
Ich glaube ihm, weil ich ihm glauben will.
„Sie hat gerade verstanden, dass die Schattentänzer eine der Untergrundbanden sind, die vom Staat bezahlt werden, um die Metamorphs aus dem Weg zu schaffen." Sona sieht mich mitleidig an. Finnick flucht. Meine Hand bleibt wie gelähmt vor meinem Mund, als könnte sie die aufsteigende Panik zurückhalten. Meine Gedanken wirbeln durcheinander, jedes neue Stück Information ein weiterer Nagel in den Sarg meiner Selbstsicherheit. Nicht nur, dass wir Metamorphs umbringen - bei wie vielen der Einsätze, wo ich dabei war, ging es eigentlich um Metamorphs? - sondern ich gehöre dazu. Ich habe geholfen, Menschen zu töten, die so sind wie ich. Wie viele davon? Ich weiß es nicht. Mein einziger Trost ist, dass ich selber keinen von ihnen getötet habe. Der Trost ist eher schwach. Der Schmerz der Erkenntnis, dass ich an diesem völlig sinnlosen Morden beteiligt war, schneidet tief und hinterlässt eine lähmende Kälte in meiner Brust. Meine Gedanken wandern zu einer Wohnküche, die dieser ähnelt. Die Blutspur, die die krabbelnde Frau, Nela war ihr Name, hinter sich verteilt. Severin hatte ihren Mann nach einer Frau gefragt.
„Demi Lennart", flüstere ich, als ich mich an den erfragten Namen erinnere. Die drei sehen mich überrascht an.
„Ja, so heißt die letzte Metamorph, die wir aus der Stadt geschleust haben. Gestern Abend." Sonas Stimme zittert beunruhigt.
„Aus der Stadt? Was meinst du damit? Die nächsten bewohnbaren Orte sind doch hunderte von Kilometern entfernt. Oder bringt ihr sie einfach in das verseuchte Gebiet au-", brabble ich immer noch geschockt und stocke dann, als mir dämmert, was Sona gerade nebenbei offenbart hat. Sie wirft mir ein mitleidiges Lächeln zu und nickt.
„Du bist klug genug, um zu wissen, dass das meiste, was die Regierung den Leuten erzählt, reine Propagandalügen sind. Und dass Colonia Nord der einzige nicht durch Krieg und Krankheiten verseuchte Ort weit und breit ist, hast du nie angezweifelt?" Es ist Nyx, der die Frage stellt. Er lächelt dabei jedoch so freundlich, dass ich mich nicht angegriffen fühle. „Gut, dass du jetzt bei uns bist, Mona. Wir haben viele Informationen über die Machenschaften der Kriminellen, inklusive der Regierenden. Und du hast sicherlich andere Einblicke, die du im Gegenzug mit uns teilen kannst." Nyx nickt zuversichtlich. Gern wäre ich auch so optimistisch. Aber meine Gedanken rasen und meine Emotionen drohen durchzubrechen.
„Ich habe dir doch von der Mission heute erzählt", wende ich mich an Finnick und er nickt betreten. „Demi Lennart war die Frau, nach der Severin gefragt hat. Ihr Bruder und seine Frau - seine schwangere Frau - wurden umgebracht, weil er verdächtigt wurde, sie zu verstecken." Erst an meinem Schluchzen merke ich, dass ich offenbar angefangen habe zu weinen. Das geschieht in letzter Zeit zu oft. Aber ich kann mir nicht helfen. Meine Schultern beben unkontrolliert, und meine Kehle schnürt sich zu, als die Tränen unaufhaltsam über meine Wangen rinnen. Der Kloß in meinem Hals wächst, und ich kann kaum atmen. Es fühlt sich an, als würde mein Herz unter dem Druck meiner Schuld zusammenbrechen. Nyx reicht mir ein Taschentuch. Er und Sona sehen mich entsetzt an. Finnick legt seinen Arm um meine Schulter und zieht mich an sich.
„Wenn sie mittlerweile so weit gehen, die Angehörigen zu verfolgen und zu foltern, müssen wir zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen ergreifen", sagt er und ich höre seine Stimme seltsam verzerrt dadurch, dass mein Kopf an seiner Brust lehnt. Die drei Schlangen fangen an, Strategien zu besprechen und ich merke einfach nur, dass ich nach draußen muss. Ich muss mich bewegen. Der Raum kommt mir plötzlich zu klein vor. Zu eng. Mit rasendem Herzen spüre ich, wie Schweißperlen auf meiner Stirn entstehen. Meine Hände zittern, und meine Beine fühlen sich an, als könnten sie mich jeden Moment im Stich lassen. Der Drang, aus diesem grotesk normalen Raum zu entfliehen, wird unerträglich.
„Ich muss raus. Ich gehe nicht weit weg", sage ich und stehe auf. Finnick folgt mir. Mein Inneres tobt wie ein Sturm, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, alleine zu sein, um meine Gedanken zu ordnen, und der Angst, in dieser Dunkelheit der Verzweiflung zu versinken. Die Vorstellung, dass ich alleine mit meinen Gedanken konfrontiert sein könnte, jagt mir eine kalte Angst ein. Aber der Gedanke, dass jemand meine Schwäche sieht, ist nicht weniger erschreckend. Da ich sowieso nicht sprechen kann, lasse ich ihn hinterherkommen.
Draußen schnappe ich nach Luft. Am liebsten würde ich schreien, doch das wäre zu laut. Also drehe ich mich ruckartig um und schlage mit voller Kraft meine Faust gegen die Mauer. Die Wucht des Aufpralls zieht meinen Arm hinauf in meine Schulter und ich japse. Der Putz bröckelt etwas, doch sonst bleibt die Wand intakt, was man von meiner Hand nicht behaupten kann. Meine Knöchel sind aufgeplatzt und Blut quillt hervor. Der brennende Schmerz holt mich wieder ein wenig zurück ins Hier und Jetzt. Finnick, der zwei Schritte hinter mir steht, konnte mich nicht aufhalten, nimmt aber jetzt meine Hände in seine und sieht mir in die Augen. Seine türkisblauen Augen sind voller Mitgefühl, das ich nicht verdiene. Die getöteten Metamorphs verdienen dieses Mitgefühl und nicht die Leute, die sie umgebracht haben. Finnick tritt näher und legt seine Arme um mich. Er drückt mich fest an sich und ich schmiege meinen Kopf an seine Schulter.
„Es ist nicht deine Schuld", flüstert er mir zu. Und eigentlich ist mir das klar. Ich war nach meinem Treffen mit Yanto schon bereit, es selbst zu glauben. Doch jetzt fällt es mir so unglaublich schwer. Ich fange an heftig zu schluchzen, als Finnick mich ein Stück von sich wegdrückt und mir ins Gesicht sieht. Er schaut mir tief in die Augen, sein Blick voll von einer Emotion, die ich nicht recht deuten kann - Überraschung, Erstaunen, Mitleid? - und dann, ohne zu zögern, drückt er mir seine Lippen auf den Mund. Überrascht, aber nicht erschrocken schließe ich die Augen und erwidere den bittersüßen Kuss, ein verzweifelter Versuch, Halt in einem Sturm aus Schuld und Reue zu finden. Wie lange wir uns küssen, kann ich nicht sagen, doch es ist eine verzweifelte, tränennasse, sich nach Bestätigung sehnende Angelegenheit. Halt suchend und findend. Als wir uns voneinander lösen, schnell atmend und immer noch in den Armen des anderen verschlungen, keucht Finnick: „Wir werden die Angehörigen der Metamorphs besser schützen. Und wir werden dich schützen. Mit deiner Hilfe werden wir besser und effektiver. Es wird gut." Ich glaube ihm, weil ich ihm glauben will. Gemeinsam gehen wir zurück in das Schlangennest.
„Was nun?" Die Frage, auf die sich mein Problem reduzieren lässt, ist gleichzeitig die, deren Beantwortung mir am schwersten fällt. Sona und Nyx bestätigen das, was Finnick gesagt hat: Die Schlangen werden mich beschützen, wenn ich anfange gegen die Schattentänzer zu arbeiten. Dieses Wenn steht für mich eigentlich gar nicht in Frage, da ich nach dem, was ich heute durchgemacht und erfahren habe, nicht so weitermachen kann, wie bisher. Aber- Ja, aber -alles über den Haufen werfen, was ich kenne und bin, ist nichts, was ich aus dem Stegreif entscheiden kann.
Seit fast zehn Jahren werde ich zur Schattentänzerin ausgebildet, das heißt nicht nur, eine Assassine zu sein, sondern auch dem Zirkel treu zu sein und nicht gegen ihn und seine Ziele zu handeln. Auch wenn ich mir in letzter Zeit gehäuft Übertretungen der Regeln erlaubt habe, ist ein völliges Dagegenarbeiten noch einmal eine ganz andere Sache. Ich bin ja auch nicht völlig gegen alles, was wir tun. Es gibt Menschen, die verdienen es einfach, bestraft zu werden und unser System sorgt nicht dafür, weshalb ich der Meinung bin, dass wir manchmal nachhelfen müssen. Trotzdem kann ich mit mir selber nicht vereinbaren, weiterhin Teil von Einsätzen zu sein, bei denen völlig unschuldige Menschen aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten getötet werden.
In meinem Kopf tobt ein erbitterter Kampf zwischen dem, was ich immer geglaubt habe, und der erschütternden Wahrheit, die mich jetzt verfolgt. Die Vorstellung, alles, was ich kenne, hinter mir zu lassen, fühlt sich an, als würde ich mich selbst verraten. Doch die Alternative, weiter unschuldige Leben auszulöschen, ist ein noch unerträglicherer Gedanke. In meinem Kopf tobt diese Diskussion und nimmt kein Ende.
„Ich will euch helfen", beginne ich, aber meine Stimme zittert. „Ich weiß nur noch nicht, wie." Meine Gedanken sind ein Durcheinander aus Schuld und Entschlossenheit. „Ich brauche Zeit, um das alles zu verarbeiten." Die Worte kommen schwer über meine Lippen, und ich sehe den drei Schlangen in die Augen, auf der Suche nach Verständnis, das ich kaum selbst für mich aufbringen kann.
„Falls das in Ordnung ist?" Die Frage ist fast ein Flüstern, ein Ausdruck meiner tiefen Unsicherheit und des Kampfes, der in mir tobt.
Sona und Nyx nicken und Finnick lächelt aufmunternd. Ich ringe mich zu einem antwortenden Lächeln durch und verabschiede mich. Finnicks Angebot, mich nach Hause zu bringen, lehne ich erneut ab, obwohl er mittlerweile weiß, wer ich bin und wo ich wohne und dass ich mich exzellent selbst verteidigen kann. Ich will ihm keine Umstände machen. Es ist schon sehr spät. Oder eher: Sehr früh. Kurz vor vier Uhr morgens. Ich umarme also alle drei zum Abschied - das scheint es nämlich zu sein, was man tut, zumindest haben mich Sona und Nyx in die Arme geschlossen, als ich auf sie zukam - und mache mich auf den Weg nach Hause. Müde und grübelnd durch die immer noch lebendige, aber doch beruhigtere Stadt.
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