Eine zusätzliche Pistole?
Nach dem Frühstück gehe ich zuerst zum täglichen Training. Nach einer halben Stunde auf dem Laufband, einem Durchgang im Laserstrahlenlabyrinth und einigen Runden an dem Dummy bin ich zwar körperlich noch nicht erschöpft, aber meine Gedanken schweifen die ganze Zeit ab, weil ich gespannt bin, ob die Gesprächsaufzeichnungen etwas Brauchbares ergeben. Ich höre also für heute auf.
Stattdessen setze ich mich an den Glastisch in meinem Zimmer und projiziere zum einfacheren Durchsuchen eine Tastatur auf die Tischoberfläche. Ich beginne zu Tippen. Zuerst verschiedene Variationen des Begriffs „Straftat". „Coup", „Streich", „ein Ding drehen" und viele andere Begriffe. Ich suche sogar online nach weiteren Synonymen und probiere auch diese. Nichts Brauchbares. Dann das gleiche noch einmal mit dem Wortfeld „Haus". „Haus", „Wohnung", „Bude", „Appartement" und alles andere, was mir einfällt. Auch nichts.
Nach über einer Stunde habe ich immer noch nichts gefunden. Wonach könnte ich noch suchen? Plötzlich habe ich einen Geistesblitz und suche nach „Morgen". Vielleicht haben sie gestern Pläne für Heute ausgeheckt. Und siehe da. Gleich mehrere Gesprächsabschnitte, die zutreffen. Ich höre sie durch. Dann projiziere ich auf den Spiegel über dem Tisch einen Bildschirm und beginne, mir Notizen zu machen. Ein Plan beginnt Gestalt anzunehmen.
Sie wollen sich heute Abend in einem Lagerhaus - das ihnen offenbar gehört - treffen. Sie werden dort einen Waffenhändler erwarten, wollen aber vorher da sein, um ihm eine Falle zu stellen, weil sie das für die High-Tech Waffen benötigte Geld nicht aufbringen können und wollen. Weil das Treffen um zehn Uhr abends stattfinden soll, wollen sie sich um acht treffen. Das heißt, ich werde mich um sieben Uhr aufmachen müssen.
Da heute alle auf Missionen sind, wird das nicht allzu schwer. Das Problem ist, dass sie logischerweise nicht darüber gesprochen haben, wo sich das Lagerhaus befindet. Ihre Zeitangaben darüber, wie lange sie jeweils zu dem Ort brauchen werden und die Positionsdaten von gestern reichen lediglich, um zwei ungefähre Orte auf der Karte zu berechnen. Beide sind relativ weit außerhalb der Kernstadt und daher gut mögliche Orte, um ein kriminelles Lagerhaus zu beherbergen. Ich werde also nicht früher da sein können, um meine Überraschung für sie vorzubereiten, sondern abwarten müssen, bis sie sich in Bewegung setzen, um zu wissen, in welche Richtung ich muss.
Zwar könnte ich zu beiden Orten im Laufe des Tages hinfahren und überprüfen, wo es eher nach einem Lagerhaus von Leo und Dorrit aussieht. Da ich aber nur den ungefähren Ort kenne und nicht das jeweilige genaue Gebäude, wäre das absurd. Nein. Ich muss mich selbst einfach gut vorbereiten. Das heißt, ich werde für viele mögliche Fälle gerüstet sein müssen. Ungünstig. Viel Gepäck mitzunehmen ist immer eine Behinderung.
Ich verbringe den Tag damit, immer wieder zum Lagerraum zu gehen, wenn gerade niemand im Wohnzimmer ist, um verschiedene nützliche Kleinigkeiten in mein Zimmer zu schaffen. Wenn ich wieder zurück bin, werde ich alles, was nicht verbraucht ist, zurücklegen. Dann wird es kaum auffallen, dass etwas fehlt. Ich lege alles auf meinem Bett aus und packe meine Manteltaschen und meinen Gürtel und die Stiefelschäfte. Dann packe ich alles wieder aus und breite die Sachen an einer anderen Stelle aus. Sortiere noch einmal aus und packe noch einmal alles ein. Besser. Aber immer noch nicht gut genug. Ich packe wieder aus, überlege erneut, packe wieder ein. So wird es gehen.
Ich sehe mir alle Sachen an, die ich jetzt nicht eingepackt habe. Klebeband werde ich nicht brauchen. Zusätzliche Messer auch nicht. Die in den Unterarmen des Anzugs eingearbeiteten Dolche und drei Wurfmesser werden mir reichen müssen. Eine zusätzliche Pistole? Ich zögere kurz. Die Pistole im Handschuhfinger ist mir mit ihren fünf Schuss alleine zu heikel, weshalb ich noch eine E-Pistole dabeihabe. Aber noch eine? Im Stiefelschaft hätte ich vielleicht noch Platz- Nein. Eine Pistole und die Notschüsse aus dem Finger müssen reichen. Ein Seil brauche ich nicht, da ich den Enterhaken mit seiner Winde im Anzug habe. Auch den Glaskleber lasse ich hier. Wenn ich einen Enterhaken habe, ist es unwahrscheinlich, dass er nicht ausreicht. Zwei Rauchbomben und eine Blendgranate habe ich an meinem Gürtel befestigt. Das muss auch genügen. Ich fülle noch das Magazin mit Betäubungspfeilen in dem anderen Handschuh auf und überprüfe den Inhalt meiner Manteltaschen. Wundkleber und Nährgel bleiben drin. Den Proteinriegel packe ich doch aus. Das Nährgel kann mich im Notfall mit Nährstoffen versorgen. Das reicht.
Es muss funktionieren. Ich versuche es mir einzureden, doch die Zweifel bleiben. Ich überlege, ob ich nicht doch noch etwas warten soll, herausfinden, wo genau das Lager ist, mehr über die beiden Männer lernen. Aber ich will nicht mehr warten. Will nicht, dass diese Menschen noch weiter dort draußen herumlaufen und Verbrechen begehen. Die Ironie fällt mir durchaus auf.
Es muss funktionieren. Ich zwinge mich, daran zu glauben, obwohl die Zweifel nagen.
Es klopft an meiner Tür. Verdammt. Schnell schäle ich mich aus dem Anzug, zum Glück habe ich ihn über meine Alltagskleidung aus einer schwarzen Leggings und einem grauen T-Shirt angezogen, und hänge ihn zusammen mit dem Mantel in den Schrank. Dann schiebe ich schnell alle übrigen Dinge unters Bett. Ich gehe zur Tür und öffne sie. Vor der Tür steht Kaz und hat die Hand erhoben, als wollte er gerade noch einmal klopfen. Er zieht eine Augenbraue hoch, als er meine zerzausten Haare bemerkt und lässt den Blick durch mein Zimmer schweifen. Ich unterdrücke den Drang, schuldbewusst umherzublicken, um zu überprüfen, ob ich irgendetwas vergessen habe. Selbst wenn, hätte ich jedes Recht, Assassinenzeug in meinem Zimmer herumliegen zu lassen.
„Was willst du?", fauche ich ihn an. Ein lässiges Halblächeln verzieht sein Gesicht hämisch. Als wüsste er, dass ich etwas verstecke. Als wüsste er, dass ich etwas plane. Seine Augen, die im Licht des Flurs funkeln, bohren sich in meine.
„Leandra will, dass ich dich frage, ob du etwas essen willst. Sie hat gekocht." Mir fällt ein Stein vom Herzen. Auch, weil ich tatsächlich hungrig bin.
„Danke", sage ich knapp und will aus der Tür treten und sie hinter mir schließen, doch Kaz bewegt sich nicht aus dem Türrahmen, sodass ich mit ihm zusammenpralle.
„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, dass du etwas verheimlichst." Seine Stimme ist leise. Gefährlich leise, als er das sagt.
„Gut, dass du es besser weißt", zische ich und schubse ihn mit einem kräftigen Stoß aus dem Weg. Er lacht grimmig. Ich stürme an ihm vorbei in die Küche, wo Leandra gerade ihr Menü für zehn Personen auf dem Tisch ausbreitet.
Leandra liebt kochen. Sie kommt leider selten dazu. Deshalb kompensiert sie die vielen verpassten Gelegenheiten, indem sie verschiedene Gerichte auf einmal kocht. Es gibt mehrere Sorten Laborfleisch - warum es Laborfleisch und Laborleder heißt, ist mir nie nicht so richtig klar gewesen. Wieso es so heißt, zwar schon, weil es aus dem Labor kommt, da man wegen der strengen Naturschutzgesetze keine Tiere mehr schlachtet. Aber wieso wir Laborfleisch sagen, frage ich mich schon lange. Wir sagen ja auch nicht Plantagengemüse, obwohl unser Gemüse aus den Vertikalplantagen am Stadtrand kommt. – Jedenfalls gibt es Laborfleisch in verschiedenen Varianten, geschmort, gebraten, gegrillt. Dazu verschiedene Soßen. Braune Bratensauce, weiße Sahnesauce und eine rote Tomatensalsa. Gemüse in gedünsteter, gekochter, überbackener und scharf angebratener Form. Es riecht umwerfend. Die Aromen der Speisen vermischen sich mit denen von Thymian, Estragon, Rosmarin und anderen Kräutern, die ich gar nicht alle benennen kann. Ich glaube ein paar davon sind eigentlich nicht einmal Kräuter, sondern Blumen. Egal.
Von allem etwas nehmend esse, esse, esse ich. Eigentlich versuche ich, nicht zu viel zu essen, weil ich später ja noch fit sein muss. Aber es ist einfach zu gut. Plötzlich kommt mir der Gedanke, dass dies eine würdige Henkersmahlzeit wäre und mir vergeht schlagartig der Appetit. Die anderen Schattentänzer am Tisch bemerken nicht, dass ich früher als sonst aufhöre zu essen, sondern schlagen sich in ausgelassener Stimmung weiter die Bäuche voll. Die Uhr zeigt 18:33 an. Bald muss ich los. Und die anderen auch, wie ihnen plötzlich auffällt. Mit einem Mal schlingen alle schnell das auf ihrem Teller Befindliche herunter. Es werden Schüsseln abgedeckt und Teller in die Spüle gestellt, bevor alle sich in ihre Zimmer begeben. Ursprünglich hatte ich gedacht, dass jetzt alle schon weg wären. Das Essen hat alles durcheinandergebracht.
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