Zwei Wochen ist es jetzt her, seit ich Yanto gerettet habe. Zwei Wochen, seit Finnick mir gesagt hat, dass er mich mag. Zwei Wochen also, seit mein Gefühlsleben komplett durcheinandergeraten ist. Nicht nur, dass Finnicks Worte mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen haben. Meine Reaktion war falsch. Weglaufen ist das Schlimmste, was ich hätte tun können. Aber es ist das, was ich getan habe und das kann ich nicht zurücknehmen. Die Sache mit Yanto ärgert mich vor allem, weil mich seine friedliche, ruhige Art so aufgebracht hat. Und dann ist da dieses Gerede von einer Gabe, die ich angeblich besitze.
Zwei Wochen, seit ich mich das letzte Mal rausgeschlichen habe. Ich kann mich diesen Problemen nicht stellen. Ich habe noch nicht entschieden, was ich bezüglich beider Situationen tun will. Ich hatte auch nicht viel Zeit zum Nachdenken, da ich seit zehn Tagen jeden Abend auf Missionen mitgenommen wurde. Die letzten zehn Nächte waren ein endloser Strudel aus Aufträgen und Operationen, die meinen Geist zu beschäftigt hielten, um sich mit meinen eigenen Problemen auseinanderzusetzen. Heute ist mal ein freier Tag dazwischen gewesen. Ein freier Tag, an dem ich so viel wie möglich trainiert und meine Waffen gepflegt habe, um nicht nachdenken zu können. Mit jedem Schlag auf den Boxsack und jedem Wischen mit dem Poliertuch habe ich versucht, die quälenden Gedanken zum Schweigen zu bringen. Und jetzt stehe ich hier auf dem Balkon. Nachdenklich beobachte ich die schillernd beleuchteten Straßenschluchten, in denen sich die Menschen wie Ameisen tummeln. Die Stadt ist ein pulsierendes Herz aus Glas und Metall, durchzogen von den schimmernden Adern der Menschen- und Datenströme -wo ist der Unterschied? - die in der Nacht noch heller scheinen. Es ist kurz vor Mitternacht und ich lausche den Geräuschen der Stadt in der Hoffnung zwischen ihnen ein Klavier zu hören. Statt der ersehnten Klänge höre ich nur das allgegenwärtige monotone Rauschen der Stadt, das wie eine ständige Erinnerung an meine innere Unruhe klingt.
„Was will ich?", frage ich mich bestimmt zum hundertsten Mal heute. Nicht, dass diese Frage nach meinem Abgang noch relevant ist, wer würde mit jemandem nach so einer Abfuhr etwas zu tun haben wollen? Aber was, wenn doch? Wenn ich zu Finnick gehen und mich entschuldigen könnte? Was würde ich dann wollen? Ich komme nicht zu einer Antwort, obwohl meine Hand sich noch genau daran erinnert, wie es war, seine festzuhalten. Mit schweren Schritten und einem Seufzen sinke ich ins Bett, die Gedanken immer noch wie ein unruhiger Sturm in meinem Kopf. Das Fenster lasse ich offen.
Am nächsten Morgen wache ich auf und gehe durch meine übliche Morgenroutine: Badezimmer, Frühstück, langes Training, Dusche. Ich bin stolz auf mich. Ich mache merkliche Fortschritte. Zumindest hat Leandra das gesagt, als ich sie vorhin beim Sparren aus dem Ring geworfen habe. Ich habe sie tatsächlich geworfen. Odos Blick war unbezahlbar. Ich lache bei der Erinnerung an den verblüfften Ausdruck in seinem Maulwurfsgesicht.
Als nächstes begebe ich mich zur Strategiebesprechung. Ein Bankier ist unser heutiges Ziel. Er soll nicht umgebracht, sondern lediglich eingeschüchtert werden. Estera und Mirea leiten die Mission, Leandra und ich kommen auch noch mit. Dass das Team aus Frauen besteht, war der Wunsch der Auftraggeberin, da die Zielperson mehrere weibliche Angestellte sexuell belästigt hat. Bisher ist noch nichts Schlimmeres passiert, aber die Belegschaft wünscht sich, dass das so bleibt. Der Rechtsweg war offenbar nicht wirklich möglich für die Frauen, da sie zu große Angst haben, gegen so einen mächtigen und reichen Mann aufzubegehren. Dabei haben wir strenge Gesetze bezüglich Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Doch wie so häufig gehen da die theoretische Gesetzgebung und die praktische Durchsetzung weit auseinander.
Wir sind hochmotiviert dazu, diesen Auftrag sorgfältig zu erledigen. Also planen wir so gründlich wie möglich.
Mein Schleichanzug ist endlich wieder repariert. Nur ich werde heute einen Anzug tragen, da ich diejenige sein werde, die den Mann überrumpeln soll. Dafür werde ich mich von hinten aus der Dunkelheit an ihn heranpirschen. Leandra, Mirea und Estera hingegen werden sehr freizügig gekleidet sein, um als Köder zu dienen und ihn abzulenken. Als die drei ins ungewöhnlich volle Wohnzimmer kommen, wird es plötzlich mucksmäuschenstill.
Ich kann die drei Männer verstehen, die nicht wissen, wie sie reagieren sollen. Die drei Frauen sehen umwerfend aus. Die Kleider, die sie tragen, sind für meinen Geschmack ein bisschen kurz, aber noch nicht so kurz, dass sie Grenzen des Normalen überschreiten. Es sieht durchaus elegant aus, wie der dunkle Stoff, Estera in schwarz, Mirea in dunkelblau und Leandra in dunkelrot, sich jeweils an ihre Kurven schmiegt und auf die Oberschenkel fällt. Auch die Ausschnitte der Kleider sind alle tief, aber auch nicht so, dass es übertrieben wäre. Ich habe schon Frauen, und auch Männer, mit knapperer Kleidung draußen gesehen, die sich dabei völlig wohl zu fühlen schienen.
Odo errötet ein bisschen, als Leandra ihn bittet, ihre Halskette für sie zu schließen, während sie ihr langes, dunkelbraunes Haar hochhebt. Ein errötender Assassine. Ich schmunzle. Leandra zwinkert mir zu. Sie hat ihn also absichtlich in Verlegenheit gebracht. Vom Sofa aufstehend stelle ich mich zu den drei Frauen, damit wir noch einmal kurz alles Wichtige durchgehen können. Ich bin froh, nicht so herausgeputzt zu sein wie sie. Auch wenn es lustig ist, zu beobachten wie Odo und selbst der beherrschte Kaz nicht wissen, wo sie hingucken sollen und ganz interessante Ecken im Zimmer zu entdecken scheinen. Nur Severin ist stoisch wie immer und geht uns beim Packen zur Hand. Wir brauchen nicht viel. Etwas zum Fesseln, ein Werkzeug, um der Zielperson Schmerzen zuzufügen - die Auswahl fiel unverhältnismäßig schwer - ein halluzinogenes Mittel, dass die Sinneseindrücke verschärft und: Uns.
Natürlich haben wir alle noch Waffen dabei für den Fall, dass etwas schiefgehen sollte. Aber keine nennenswerten. Ich habe die in meinen Anzug eingebauten Waffen und ein Messer in meinem Stiefelschaft und die anderen drei haben kleine Messer und Revolver in ihren Handtaschen und jede ein an einem Oberschenkel befestigtes Messer, da so eine Handtasche auch einmal abhandenkommen kann. Letzte Korrekturen am Make-Up werden vorgenommen, während derer ich verstohlen noch einmal die Männer beobachte. Odo ist damit beschäftigt, Mirea, Leandra und Estera anzustarren, während diese es nicht bemerken und sogar Severin beäugt sie aus dem Augenwinkel.
Kaz jedoch schaut mich an. Er bemerkt, dass ich es bemerke und hebt eine Augenbraue. Ich ziehe meine in einem Stirnrunzeln zusammen, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich im Gegensatz zu den Meistern nicht in der Lage bin, stumm zu kommunizieren. Sein spöttisches Grinsen scheint meine Behauptung zu widerlegen.
Unser Austausch wird unterbrochen, als alle aufbruchsbereit sind und wir uns auf den Weg machen. Mit dem Aufzug fahren wir nach unten und ordern eine Kapsel, um ins Museumsviertel zu fahren, wo sich der Bankier heute Abend aufhält. Wir fahren also auf der Schnellstraße, die diagonal nach Südosten durch die Stadt verläuft am Regierungsviertel vorbei und durch den Stadtwald, der es umgibt, bevor wir nach Osten abbiegen und da sind.
Die Museen sind ein Kaleidoskop aller erdenklichen Baustile. Das Museum für zeitgenössische Kunst, an dem wir zuerst vorbeigehen, ist ein großer Bau aus Glas, der aussieht wie ein überdimensionierter Kieselstein, dem über die Jahre alle Kanten abgeschliffen wurden. Oder wie Leandra es beschreibt: Wie ein Klumpen Teig, bevor man Brötchen aus ihm formt. Oder wie Kaz so poetisch sagt: Oval. Ich denke jedenfalls immer an einen Kiesel.
Als nächstes passieren wir das historische Museum. Es sieht aus, wie ich mir antike Tempel anhand der Bilder, die wir noch von früher haben, vorstelle. Das Wissenschaftsmuseum, das direkt an die Vergnügungsmeile grenzt, zu der wir uns bewegen, ist ein großer weißer Betonklotz ohne Fenster, da dort sowieso viele Experimente im Dunkeln stattfinden und so hat jedes der vierundzwanzig Museen seinen eigenen Stil. Im Rahmen unserer Ausbildung haben wir immer wieder einmal Exkursionen in die Museen unternommen, sodass ich sie alle kenne. Inklusive der Fluchtwege, Alarmsysteme und ihrer Schwachstellen.
Eine kleine Bar ganz am Rand des Viertels ist es, die wir aufsuchen. Durch die immer wieder aufschwingende Tür kann ich das Interieur ausmachen. Es sieht genau so aus, wie es beschrieben wurde. Ein typisches Abbild der Dekadenz unserer Zeit, ein Schmelztiegel aus synthetischen Glücksgefühlen und technischer Perfektion. Oder anders gesagt: Ein überteuerter, moderner Schuppen, dessen Ästhetik vor allem in neonfarbenem Licht, weißen Oberflächen ohne Kanten und aufgetakelten, genetisch optimierten Menschen besteht, die sich zu elektronischer Musik ohne erkennbare Melodie ekstatisch räkeln. Die meisten vermutlich im Drogenrausch. Für unsere Zwecke ist es perfekt. In meiner Freizeit bevorzuge ich die Gemütlichkeit des Arcadia mit seinen heruntergekommenen Holzmöbeln und der Live-Musik. Aber beruflich ist diese anonyme Rauschparty optimal.
Die anderen drei Frauen gehen hinein und machen den Bankier schon einmal ausfindig, um ihn unter einem Vorwand herauszulocken. Das Pheromonparfum auf Mireas Schläfen glitzert leicht unter der neonbeleuchteten Oberfläche der Bar.
Ich warte in einer Seitengasse neben der Bar. Die assoziativ zusammengewürfelten Bässe und Klänge, die durch die Tür wummern, reihen sich aneinander, unterbrochen von monotonem männlichem Sprechgesang und einem Refrain weiblichen Sirenengesangs. Ohne Maske würde ich zwar kaum auffallen zwischen all den hauteng gekleideten Menschen, aber einen sichernden Außenposten zu haben und den Überraschungseffekt nutzen zu können, ist bei einem Auftrag wie diesem wichtig.
Ich verbringe meine Wartezeit damit, die Sensoren an dem Anzug korrekt zu justieren und die Verstärkungen richtig einzustellen. Leicht erhöhte Geschwindigkeit für Beinbewegungen, die Arme etwas kräftiger. Die Maske setze ich ebenfalls auf und stelle die Hintergrundgeräusche mit der Tonprisma-Funktion etwas leiser. Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass zehn Minuten vergangen sind. Noch fünf Minuten bis ich frühestens mit ihnen rechnen kann.
Meine Gedanken schweifen unweigerlich zu einer anderen Bar an einem anderen Abend. Ich versuche nicht daran zu denken, aber wenn ich nichts anderes zu tun habe, fange ich immer an, die Situation in meinem Kopf durchzugehen. Ich höre ihn immer wieder sagen, dass er mich mag und überlege, was ich alles hätte anders machen können. Was ich hätte besser machen können. Denn ich glaube, fast alles wäre besser gewesen, als wegzurennen. Aber ich bin weggerannt. Und jetzt hält er mich bestimmt für total gestört. Was ich vermutlich auch bin. Wer, der bei Sinnen ist, rennt in so einer Situation einfach weg?
Meine Gedanken möchten mir auch immer wieder Lösungsvorschläge unterbreiten, doch das lasse ich nicht zu. Grübelspiralen aus Selbstvorwürfen sind schlimm genug, aber die kenne ich. Hoffnung kann ich momentan gar nicht gebrauchen. Ich muss immer noch den Menschen, die mir mein Leben finanzieren, beweisen, dass es das wert ist. Und in letzter Zeit habe ich das nicht so überzeugend gemacht, wie ich eigentlich immer wollte.
Schritte. Estera, Mirea und Leandra kommen zusammen mit dem Mann um die Ecke.
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