Ich bin aber schuldig!
Viel zu beschäftigt damit, wegzukommen - nur weg - achte ich nicht darauf, wohin ich laufe. Plötzlich höre ich einen Schrei und sehe mich um. Ich bin auf einem kleinen, düsteren Platz zwischen neongrün beleuchteten Hochhäusern gelandet. Die Fassaden sind mit Graffiti bedeckt, und elektronische Werbetafeln flackern unregelmäßig in der Dunkelheit, ihre Pixel flimmern wie schwache Sterne in der Nacht. Der Schrei kam von einem Mann, der gerade von zwei Gestalten an einen Baum gedrängt wird, der in der Mitte des schummrigen Platzes steht. Die Typen sind in zerrissene, abgetragene Kleidung gehüllt, ihre Gesichter sind in den Schatten von Kapuzen verborgen. In den flirrenden Lichtern, die von den Gebäuden reflektiert werden, kann man kaum Einzelheiten erkennen, aber sie sehen nach zwielichtigen Untergrundbewohnern aus.
„Hilfe!", ruft das opfer, bevor eine der Gestalten ihm den Mund zuhält. Ich bin hin und hergerissen, ob ich stehen bleiben soll, um ihm zu helfen oder weiterlaufen. Noch hat mich niemand bemerkt. Wenn ich hier draußen in irgendetwas verwickelt und erwischt werde, werden mich die Meister umbringen. Dieses Mal wirklich.
Das Messer, das dem Mann gerade an die Kehle gehalten wird, überzeugt mich leider davon, dass diese Kerle ihn umbringen, wenn ich ihm nicht helfe. Etwas in mir veranlasst mich dazu, mich einzumischen. Angst habe ich vor diesen zwei schäbig gekleideten Männern jedenfalls nicht. Ich ziehe das kleine Messer, das in meinem Stiefelschaft steckt. Es ist zwar nicht viel, aber es ist mehr, als ich brauchen werde. Den Camouflagemodus aktivierend renne ich auf leichten Füßen über das Gras, das den Platz größtenteils bedeckt. Die Männer sind dem Baum zugewandt, sodass nur der Angegriffene mich sehen kann. Seine Augen weiten sich, doch sonst zeigt er keine Reaktion.
So wie die Angreifer gekleidet sind und sich verhalten, wird man sie sicherlich nicht vermissen. Ihre Körper sind mit Tattoos bedeckt, die in der Dunkelheit glühen, ein fahrlässiges Zeichen der Gang, der sie angehören. Nur Amateure tätowieren sich. Die Polizei lässt ausnahmslos jeden verschwinden, dessen Tattoos auch nur ansatzweise nach Gang aussehen. Lautlos nähere ich mich ihnen, der Camouflagemodus lässt mich im Schatten verschwinden. Mit einem schnellen, präzisen Schnitt durchtrenne ich die Nervenstränge an ihren Wirbelsäulen. Ihre Körper sacken zusammen, wie Marionetten, denen die Fäden abgeschnitten wurden. Sie brechen zusammen, bevor sie wissen, wie ihnen geschieht und bevor sie reagieren können, habe ich das Messer, mit dem sie ihr Opfer bedroht haben, an mich genommen und beiden die Kehle durchschnitten. Meine Klinge war dafür leider zu kurz. Ich begutachte die Klinge. Das Messer sieht brauchbar aus, weshalb ich beide am Rasen abstreife und in meine Stiefel stecke.
Ich mustere den Mann, den ich gerade gerettet habe. Seine Glatze glänzt im flackernden Neonlicht und die graue, einfache Robe, verziert mit feinen silbernen Fäden, die im Dunkeln leicht schimmern, kennzeichnen ihn als Mönch des Glaubens. Der Glaube ist die einzige Religionsgemeinschaft, die in Colonia Nord praktiziert. Man ist entweder Anhänger des Glaubens oder keiner Religion. Ich gehöre zur zweiten Fraktion Er strahlt eine unerklärliche Ruhe aus, die in starkem Kontrast zu der düsteren Umgebung steht.
„Vielen Dank. Mein Name ist Yanto. Ich stehe in deiner Schuld", spricht er mit einer sanften Stimme. Was für eine skurrile Gestalt.
„Du stehst gleich im Gefängnis, wenn du dich nicht ganz schnell vom Acker machst", blaffe ich ihn ungläubig an. Er wurde gerade fast umgebracht, hat gesehen, wie ich seine Angreifer ohne mit der Wimper zu zucken niedergestochen habe und steht völlig seelenruhig unter dem Baum als wäre nichts gewesen.
„Komm mit. Uns wird nichts geschehen", sagt er wieder mit seiner Gelassenheit. Eigentlich würde ich lieber wegrennen, aber etwas an seiner sicheren Ausstrahlung beruhigt mich so weit, dass ich ihm folge. Auch wenn er schrecklich langsam ist. Da ich ihm in seiner Ruhe nicht hundertprozentig traue, aktiviere ich meine AR-Brille und scanne die Umgebung. Die grün leuchtenden Linien der Augmented Reality überlagern den kleinen Park, der absurd „Friedensplatz" genannt wird. Der Name wirkt wie ein schlechter Scherz. Meine Software zeigt mir die Positionen der Sicherheitskameras und markiert die Position einer nahenden Polizeidrohne mit einem roten Blinken. Die Drohne, ein glänzendes, eiförmiges Konstrukt mit mehreren rotierenden Sensoren, schwebt lautlos durch die Nacht und scannt die Umgebung mit ihren Sensoren. Der Verbrechensalgorithmus der Kamera, die den Platz bewacht, hat also doch auf den Hilfeschrei des Mönchs reagiert. Die Drohne kommt nur reichlich spät. Wie meistens. Ich habe keine Zeit, um das Ding zu hacken oder umzuleiten, das Einzige, was uns bleibt, ist uns schnell um die Ecke zu begeben und in der Nacht zu verschwinden. Aber Yanto lässt sich nicht hetzen.
„Eile ist das, was verdächtig ist. Wenn du nicht schuldig bist, musst du auch nicht rennen." Das ist wirklich seine Antwort auf meine Aufforderung sich zu beeilen.
„Ich bin aber schuldig!", antworte ich ungeduldig.
„Helfen ist kein Verbrechen. Vielleicht war die Methode des Helfens rabiat. Aber ohne dich würde ich jetzt dort auf dem Boden liegen." In aller Gemütlichkeit schreitet er um die Ecke, gerade als die Drohne von der anderen Seite kommend den Platz erreicht.
Mein Drohnenradar zeigt an, dass die Polizeidrohne die Leichen entdeckt hat und über ihnen schwebt, ihre optischen Sensoren blinken blau, während sie Fotos macht und die Datenbank durchforstet. Ihr leises Summen ist in der stillen Nacht kaum zu hören, aber ich weiß, dass sie jede Bewegung registrieren kann. Mein Mantel mit der großen Kapuze schützt mich vor der Erkennung, aber Yantos einfache Robe bietet keinen solchen Schutz. Die Drohne wechselt plötzlich den Kurs und steuert direkt auf uns zu, ihre Bewegung beschleunigt sich, als sie unser Gebiet abscannt. „Wir müssen hier weg! Eine Drohne verfolgt uns", raune ich Yanto zu. Er dreht sich zu mir um und lächelt milde.
„Keine Sorge. Uns wird nichts geschehen", sagt er und als ich widersprechen will, hält er die Hand hoch und legt ihn an die Hauswand. Er drückt auf einen der Backsteine und ein Fingerabdrucksensor fährt heraus, auf den er seinen Zeigefinger legt, was eine Tür öffnet, deren Außenseite so mit Backsteinen verkleidet ist, dass sie sich nahtlos in die Wand einfügt. Mit offenem Mund starre ich Yanto an. Er zwinkert mir zu und tritt durch die geheime Tür, die sich geräuschlos in der Backsteinwand öffnet. Die Tür schließt sich ebenso leise hinter uns und eine rote Notbeleuchtung erhellt den engen Gang. Die Wände des Tunnels sind mit altmodischen Leitungen und Rohren gesäumt, die in regelmäßigen Abständen leise summen. Hier und da blinken kleine grüne und gelbe Lichter auf, die angeben, dass alte und neue Technologien miteinander verbunden sind. Im roten Lichtschein erkenne ich, dass wir uns in einem engen Gang befinden, der ins Innere des Gebäudes führt.
Ein Blick auf die Karte zeigt mir, dass die Drohne gerade draußen an uns vorbeischwebt. Außerdem kann ich lokalisieren, wo wir uns befinden. Es ist ein Tempel des Glaubens, in dessen hinterem Teil wir gerade stehen. Ich habe mich beim Rennen um eine Querstraße vertan, bin also nicht weit von zu Hause entfernt. Yanto bedeutet mir, ihm zu folgen und geht den Gang entlang. Irgendwie vertraue ich ihm, weshalb ich hinterhertrotte. Der Gang führt zu einer schweren Holztür, die sich in eine Art hybriden Raum öffnet, der sowohl wie ein Büro als auch wie ein Esszimmer wirkt. Der große Glastisch in der Mitte ist von modernen, ergonomischen Stühlen umgeben. Auf dem Tisch liegen zerstreut antike Bücher, Papiere und Holo-Displays, während zwei Kaffeetassen und ein Teller voller Krümel auf eine kürzliche Mahlzeit hinweisen. Die Wände sind mit Symbolen und Gemälden des Glaubens geschmückt, die eine Mischung aus alter und neuer Kunst darstellen. Was auch immer das genau für ein Raum ist, Yanto bedeutet mir, auf einem der Stühle Platz zu nehmen.
„Ich würde mich gern bei dir erkenntlich zeigen", sagt er mit wissendem Lächeln und schenkt zuerst mir, dann sich selbst eine Tasse Tee aus einer Kanne ein, bevor er sich mir gegenüber hinsetzt.
„Du hast mir geholfen, der Drohne zu entkommen. Wir sind quitt." Ich meine tatsächlich, was ich sage. Die Drohne abzuschütteln, wäre ohne diese Tür nämlich wesentlich schwieriger gewesen.
„Ach was. Ohne mich hättest du vor der Drohne nicht entkommen müssen." Bevor ich widersprechen kann, hält er eine Hand hoch.
„Ich spüre, dass du eine besondere Gabe hast und sehe an den Silikonelementen in deinem Gesicht, dass du vermutlich nichts von ihr weißt." Mit einem wissenden Lächeln mustert er mich. Nun werde ich doch misstrauisch. Wenn nicht einmal die Drohnen erkennen können, dass ich Maskenteile trage, wie kann er das in dem schummrigen Licht sehen? Und was soll das mit der Gabe?
„Ich verstehe nicht, wovon du redest", sage ich gleichzeitig, um herauszufinden, was er meint und in Frage zu stellen, dass ich Silikonelemente in meinem Gesicht trage.
„Ich meine, dass ich dir gerne beibringen würde, wie du dein Gesicht ohne diese künstlichen Additiva verändern kannst. Die Gabe schlummert in dir. Du musst sie nur zu nutzen lernen." Na toll. Er ist doch ein Spinner. Wieso ich von einem Mönch des Glaubens etwas Anderes erwartet habe, erschließt sich mir nicht. Ich lächle gezwungen und erhebe mich.
„Ich glaube, die Drohne ist jetzt weg. Ich mache mich nun auf den Weg nach Hause", sage ich knapp. Bedauern trübt Yantos Lächeln.
„Du kannst natürlich jederzeit gehen. Ich werde dich zur Vordertüre begleiten, wenn du es wirklich wünschst. Aber ich hoffe, dass du noch einmal über das Angebot nachdenkst." Ich nicke höflich und lasse mich schweigend durch die offiziellen, schlichten Räume des Tempels zum Haupteingang führen.
„Du kannst mich jeden Abend an dem Baum auf dem Friedensplatz treffen, an dem du mich gerettet hast. Ich meditiere dort immer bis morgens früh." Ich verabschiede mich von dem Mönch und folge der Karte, die auf meiner AR-Brille angezeigt wird. Die blinkenden Markierungen leiten mich durch die dunklen Straßen, vorbei an riesigen Holo-Werbungen und flackernden Neonlichtern, die die Nacht erhellen. Während ich gehe, reflektiere ich über das Gespräch und die bizarren Ereignisse des Abends. Die Mischung aus der glühenden Stadt und den mystischen, fast altertümlichen Elementen des Tempels hat mich in eine andere Welt versetzt.
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