich denselben Einfall, denn auch er wendet sich mir zu und öffnet den Mund. Wie schon an der Bar, als wir unsere Hände voneinander lösen mussten, um die Gläser zu tragen, fangen wir auch jetzt wieder unvermittelt an zu lachen. Das bricht den Bann des unbehaglichen Schweigens. Finnick greift wieder nach meiner Hand. Irgendwie fühlt es sich richtig an. Nicht fremd.
„Mona, ich ..." Finnicks Stimme wird zu einem leisen Flüstern, das plötzlich all die Geräusche um uns herum verschluckt. Eine Anspannung hängt in der Luft, ein unsichtbarer Faden, der meine Nerven vibrieren lässt. Sein Blick ist ernst, eine Tiefe, in der ich mich zu verlieren drohe. Was auch immer er mir sagen möchte, ich denke nicht, dass ich es hören will. Nachrichten, die so ernst beginnen, möchte ich jetzt nicht überbracht bekommen. Da ich aber auch keine Ahnung habe, wie ich ihn unterbrechen soll, ohne wie ein völliger Trampel zu wirken, sehe ich ihn einfach an. Wie das Neonlicht der digitalen Anzeigetafel, die gerade Regierungspropaganda zeigt, seine silbrigen Haare bunt schimmern und seine türkisblauen Augen dunkel aussehen lässt.
„Es ist etwas überstürzt, aber ich-", er unterbricht sich und ich male mir aus, was er sagen wird. Dass er wegmuss. Untertauchen oder verreisen oder sonst etwas. Wenn ich eins mit Sicherheit weiß, dann, dass ich mich jetzt noch nicht von ihm verabschieden möchte.
„Ich mag dich", beendet er seinen Satz leise lachend. Mir wird so plötzlich kalt, als hätte Estera mich wieder in ein Eiswürfelbad geworfen. Damit habe ich nicht gerechnet. Weder damit, dass er das sagen würde, noch damit, dass mein Körper so reagieren würde. Kalter Schweiß bricht auf meiner Stirn aus und mir wird flau im Magen. Ich ziehe meine Hand aus seiner ohne darüber nachzudenken und stehe plötzlich. Ich erinnere mich nicht daran, wie ich aufgestanden bin. Aber mein Fluchtinstinkt ist zu stark, als dass ich bleiben könnte.
„Ich muss weg", ist alles, was ich sagen kann, bevor ich auf dem Absatz kehrt mache und wegrenne. Über das Rauschen in meinen Ohren hinweg kann ich nicht hören, ob Finnick mir hinterherruft oder - läuft, aber ich sprinte so schnell, dass ich bezweifle, dass er mir folgen könnte.
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