Gut. Aber unklug.
Mein Wecker klingelt und ich bin sofort wach. Angestrengt lausche ich aus dem offenen Fenster heraus. Noch ist lediglich der übliche Straßenlärm zu hören. Trotzdem ziehe ich mich schon einmal an, wobei ich darauf achte, möglichst zivile Kleidung zu tragen. Eine dunkle Jeans, schwarze Stiefel und ein schwarzes T-Shirt. Bevor ich meinen Camouflagemantel anziehe, klebe ich mir die Maskenteile sorgfältig an und überschminke mein Gesicht. Sogar Lippenstift und Augenmakeup trage ich auf. Natürlich nur, damit das Make-Up insgesamt stimmig aussieht. Meine kurzen Haare muss ich nicht zusammenbinden oder frisieren, ich kämme sie nur kurz mit meinen Fingern durch.
Zur Sicherheit stecke ich noch ein kleines Messer in meinen Stiefelschaft. Ganz ohne Waffen fühle ich mich nackt. Mit eingeschaltetem Camouflagemodus klettere ich aus dem Fenster und schalte ihn unten aus, wie in den letzten Wochen immer wieder und mache mich auf den Weg zum Arcadia. Unterwegs fängt es an zu regnen, weshalb ich meine Kapuze tief ins Gesicht ziehe. Der Kleber und das Make-Up sind zwar wasserfest, aber man muss sein Glück ja nicht unnötig herausfordern. Gezwungen unauffällig gehe ich weiter, als eine patrouillierende Polizeidrohne an mir vorbeifliegt. Statt mich zu beeilen, hebe ich also ein wenig den Kopf, damit sie mein Gesicht filmen kann, um nicht verdächtig zu wirken. Die Drohne hat nichts zu beanstanden und fliegt weiter. Die Luft entweicht langsam aus meiner Lunge, während die Spannung nachlässt.
Die Tür des Arcadia ist durch den Nieselregen schon zu sehen und ich beobachte die Menschen, die hineingehen. Eine Gruppe lachender Menschen, mit moderner Kleidung in schrillen Farben und zackigen Schnitten, die zu ihren genauso gestalteten Haaren passt, betritt den Club. Sie sind etwas älter als ich, aber nicht viel. Vielleicht Anfang zwanzig. Ein tiefer Atemzug füllt meine Lungen, bevor ich entschlossen auf den Eingang zugehe. Der Geruch von nassem Asphalt und Parfum vermischt sich mit der feuchten Luft, als die Gruppe bunter Gestalten lachend eintaucht und ich folge ihnen hinein. Das Klavier steht auf der Bühne, ist aber momentan nicht besetzt. Die Bühne wird von einem warmen, gelben Licht umhüllt, das die Silhouette einer jungen Frau mit einem knallbunten Irokesenschnitt und einer Akustikgitarre hervorhebt. Die Strahlen der Scheinwerfer tanzen auf ihren Haaren und schaffen eine fast magische Atmosphäre, die die spärischen Töne ihrer Musik verstärken. Sie spielt einen aktuellen Popsong, den sie durch ihre tiefe Stimme und die fehlenden Bässe jedoch melancholisch interpretiert. Beim Refrain stimmen viele der Anwesenden mit ein.
Die Luft ist schwer und warm, während ich mich durch das dicht gedrängte Gewirr aus Körpern zur rustikalen, hölzernen Bar hindurchschiebe. Die tanzenden Lichter mischen sich mit dem leisen Murmeln der Gespräche und den emotionalen Klängen der Musik. Ich hebe meine Hand mit einer C-Coin – Karte, um mir ein nichtalkoholisches Getränk zu holen. Das antiquierte Bestell- und Bezahlsystem irritiert mich zunächst - keine Holodisplays und keine Nanobeschichtung auf dem Tresen, sondern ein menschlicher Barkeeper, bei dem ich bestelle und der meine Karte durch ein Gerät zieht - doch ich versuche mir nichts anmerken zu lassen. Meine Limo durch die Leute balancierend suche ich mir einen Platz in einer hinteren Ecke, aus der ich die Bühne und den restlichen schummrig beleuchteten Raum gut überblicken kann. Die Leute, die miteinander lachen und singen. Wie sie überspitzt die Gefühle der Musik nachspielen und Gestik und Mimik ausreizen oder die anderen, die über ihre dramatisch agierenden Freunde lachen. Die junge Frau auf der Bühne beendet ihren Song und erntet Applaus. Sie blickt sich lächelnd in der Menge um, bevor sie zum nächsten Lied ansetzt. Es scheint ein eigenes Lied zu sein, da es kein aktuell bekanntes Lied ist und auch niemand mitsingt. Viele schauen sie stattdessen gespannt an und verfolgen ihren Gesang. Es ist ein fröhlicher Text über Freundschaft mit mitreißendem Rhythmus. Ich ertappe mich dabei, wie ich mit dem Bein im Takt wippe und muss lächeln.
Mein Lächeln gefriert auf meinem Gesicht, als ich die Gruppe von Leuten sehe, die gerade hereinkommt. Fünf junge Menschen, in ihrer Mitte einer mit silbernem Haar. Mein Herz pocht. Ich schelte mich innerlich für diese übertriebene Reaktion, kann aber nicht aufhören, ihn anzustarren. Er blickt sich suchend im Raum um und zeigt dann in meine Richtung.
Natürlich nicht auf mich, sondern auf den freien Tisch, der ein kleines Stück entfernt von meinem steht. Die Gruppe bewegt sich in meine Richtung. Alle bis auf einen. Derjenige von ihnen, der am ältesten aussieht, vielleicht Anfang dreißig, geht zur Bar und bestellt Getränke. Ich löse meinen Blick von dem großgewachsenen, muskulösen Mann mit dem raspelkurzen Haar, obwohl es mir schwerfällt, da er aussieht, als könnte er in einem Kampf gefährlich sein und wende mich wieder der Gruppe zu. Sie haben den freien Tisch jetzt fast erreicht und die umherblickenden Augen des Jungen treffen meine kurz. Er lächelt flüchtig, als er meinen Blick bemerkt, und wendet sich seinen Freunden zu, bevor ich reagieren kann.
Na toll. Jetzt denkt er, ich würde ihn anstarren. Das tue ich zwar, aber das sollte der Angestarrte doch normalerweise nicht wissen. Am liebsten würde ich mir mit der Hand vor die Stirn schlagen, belasse es aber bei einem Augenrollen. Wenn er mich dabei nun auch noch sähe, könnte ich komplett vergessen- ja, was denn eigentlich? Ich bin mir gar nicht im Klaren darüber, was ich überhaupt will. Will ich ihn kennenlernen? Und wenn ja, wie macht man so etwas? Oder will ich ihn einfach beobachten? Ich hoffe jedenfalls, dass er heute wieder Musik spielt.
Der Junge und seine Freunde setzen sich um den runden Holztisch herum, sodass er nun seitlich zu mir sitzt und ich sein Gesicht im Profil sehe. Ich zwinge mich dazu, ihn nicht die ganze Zeit anzuschauen, vor allem, weil die Freunde, die in meiner direkten Blickrichtung sitzen, mich ja auch dabei sehen könnten. Und das wäre wirklich unangenehm. Meine Augen wandern zurück zur Bühne, wo der humorvolle Refrain des Songs die Menge zum Lachen und Tanzen bringt. Die bunten Scheinwerfer tanzen über die Gesichter des Publikums und schaffen eine Atmosphäre aus flirrendem Licht und Energie. Ein paar Leute im Publikum haben die Worte schon verinnerlicht und singen mit. Und auch ich merke, wie ich wieder mit dem Bein wippe.
„Das ist ein gutes Lied!", sagt plötzlich eine Stimme neben mir. Ich erschrecke mich so, dass ich froh bin, nur ein kleines Messer dabei zu haben, das gerade auch nicht in Reichweite ist, da meine Hand reflexartig zu meiner Hüfte geschnellt ist, um nach einer nicht vorhandenen Pistole zu greifen. Auf dem Stuhl neben mir sitzt der Junge. Er hat die Hände erhoben, wie um mich zu beschwichtigen, aber sein Lächeln verrät, dass er nicht wirklich Angst vor mir hat. Gut. Aber unklug.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken", sagt er und kommt mit seinem Gesicht näher in Richtung meines Ohrs, damit ich ihn über die Musik verstehen kann.
„Ich habe dich hier alleine sitzen gesehen und wollte dich zu uns einladen". Er legt den Kopf schief und mustert mich mit türkisfarbenen Augen. Warum ist er so nett zu mir? Seine Freundlichkeit irritiert mich. Was will er wirklich von mir? Misstrauisch durchsuche ich sein Gesicht nach Anzeichen eines verborgenen Plans, aber alles, was ich finde, ist ein augenscheinlich aufrichtiges Lächeln. Meine Erziehung macht es mir schwer, nicht misstrauisch zu sein, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er einen bösen Plan hat. Ich überlege, was eine andere Person in meiner Situation tun würde. Ein nervöses Lächeln zuckt über mein Gesicht. Es fühlt sich unsicher und fehl am Platz an, aber es ist das Beste, was ich in diesem Moment zustande bringe.
„Mein Name ist Finnick." Er streckt mir seine Hand entgegen und ich bin verblüfft, dass meine Hand nicht zittert, als ich sie ergreife. Seine Finger sind lang und schmal und unversehrt, vor allem im Gegensatz zu meinen vernarbten und schwieligen Händen. Künstlerhände hätte mein Vater sie genannt.
„Mona", rufe ich, da ich mich nicht traue, mich so nah zu ihm zu beugen, wie er es bei mir gemacht hat. Mona. Den Namen habe ich ewig nicht laut gesagt. Es war der Spitzname meiner Mutter für mich. Mein Vater hat immer Ramona gesagt, weil er den Namen ausgesucht hat. Warum ich jetzt gerade diesen Namen gesagt habe, weiß ich nicht, aber Finnicks Lächeln lässt mich vergessen darüber nachzudenken. Unsere Hände lösen sich voneinander und wir lauschen dem Ende des Songs. Dann steht Finnick auf und reicht mir eine Hand, um mir hochzuhelfen. Ich will sie eigentlich ablehnen, weil ich sie echt nicht brauche, aber etwas in mir möchte ihn gerne noch einmal berühren und so nehme ich sie und lasse mich von ihm hochziehen. Ich dachte, er würde meine Hand direkt loslassen, doch er hält sie weiter lose in seiner, als er mich zu dem Tisch mit seinen Freunden führt.
„Das ist Mona. Mona, das sind Sona, Nyx, Mako und Loria", erklärt er und stellt mir seine Begleiter nacheinander vor. Nyx ist der große Mann, der die Getränke mitgebracht hat. Sona – Mitte zwanzig, neongrün gefärbter Sidecut, durch eine Narbe in zwei Teile getrennte rechte Augenbraue - scheint seine Frau oder Freundin zu sein, da sie Hand in Hand dasitzen. Dass meine Hand noch in Finnicks liegt, ist mir durchaus bewusst und bei dem Gedanken erhitzen sich meine Wangen. Mako ist ein großer bärig-stämmiger junger Mann und Loria ein umwerfend schönes Mädchen mit blonden Korkenzieherlocken. Sie könnte bei den Tigerlilien als Eskortdame arbeiten, so puppenhaft hübsch wie sie aussieht.
Alle lächeln mir zu und begrüßen mich freundlich. Finnick lässt meine Hand los, um einen freien Stuhl neben seinen zu ziehen und wir setzen uns hin. Ich spreche nicht viel, sondern höre vor allem zu und lache. Mako und Loria sehen gegensätzlich aus, sie haben aber die gleiche Art von Humor und reißen unheimlich viele Witze. Sona, Nyx und Finnick sagen hin und wieder mal etwas, hören aber offenbar auch vor allem zu und lachen mit.
Als die Frau auf der Bühne aufsteht, bricht das Publikum in tosenden Applaus aus. Mako und Loria fordern Finnick dazu auf, auf die Bühne zu gehen, doch er winkt ab. Sona zwinkert mir zu. Loria sieht das Zwinkern und formt ihren Mund zu einem großen „Oh". Sie stößt Mako mit dem Ellbogen an und blickt verschwörerisch in meine Richtung. Ich würde am liebsten im Boden versinken, als Mako zu lachen beginnt. Finnick lehnt sich jedoch entspannt auf seinem Stuhl zurück und verschränkt die Arme vor der Brust.
„Merkt ihr nicht, dass ihr voll peinlich seid?" Es ist Sona, die das augenrollend zu den beiden sagt. Sie brechen in schallendes Gelächter aus.
„Als ob das etwas Neues wäre", antwortet Mako, während Loria gleichzeitig sagt: „Wir arbeiten hart daran!" Sie sehen sich an und prusten erneut los. Das Lachen hat die Situation wieder etwas entspannt. Finnick wirft mir einen entschuldigenden Blick zu und ich lächle zurück. Hin und hergerissen, ob ich will, dass Finnick nochmal Klavier spielt, oder dass er hierbleibt, lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Einige der anderen Gäste schauen Finnick an, als hofften sie, dass er die musikalische Unterhaltung übernehmen würde. Meine Entscheidung fällt also auf das Klavier und ich blicke in Richtung Bühne. Finnick legt den Kopf schief und hebt die Augenbrauen. Ich nicke ihm zu und dann in Richtung Klavier. Er steht auf und erntet Applaus. Nicht nur wir am Tisch klatschen, sondern auch viele aus dem Publikum. Finnick verbeugt sich und wirft mir ein schelmisches Lächeln zu, bevor er sich umdreht und auf die Bühne geht. Der Applaus wird lauter und verstummt erst, als er sich auf dem Klavierhocker niederlässt und zu spielen beginnt.
„Er ist wirklich großartig", murmelt mir Sona ins Ohr. Und ich kann nur nicken, als das Lied beginnt. Ich kenne das Stück nicht, das er spielt, aber ich höre jedem Ton gebannt zu. Das Lied fängt langsam an und steigert zunehmend das Tempo, bis Finnicks Hände über die Tasten zu fliegen scheinen. Die Musik wird fröhlich und der Rhythmus treibend. Jemand im Publikum fängt an im Takt zu klatschen und bald klatschen wir alle mit. Das Lied erreicht einen euphorischen Höhepunkt und ist dann plötzlich zu Ende. Unter Gejubel und Applaus sieht Finnick von den Klaviertasten auf und zu mir. Er grinst breit und ich kann nicht anders, als das breite Grinsen zu erwidern. Finnick steht auf und schüttelt lächelnd den Kopf, als jemand anfängt, nach einer Zugabe zu rufen. Zum Abschied in die Richtung des Rufers winkend verlässt er die Bühne. Sich nach links und rechts immer wieder für die Komplimente, die er erhält, bedankend, bahnt er sich langsam den Weg zurück zu unserem Tisch.
Er lässt sich auf seinen Stuhl sinken und blickt auf die Uhr. Das erinnert mich daran, dass ich auch nicht ewig wegbleiben sollte. Es ist schon nach drei und ich habe nicht bemerkt, dass so viel Zeit vergangen ist. Als ich mich zu Finnick umdrehe, sehe ich dabei scheinbar betroffen aus, da er mich mit besorgt gekräuselten Augenbrauen mustert und fragt, was los sei.
„Nichts. Es ist nur schon zu spät und ich muss gehen", sage ich und sehe dabei in die Runde. Nyx erhebt sich als erster, um sich von mir zu verabschieden. Ein fester Händedruck und die Frage: „Soll dich einer von uns nach Hause begleiten?" Mit einem unterdrückten Lachen verneine ich und versichere auch den anderen bei der Verabschiedung, dass ich heil alleine nach Hause finde.
Wäre ich, wer ich vorgebe zu sein, nämlich eine volljährige, ganz normale junge Frau, die ein selbstständiges Leben führt, würde ich es mir vielleicht anders überlegen. Würde mich von Finnick nach Hause begleiten lassen, aber in der Realität ist allein die Vorstellung absurd. Zumal ich eine Hochhausfassade hochklettern muss, um durchs Fenster in mein Zimmer zu schleichen.
Er legt mir eine Hand auf die Schulter und kommt mit seinem Mund ganz nah an mein Ohr, als er zum Abschied fragt: „Sehe ich dich morgen wieder? Gegen eins?" Sein Blick ist erwartungsvoll und das Gefühl, das sein Atem an meinem Ohr verursacht hat, macht meine Knie ganz weich, sodass ich ohne zu zögern nicke. Er drückt mir die Schulter, auf der seine Hand noch liegt, bevor er seinen Arm langsam an meinem heruntergleiten lässt und noch einmal die Hand zu einem kleinen Winken hebt. Lächelnd verschwinde ich in der Menge. Als ich mich zwischendurch umdrehe, sehe ich, dass er mir nachblickt und zuzwinkert.
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