Ich darf mir nichts anmerken lassen
Triggerwarnung: Dieses Kapitel enthält die Erinnerung an eine versuchte, aber zum Glück nicht erfolgte, Vergewaltigung.
Als ich das Wohnzimmer betrete, lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Eigentlich will ich mich erschöpft auf ein Sofa fallen lassen, aber ich bemerke, dass am Ende des Flurs die Bürotür offensteht. Ich gehe also hin und werde von Mirea hereingewunken. Sie schließt hinter mir die Tür und legt den Finger an die Lippen. Erst jetzt fällt mir auf, dass an dem großen gläsernen Konferenztisch in der Ecke Severin, Estera, Kaz und ein unbekannter junger Mann sitzen. Mirea geht mit mir zum Tisch und deutet auf einen der freien Laborledersessel. Ich setze mich ohne Fragen zu stellen. Vermutlich klärt sich gleich alles.
Der junge Mann ist wenig älter als ich, vielleicht neunzehn oder zwanzig Jahre alt und blickt sich mit zusammengezogenen Augenbrauen um. Hager sieht er aus und blass, mit einem gehetzten Blick. Einer der vielen Untergrundbewohner von Colonia Nord. In einer Stadt, in der es keine Kriminalität gibt, ist der kriminelle Untergrund wortwörtlich dort versteckt. In Colonia Nord leben die meisten kriminellen Bewohner in den verwaisten Schächten, die in der ursprünglich hier erbauten Stadt einmal zur Fortbewegung und zur Abwasserentsorgung dienten. Keine schöne Umgebung, keine netten Mitbewohner, keine hohe Lebenserwartung. Dort leben zu müssen gehört zu den schlimmsten Dingen, die ich mir vorstellen kann. Ich versuche jedoch mein Gesicht möglichst ausdruckslos aussehen zu lassen, ohne abweisend zu wirken. Das Maskengesicht, wie Severin es uns beigebracht hat.
„Dann fangen Sie an", fordert Estera den jungen Mann auf. Ihre Stimme ist strikt, ohne harsch zu sein.
Der Klient räuspert sich kurz. Als er anfängt zu sprechen, merke ich, wie sich die Spannung im Raum verdichtet. Jedes seiner Worte scheint sorgfältig gewählt, und ich frage mich, was ihn so nervös macht. „Ich möchte gerne, dass Sie jemanden ... beseitigen", das letzte Wort bringt er zögernd hervor und blickt sich misstrauisch im Raum um.
„Das haben wir uns bereits gedacht. Sind Sie denn in der Lage, die finanziellen Mittel aufzuwenden, um unsere Dienste zu bezahlen?" Severin schafft es, diese Frage zu stellen, ohne überheblich zu klingen. Seine grauen Augen verraten nichts über seine Emotionen, doch seine Stimme enthält eine unmissverständliche Aufforderung.
Jegliches Zögern verschwindet aus dem Auftreten des Klienten. Er nickt bestimmt. „Ich spare seit drei Jahren und habe viele Unterstützer, die für diesen Zweck gespendet haben."
Ich nicke anerkennend. Die Zielperson scheint wirklich unbeliebt zu sein.
„Gut, dann fangen Sie doch einmal an zu erzählen", fordert Severin den jungen Mann auf.
„Ich bin fast mein ganzes Leben lang ein Straßenkind gewesen. Seit ihrer Gründung gehöre ich der Gruppe an, die sich die Ratten nennt." An den Reaktionen der anderen Schattentänzer erkenne ich, dass wir alle schon von dieser Gruppe krimineller Kinder gehört haben. Die Ratten sind vor allem Kleinkriminelle und Taschendiebe und - bei dem Gedanken läuft mir immer ein Schauer über den Rücken - Prostituierte. Ich betrachte den jungen Mann erneut. Mit seinem Aussehen - groß, volle Lippen, dichtes Haar - musste er bestimmt auch-
„Ja. Sie haben von uns gehört. Am Anfang waren es immer nur kleine Diebereien, aber dann hat C vor fünf Jahren unseren vorherigen Anführer erstochen und die Führung übernommen. Seitdem werden immer mehr Ratten von ihm gezwungen, sich zu-" Er bricht ab und atmet tief ein. Mirea nickt ihm zu und sagt: „Wir wissen Bescheid. Also ist dieser C die Zielperson?" Der junge Mann bestätigt mit einem kurzen Kopfrucken. Estera sieht mich fragend an und ich nicke. Ich will unbedingt bei dieser Mission dabei sein.
„Gut. Dann brauchen wir jetzt alle Informationen, die für uns nützlich sein können", lächelt Mirea und ihr Lächeln sieht nicht freundlich, sondern wölfisch aus, als sie auf der Glastischplatte eine Stadtkarte aufruft und den jungen Mann, Leon, systematisch ausfragt.
*
Meine Beine kribbeln. Wenn man stundenlang auf einem Dach hockt, um einen Zugang zum Untergrund zu bewachen, schlafen einem unweigerlich immer wieder Gliedmaßen ein. Möglichst unauffällig versuche ich sie zu strecken. Der Beton unter mir fühlt sich rau und heiß an. Der Geruch von Asphalt und Staub liegt schwer in der Luft, und jeder Atemzug fällt mir schwerer. Seit über drei Stunden sitzen Estera, Kaz und ich jetzt hier oben in der schwülen Hitze und starren ein Loch im Boden an. Wenn jemand rein- oder rausgeht, machen wir ein Bild und halten die Identität fest. Sofern möglich. Ein nicht unerheblicher Teil der Untergrundbewohner ist nicht, oder nicht mehr im System registriert. Von dem brutalen Bandenchef namens C war heute jedoch noch nichts zu sehen. Trotzdem erfahren wir viele interessante Dinge über die Ratten: Einen Teil der Mitglieder, die Waren, die sie ins Quartier schmuggeln, die Sicherheitsvorkehrungen am Eingang. Mir läuft der Schweiß den Rücken herunter. Wenigstens regnet es gerade nicht.
Plötzlich kommt ein junger Mann aus dem Versteck. Ich zoome mit meiner AR-Brille heran und muss all meine Selbstkontrolle aufwenden, um mir nichts anmerken zu lassen.
„Das muss er sein", flüstert Estera und bestätigt damit meine Befürchtung. Der ungepflegte, große, dicke Kerl dort unten, der, der mir so schrecklich bekannt vorkommt, der über die Jahre noch widerlicher geworden zu sein scheint, ist C. Collin ist C. Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen, als ich ihn erkenne. Kalter Schweiß bricht auf meiner Stirn aus, und ich muss mich zwingen, ruhig zu bleiben. Derselbe Collin, der mich vor zehn Jahren im Waisenhaus vergewaltigen wollte. Ein kleines Mädchen, das vor kurzem ihre Eltern verloren hatte. Das Keuchen seines stinkenden Mundes und den klebrigen ungewaschenen Körper, der mich fast zerquetscht hat, werde ich nie vergessen. Mir wird übel.
Ich darf mir nichts anmerken lassen. Darf mir nicht anmerken lassen, dass er mich auf dem Weg in mein Zimmer abgefangen und gegen die Wand gedrückt hat. Dass er mich in sein Zimmer gezerrt und auf sein nach Schweiß riechendes Bett geschubst hat. Dass er sich auf mich gelegt hat und gerade dabei war, seine Hose herunterzuziehen, als ich meine Beine soweit befreit hatte, dass ich ihn treten und wegrennen konnte. Dass ich all meine verbliebenen Sachen in dem Waisenhaus zurückgelassen habe, als ich durch das Badezimmerfenster hinausgeklettert und auf die Straße geflüchtet bin. Ich forme mein Gesicht zur Maske und atme betont ruhig, als ich bemerke, dass Kaz mich mustert. Ich sehe ihn ausdrucklos an und er zwinkert mir zu. Verdammt. Kaz hat meine Aufgewühltheit bemerkt. Aber was soll dieses Zwinkern bedeuten?
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