Fleisch, das man schneiden und Knochen, die man brechen kann.
Die Verluste sind enorm. Außer Mako ist auch Nyx gefallen. Sona ist so schwer am Bein verletzt, dass sie vermutlich nie wieder wird laufen können. Das scheint ihr jedoch momentan nicht so viel auszumachen. Mit leerem Blick liegt sie auf der Brust von Nyx' Leiche und scheucht jeden weg, der sich um ihre Wunden kümmern will. Loria hat ein Auge verloren und weint sich das andere neben Mako kniend aus dem Kopf. Ich gehe durch die Reihen der Verletzten und Toten und suche nach bekannten Gesichtern. Tammy zeigt mir, wo die anderen Schattentänzer sich befinden.
Severins verzerrtes Gesicht zeigt im Tod mehr Ausdruck, als ich es lebend jemals gesehen habe. Daneben sind Mirea und Estera Rücken an Rücken aneinandergefesselt, wobei Mirea ein Einschussloch in der Stirn hat. Was ist hier bloß passiert? Estera scheint hingegen nur bewusstlos zu sein. Ihr aus zahlreichen, aber flachen Schnitten blutender Brustkorb hebt und senkt sich.
Am Ende bestanden die Meister eben doch nur aus Fleisch, das man schneiden und Knochen, die man brechen kann.
Mein Blick sucht nach Odo und Leandra. Da, an ein Heizungsrohr gekettet liegen sie auf einem Schutthaufen. Beide offenbar lebendig, wenn auch bewusstlos. Sie sind dilettantisch gefesselt. Wenn sie zu sich kommen, wird es ein Leichtes für sie sein, sich zu befreien. Ich bin kurz unschlüssig, ob ich es tun soll, entscheide mich dann aber dafür, die beiden zusätzlich mit Kabelbindern zusammenzuschnüren. Sie sind einfach zu gefährlich, um sie, vor allem ohne Erklärung der Situation, entkommen zu lassen. Leandra öffnet die Augen, als ich gerade fertig bin.
„Rae? Es ist eine Falle. Du musst fliehen. Schlangen haben uns überwältigt. Sie- Was machst du da mit den Kabelbindern? Rae? Was soll das?" Die letzten Worte bringt sie zunehmend hysterisch kreischend hervor, weshalb ich ihr noch eine Betäubung verpasse.
„Wir haben die ganze Gegend abgesichert. Keine weiteren Angreifer. Sieben Tote und 32 Verletzte. Davon sechs Gefangene", sagt eine Stimme hinter mir und ich verstehe erst, dass die Worte mir gelten, als ich mich umblicke und außer dem kleinen Jungen, der gesprochen hat, niemand neben mir steht.
„Aha", sage ich nur, unsicher, was ich mit diesen Informationen soll und wieso sie ausgerechnet mir mitgeteilt werden.
„Cassia dachte, du würdest das gerne wissen." Damit nickt er kurz und flitzt davon. Ich suche Cassia also erneut auf. Unterwegs huschen immer wieder Kinder und Jugendliche an mir vorbei.
„Diese zwei können wir nicht richtig zuordnen. Sie sind weder Schattentänzer noch Schlangen und offiziell eigentlich tot", gibt sie mir unvermittelt zu verstehen und zeigt auf zwei im Schutt liegende Gefesselte, die ich vorher gar nicht bemerkt habe. Leo und Dorrit mit Seilen umschlungen und geknebelt. All meine Mordlust ihnen gegenüber ist verflogen. Vielleicht ist es meine Erschöpfung, aber irgendwie tun sie mir fast leid, wie sie dort im Staub kauern.
„Was soll mit ihnen geschehen?", fragt Cassia mich schließlich und ich zucke mit den Schultern.
„Eigentlich wollte ich sie umbringen", sage ich und höre das protestierende Quieken der Männer.
„Aber ich glaube Gefängnis wäre die gerechtere Strafe für sie." Ich merke, dass der Gedanke wahr ist, als ich ihn ausspreche. Cassia nickt, als wäre ihr alles recht und gibt einen knappen Befehl über ihren Earpod. Kopfschüttelnd sehe ich sie an.
„Was passiert hier eigentlich? Was machen du und die anderen Kinder hier?"
„Dir den Arsch retten", antwortet sie mit völligem Ernst in der Stimme. Lediglich in ihren großen blauen Augen tanzt ein Lächeln.
„Aber warum?", frage ich sie und sie versteht offenbar, alles, was ich damit meine: Warum kümmerst du dich um mich, warum weißt du, dass ich diese Rettung nötig habe und warum riskierst du dein Leben für mich?
„Du hast mich gerettet. Nicht nur das, sondern du warst auch noch großzügig dabei. Und wir Ratten revanchieren uns. Ehrenkodex. Oder kennen die Schattentänzer so etwas nicht?" Sie lächelt kurz, als ich den Mund zum Antworten öffne, fährt sie jedoch fort.
„Nachdem du Collin getötet hast, habe ich die Leitung der Ratten übernommen. Und ich habe auf dich aufgepasst. Auf allen Wegen, die wir Ratten haben: Tunnels und Luftschächte, aber auch Serverstandorte für Drohnensteuerung und Kameraüberwachung. Oder was glaubst du, wie du so oft unbemerkt eine Hochhausfassade hoch- und runterkletttern konntest?" Bei ihren Worten schlage ich die Hände vor dem Gesicht zusammen. Ich habe mich für brillant und vorsichtig gehalten, aber scheinbar hatte ich einfach die ganze Zeit Kaz und die Ratten, die auf mich aufgepasst und Schaden von mir abgewendet haben. Wenn ich vorher noch Zweifel daran gehabt hätte, ob ich weiterhin eine Assassine sein will, wäre spätestens jetzt klar, dass ich meinen Job wegen Unfähigkeit an den Nagel hängen muss.
Statt all diese Dinge zu sagen, bedanke ich mich bei Cassia und schließe sie in die Arme.
„Jetzt müssen wir uns um Sona kümmern. Wenn jemand entscheiden kann, wie das alles weitergehen soll, dann sie", sage ich zu Cassia und zusammen gehen wir zu der Anführerin der Schlangen.
Es dauert lange, bis sie aufhört sich zu wehren, aber schließlich hört sie uns zu und wir einigen uns darauf, die Situation später zu besprechen und erst einmal unsere Spuren zu beseitigen, um die Polizei und auch direkt einige Sensationsjournalisten rufen zu können. Cassia organisiert Dateien mit Beweismaterial, die wir auf die Earpods der Gefesselten laden und nach langer und emotionaler Diskussion lässt sich Sona dazu überreden, dass die Toten in der Halle bleiben müssen, um von der Polizei als Opfer gefunden zu werden.
Dafür muss ich im Gegenzug zustimmen, dass auch Leandra und Odo verhaftet werden. Es fühlt sich falsch an, diejenige zu sein, die diese Entscheidung fällt, doch ich sehe auch ein, dass es keine bessere Möglichkeit gibt. Ich gehe noch einmal an den Schattentänzern vorbei und bleibe bei Kaz stehen. War es wirklich wahr, was er gesagt hat? Hat er aus heimlicher Liebe zu mir aus dem Hintergrund die Fäden gezogen, um all das hier einzufädeln? Und wie viel von Finnick hat er erfunden? Ist Finnick vielleicht ein Teil von ihm, den er sonst nie zeigt, so wie Mona ein Teil von mir ist? Hätte ich Kaz vielleicht lieben können, wenn alles anders gewesen wäre? Ich werde es nicht herausfinden. Aber ähnlich wie bei Leo und Dorrit macht mich sein Anblick nicht wütend, sondern nachdenklich. Und traurig. Traurig, dass unser Leben so verlief, wie es verlief und wir nicht die sein konnten, die wir hätten sein können.
Kaz erwartet eine lange Gefängnisstrafe im Hochsicherheitstrakt, wenn das hier vorüber ist. Dafür werden die Dateien vom internen Server der Schattentänzer sorgen. Und die Tatsache, dass sobald wir das Gebäude verlassen, sämtliche Medienvertreter eine Nachricht über ihre Earpods empfangen werden über das, was hier passiert ist. Die Beweismittel werden nicht nur die Beteiligung der Schattentänzer an mehreren Morden der letzten Jahre bezeugen, sondern auch beweisen, dass sie, genau wie Leo und Dorrit zum Teil auf Befehl der Regierung gehandelt haben. Bei der Vorstellung des dummen Gesichts, das der Präsident machen wird, empfinde ich so etwas wie Vorfreude.
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