Deswegen sollten wir die Tropfen gegen Übelkeit nehmen.
Estera legt einen Finger an die Lippen, ihre Augen scharf und konzentriert. Sie bewegt sich langsam und leise auf die Tür des Raumes zu, ihre Schritte so leicht, dass sie kaum den Boden berühren. Ihr Körper scheint in perfekter Balance, jede Bewegung ist präzise und kontrolliert. Sie bedeutet Kaz, das Fenster zu schließen und hebt dann eine Hand, damit wir warten. Ein horizontaler Kreis mit dem Zeigefinger: Sie wird sich kurz umsehen. Gespannt schaue ich ihr nach. Wie sie sich völlig lautlos und geschmeidig wie eine Katze um die Ecke durch die Tür bewegt und den dahinter liegenden Flur entlangschleicht. Konzentriert, aber die ganze Zeit bereit zu reagieren, falls etwas passieren sollte. Die Meisterin ist in der Dunkelheit nicht mehr zu erkennen. Und zu hören sowieso nicht. Als hätte die Finsternis sie verschluckt. Die Kälte des verlassenen Bürogebäudes kriecht mir unter die Haut. Der Geruch von Staub und altem Papier hängt in der Luft, und irgendwo tropft Wasser leise in die Stille.
Ich drücke auf meinen Earpod und fahre meine AR-Brille aus. Die Welt um mich herum wird in grelles Infrarot getaucht. Jeder Schritt von Estera ist kaum mehr als ein Flüstern im Dunkeln, und ich sehe sie durch die Wärmebildkamera, wie sie sich zielstrebig auf einen Raum zubewegt. Zwei weitere Schemen befinden sich darin. Mein Herz schlägt schneller, als ich Esteras Fortschritte verfolge. Die Nervosität kriecht in mir hoch wie eine kalte Schlange, und meine Hände sind schweißnass. In meinem Kopf spielen sich unzählige Szenarien ab – was, wenn wir entdeckt werden? Was, wenn Estera in eine Falle läuft? Die Ungewissheit zerfrisst mich, doch ich zwinge mich, ruhig zu bleiben. Die Missionsroutine hilft, die Angst zu unterdrücken. Estera ist nicht in Gefahr. Sie ist die Gefahr. Sie bleibt kurz stehen und geht dann langsam weiter. Eine der Personen bewegt sich gerade in ihre Richtung, vermutlich in die Nähe der Tür. Bleibt stehen. Geht zurück. Bewegt sich wieder in die vorherige Richtung. Bleibt stehen und geht wieder zurück. Diese Person scheint nervös auf und ab zu gehen. Estera bleibt parallel zu den Menschen stehen und plötzlich höre ich zwei hohe „Popp"-Geräusche und die Gestalten gehen zu Boden.
Schallgedämpfte Schüsse. Estera hat sie erschossen. Sie kommt, jetzt normal gehend, um die Ecke, um uns zu holen. Wir folgen ihr zu dem Büro, in dem die zwei anzugtragenden Männer mittleren Alters liegen. Die sauberen kleinen Einschusslöcher in ihrer Stirn sehen gar nicht gefährlich aus. Das Blut, das sich in zwei Lachen auf dem Boden auszubreiten beginnt, möchte in meiner Erinnerung ein Bild wachrufen. Mein Vater. Meine Mutter. Auf dem Boden. Doch ich unterdrücke es und greife schnell die zwei Jacken, die an der Garderobe am Eingang des Raums hängen und lege sie unter die Körper der Männer, um das austretende Blut aufzusaugen. Natürlich aus rein pragmatischen Gründen und nicht aus Selbstschutz vor den posttraumatischen Flashbacks, die mich heimsuchen wollen.
„Gut reagiert", sagt Estera knapp und sieht noch ernster aus als sonst, als sie zwei Sägen und Beutel aus ihrem Rucksack holt. Odo greift in seinen Rucksack und holt mit grimmiger Miene die gleichen Instrumente aus seiner Tasche. Ich muss schockiert aussehen, denn Estera durchquert mit großen Schritten den Raum und stellt sich, eine Hand auf meine Schulter legend, direkt vor mich und blickt mir ins Gesicht.
„Wir müssen auf dem Weg gehen, auf dem wir gekommen sind." Sie sucht in meinem Gesicht nach Verständnis, doch mein trockener Mund lässt mich keine Zustimmung formulieren.
„Wir können die Leichen nicht anders beseitigen und sie dürfen auf keinen Fall gefunden werden." Deswegen sollten wir die Tropfen gegen Übelkeit nehmen. Ich schaue Kaz an. Er ist bleich, nimmt aber eine der Sägen, die Odo ihm hinhält und geht zu einer der Leichen hin. So wie er dort liegt, muss es der Mann gewesen sein, der auf und ab gelaufen ist. Jetzt liegt er ganz still da. Kaz hockt sich neben dem toten Körper nieder, Odo ihm gegenüber und zuerst schweigend, dann ab und zu leise fluchend, beginnen sie auf beiden Seiten dem Mann die Unterarme abzusägen. Estera schiebt sich in mein Blickfeld.
„Das ist Teil unseres Jobs. Deines Jobs. Wir haben das geübt. Du kannst das." Sie klingt wesentlich überzeugter, als ich mich fühle. Dass sie mich nicht kalt anschnarrt und mir vorwirft, ich solle mich nicht so anstellen, rechne ich ihr hoch an. Estera hat Mitgefühl mit mir. Der Gedanke wärmt mein Herz ein wenig, als ich ihr eine Säge abnehme und mich an das makabre Werk mache. Die Geräusche des Sägens sind unerträglich, und ich muss mich zwingen, nicht wegzuschauen. Doch schlimmer als das, was ich höre und sehe, ist das Gefühl der Säge, die durch das menschliche Fleisch gleitet. Ich sage mir immer wieder, dass dies Teil meines Jobs ist, doch mit jeder Handbewegung verlieren die Worte an Bedeutung.
Wir wickeln die Leichenteile und die blutgetränkte Kleidung in die Beutel aus Folie und kleben diese mit dem Klebeband zu. Odo und Estera verstauen die Teile in ihren Rucksäcken und auch Kaz packt einen Rucksack, den er zusammengefaltet in der Tasche seines schwarzen Parkas hatte, aus und stapelt die Körperteile hinein. Ich mache mich in der Zeit daran, mit Wasserstoffperoxid und Papiertüchern den gesamten Boden abzuwischen und mit einem Luminol-Gemisch und UV-Licht nach Blutspritzern, die beim Sägen verteilt worden sind, zu suchen. Ich finde natürlich nur dort welche, wo ich gearbeitet habe und wische auch sie mit dem Wasserstoffperoxid ab. Die Tücher stecke ich ebenfalls in einen Beutel und gebe diesen Estera, die ihn wortlos verstaut. Noch ein kurzer Blick durch den Raum, bevor wir wieder gehen. Schweigend, mit grimmigen Gesichtern. Jeder von uns in seine eigenen Gedanken vertieft.
Die Fassade herunterzuklettern ist sogar noch wesentlich schwieriger, als es war, sie hochzuklettern, aber da ich nicht mehr gespannt darauf warte, was passieren wird, scheint die Zeit schneller zu vergehen. Wir wollen alle einfach schnell nach Hause. Die anderen tragen zwar die Leichenteile in Rucksäcken auf ihrem Rücken, aber für mich war es erst der dritte Auftrag überhaupt und der erste dieser Art. Der erste, bei dem ich einen Menschen in Teile zersägen musste. Es hat also jeder von uns irgendwie sein Päckchen zu tragen und die Last des Erlebten drückt schwer auf uns alle. Ich weiß nicht, ob es mich beruhigt, dass auch die anderen Schattentänzer offenbar nicht so abgestumpft sind, dass sie solche Arbeiten leichtfertig erledigen. Odo und Estera müssen so etwas schon hunderte Male gemacht haben und wirken trotzdem bedrückt.
Interessanterweise war es nach den ersten circa zehn Minuten gar nicht mehr so schlimm, den Körper zu zerteilen, sondern wurde zu einem fast mechanischen Vorgang. Die Bilder meiner eigenen Hände, wie sie die Hände und Füße eines Mannes in Müllbeutel wickeln, scheinen in meinem Kopf so weit weg, als wären sie vor langer Zeit passiert. Estera hat Recht. Auch so etwas ist Teil meines Jobs und ich habe jahrelang nicht nur geübt, wie ich angreife und mich verteidige, sondern auch, wie ich töte, wie ich verletze, ohne zu töten, wie ich foltere, wie ich Folter widerstehen kann - das sind die unangenehmsten Erinnerungen, die ich habe, weil man so etwas ausschließlich durch Erfahrung lernen kann - und wie ich Leichen unauffällig beseitige. Wo man mit der Knochensäge ansetzen muss, um Gliedmaßen vom Körper zu teilen und dabei möglichst wenig Sauerei anzurichten, wie man Leichen in welcher Säure auflöst, in Seen versenkt oder so platziert, dass sie wie natürlich oder selbstverschuldet gestorben aussehen und: Wie man Leichen so entsorgen kann, dass man drumherum genau die richtigen Indizien verteilt, um jemand anderem einen Mord anzuhängen. Ich wusste immer, dass ich all dieses Wissen früher oder später brauchen werde. Ich dachte nur scheinbar, dass es eher später als früher das erste Mal so weit sein wird.
Wir besteigen die Kapsel, die Estera gerufen hat und düsen schweigend nach Hause. Irgendwie hat die Welt etwas an Farbe und Zauber verloren. Das rötlich funkelnde Licht erinnert mich nur noch an Blutspritzer. Vielleicht hätte ich die Übelkeitstropfen doch nicht nehmen sollen, dann hätte ich wenigstens kotzen können, um das Gefühl zu haben, mich der Bilder entledigen zu können.
Wir kommen an und Estera entlässt mich für heute. Um die Entsorgung der Teile werden sich die Meister kümmern. Unfähig zu sprechen, nicke ich und gehe in mein Zimmer, um mich meiner Kleidung zu entledigen. Sie trägt zwar keine Spuren dessen, was wir heute Abend getan haben, fühlt sich aber trotzdem klebrig an. Ich stopfe sie angewidert in den Wäscheschacht, damit die Reinigungstechnik ihre Arbeit tun kann. Doch unter den Klamotten kommt mir meine Haut immer noch schmierig vor. Eine angewiderte Gänsehaut überläuft meinen Körper. Die Zähne zusammenbeißend dusche ich lange und heiß, um das Gefühl loszuwerden.
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