Bist du jetzt zum Menschenfreund mutiert?
Nach einigen Tagen beginnen die schillernden Farben meiner Blutergüsse und Prellungen zu verblassen. Die intensiven Violett- und Blautöne weichen allmählich einem dumpfen Gelb und Grün. Die Kratzer und Platzwunden, die mich wie ein zersplittertes Kunstwerk zieren, haben aufgehört zu bluten und verkrusten langsam. Der Schmerz, der mich bisher wie ein ständiger Begleiter durch die Tage gepeinigt hat, wird endlich erträglicher. Ich kann mein Zimmer wieder verlassen. Die leuchtenden Neonschilder draußen werfen farbige Reflexe durch die Glasfront, die den schummrigen Flur in ein Kaleidoskop aus Lichtern tauchen. Nach einer Woche helfe ich bereits wieder bei täglichen Haushaltsaufgaben.
Kaz gehe ich aus dem Weg. Und er mir scheinbar auch, da ich ihn noch nicht gesehen habe. Die anderen Schattentänzer sind natürlich viel unterwegs, sodass ich häufig alleine herumsitze. Das hat mich jedoch noch nie gestört. Freundschaften haben wir untereinander sowieso nicht. Ich verbringe viel Zeit auf der Terrasse, die mit ihrem verspiegelten Glasgeländer einen perfekten Blick das Stadtmeer bietet. Die Aussicht ist atemberaubend: Unter mir das pulsierende Herz Colonia Nords, mit seinen schillernden Lichtern, schwebenden Transportkapseln und den schattigen Gassen, durch die das Leben pumpt. Über mir der endlose Himmel, der in allen Schattierungen leuchtet, je nachdem, welche Werbeanzeigen gerade an den Wolkenkratzern projiziert werden. Dazu das Potpourri aus Düften der Stadtluft: Die Aromen von nassem Asphalt und fernen Gewürzen aus den Restaurants unten bringt der Wind mit sich mit sich. Hier draußen finde ich eine Art trügerischen Frieden.
Am neunten Tag mischt sich aus einem Loft unter unserem ein vertrautes Kichern in die Geräusche des Stadtlebens. Die Mädchen unten sind tagsüber oft zu Hause, weil sie genau wie wir Schattentänzer nachts arbeiten.
Sie sind Eskortdamen.
Viola, eine imposante Frau mit einer Vorliebe für extravagante Mode und scharfsinnige Geschäftsstrategien, hat mit ihren „Tigerlilien" ein Imperium aus Eleganz und Begierde geschaffen. Ähnlich wie die Meister der Schattentänzer nimmt sie ab und zu junge Mädchen und den ein oder anderen Jungen von der Straße auf. Um ihre Lilien an gut zahlende Männer - und Frauen – zu vermieten. Der Nachwuchs lernt dann das Business im Rahmen einer umfänglichen Ausbildung kennen und fängt bei Erreichen der Volljährigkeit mit achtzehn Jahren an zu arbeiten. Bis auf wenige formale Anlässe hatte ich mit dem giggelnden Hühnerhaufen zum Glück nie viel zu tun. Mit ihrer Eitelkeit und ihren absurd weichen Körpern sind sie mir zuwider.
Über meinem Kopf kreisen Drohnen, die den Verkehr und die Sicherheitslage überwachen, während Hologramme von Anzeigen an den Gebäudefassaden flackern und für die neuesten Earpods werben. Die Technologie, die uns umgibt, ist ein ständiger Begleiter in unserem Leben, ein Zeichen des Fortschritts und gleichzeitig ein Symbol der Kontrolle.
Erneutes Kichern.
Ich schaffe es nicht mehr, mich in meinen Gedanken über Colonia Nord zu vertiefen, weil die Tigerlilien und die Absurdität ihrer Existenz sich in meinen Kopf schieben. Ihr Lachen klingt in meinen Ohren hohl und falsch, eine Fassade. Grollend setze ich zu einer mentalen Schimpftirade an, werde aber darin unterbrochen.
Mein Earpod meldet eine neue Nachricht. Die elektronische Stimme erinnert mich daran, dass ich meine tägliche Dosis Schmerzmittel noch nicht genommen habe.
Ich verlasse also stöhnend die Terrasse, um mir ein Getränk zu meinen Pillen zu holen, als Kaz um die Ecke kommt und wir fast zusammenstoßen. Wir schrecken beide hoch und verfallen augenblicklich in eine defensive Körperhaltung.
Interessant.
Ich verhalte mich defensiv, weil meine Verletzungen noch nicht so weit geheilt sind, dass ich mich schon wieder prügeln will. Ich habe schließlich heute erst angefangen, wieder ein wenig zu trainieren. Aber Kaz? Warum ist seine erste Reaktion, sich vor mir verteidigen zu wollen? Das ist es sonst nie. Ich bin neugierig und mustere ihn mit meinem besten Jägerblick. Und der ist schon ziemlich gut. Den Kopf leicht auf die Seite legend und die Beute fixierend. Kaz entspannt sich. Aber es sieht forciert aus. Als würde er sich dazu zwingen müssen, seine Muskeln zu lockern. Er streckt den Arm aus, um mir zu bedeuten, vorzugehen und ich setze mich in Bewegung, beobachte ihn jedoch bei meinen ersten Schritten weiter. Es ist ihm sichtlich unangenehm, dass ich ihn überrascht habe, wie er so unvorsichtig war. Ich setze dieses Verhalten auf die Liste der Dinge, über die ich in den nächsten Tagen nachdenken werde.
„Erst der gackernde Weibermob da unten und jetzt nervst du mich auch noch", versuche ich ihn anzublaffen. Doch selbst in meinen Ohren klingt es halbherzig, die Schärfe fehlt.
Kaz reagiert mit einer Ruhe, die mich fast aus der Fassung bringt. „Du solltest nicht so hart zu ihnen sein", sagt er mit einer Sanftheit, die ich bei ihm noch nie gehört habe. Fast als wäre er ein anderer, ein normaler Mensch. Und keine blutrünstige Bestie. Ich rolle genervt mit den Augen und versuche, meine Abscheu nicht zu deutlich zu zeigen.
„Bist du jetzt zum Menschenfreund mutiert? Kazimir der Frauenversteher?" Ich lege so viel Abscheu wie möglich in meine Stimme, doch provoziere nur ein kleines Kopfschütteln. Mit einer beleidigenden Geste, die andeutet, was er meinetwegen mit den leichten Mädchen machen soll, wenn er es sich leisten kann, verabschiede ich mich und hole mir in der Küche das Getränk, für das ich überhaupt erst reingegangen bin. Anschließend setze ich mich zurück auf die Terrasse und schalte über meinen Earpod Musik ein, weil mir das alberne Giggeln von unten auf die Nerven geht. Dämliche Weiber. Die sollten mal so etwas durchmachen wie ich. Wobei sie wahrscheinlich am nächsten Tag durch künstliche Heilungsbeschleunigung wieder einsatzbereit wären und alle Prellungen perfekt überschminken würden. Lediglich die künstlichen Nägel oder die schönheitsoperierten Nasen müssten vielleicht wieder angeklebt werden.
Plötzlich durchzuckt mich eine Idee. Adrenalin schießt durch meine Adern und lässt mich so schnell von meinem Liegestuhl aufspringen, dass ich sofort wieder vor Schmerz zusammensinke. Hastig fahre ich meine AR-Brille aus, die virtuelle Tastatur erscheint vor meinen Augen, und meine Finger fliegen darüber hinweg, während ich mir Notizen mache, um meine Gedanken zu ordnen. Ich beginne meine Recherche. Irgendwann bemerke ich, dass Kaz am Terrassengeländer steht. Ich scanne seine Haltung und Mimik von der Seite, um abzuschätzen, in welcher Laune er sich befindet. Die Sonnenstrahlen reflektieren auf dem Glasgeländer und werfen tanzende Lichter auf sein Gesicht, was es mir erschwert, seine wahren Emotionen zu erkennen. Er scheint jedenfalls nachdenklich. Zumindest ist er nicht hier, um mich zu ärgern. Gut. Denn dafür habe ich gerade keinen Nerv. Ich lese noch zwei Sätze zu Ende, die Buchstaben tanzen vor meinen Augen, während mein Geist auf Hochtouren arbeitet. Dann fahre ich die AR-Brille ein und räuspere mich. Sein Profil verzieht sich zu einem kleinen Halblächeln. Nur weil ich ihn kenne, weiß ich, dass das Lächeln sich auf der anderen Seite des Gesichts nicht fortsetzt, auch ohne es zu sehen.
„Was willst du hier?", frage ich ihn irritiert.
„Dasselbe könnte ich dich fragen", war seine einzige Antwort.
„Aber ich war zuerst hier", schnauze ich ihn an, obwohl ich mir dabei kindisch vorkomme. Kaz dreht sich um, lehnt sich mit dem Rücken lässig an das Geländer und stützt sich mit den Ellbogen darauf. Er ist zu betont entspannt, als dass ich es ihm nach seiner Nervosität von vorhin abkaufen würde.
„Hast du schon eine Idee, wie es mit dir weitergehen kann?", fragt er mich im Plauderton.
„Das geht dich gar nichts an und das weißt du genau", spucke ich giftig aus. Kaz hebt eine Augenbraue und mustert mich. Ich versuche mir nichts anmerken zu lassen, ihn nicht erkennen zu lassen, dass ich vorhin einen Geistesblitz hatte. Dass ich kurz davor bin, einen handfesten Plan zu haben. Das Grinsen, das sich auf Kaz' Gesicht ausbreitet, dürfte bedeuten, dass ich Erfolg habe und er mir hämisch die vermeintliche Ausweglosigkeit meiner Lage zeigen will. Ich presse die Lippen aufeinander, als wäre ich frustriert und wende meinen Blick scheinbar in Richtung Stadt. Innerlich brodelt es in mir. In Neonfarben leuchtende Anzeigen projizieren riesige, lebendige Bilder in den Himmel, die neueste Mode, AR-Brillen und sogar Lebensmittel bewerben. Zwischen den Gebäuden ziehen sich sonnenbeschienene Straßen hindurch, auf denen sich die Menschenmassen wie Ameisen bewegen. Drohnen fliegen surrend durch die Luft, überwachen den Verkehr und liefern Pakete in die schwindelerregenden Höhen der Wolkenkratzer.
Aus dem Augenwinkel behalte ich aber die ganze Zeit Kaz im Blick, bis er sich wegdreht. Ich kann sein Gesicht jetzt nicht mehr sehen, doch seine lässige Körperhaltung mit den aufs Geländer gestützten Ellenbogen vermittelt eine Ruhe, die so gar nicht mit dem übereinstimmt, wie er sich vorhin verhalten hat. Entweder er strengt sich sehr an, um entspannt zu wirken, oder es hat sich etwas geändert. Da ich ihn nicht fragen kann, zumindest nicht, wenn ich eine wahrheitsgemäße Antwort erwarte und mein Gesicht wahren will, wende ich den Blick stattdessen wieder in die Ferne.
Die Wolkenkratzer der Stadt erstrecken sich mit ihren im Licht der untergehenden Sonne glitzernden Fassaden bis zum Horizont. Über viele der mit holografischen Anzeigen übersäten Häuser können wir aus dieser Höhe hinwegsehen, aber vor allem im Regierungsviertel sind die weißen Türme mit ihren verglasten und bepflanzten Fassaden wie ein Gebirge, das in den Himmel ragt. Momentan ist der Himmel klar, aber wenn dicke Regenwolken ihn bedecken, hüllen sie die Spitzen der höchsten Häuser in ihren wattigen Dunst ein. Diese Stadt, ein Schmelztiegel aus Technologie und Menschlichkeit, ist mein Zuhause und mein Gefängnis zugleich.
Kaz' Earpod piept und reißt uns beide jäh aus unseren Gedanken. Er zuckt am Geländer zusammen und ich schrecke auf meiner Sonnenliege nach vorn, was mir wieder einen stechenden Schmerz durch Rücken und Rippen jagt. Mit einem Augenzwinkern verabschiedet er sich. Ich rolle mit den Augen und lasse mich zurücksinken.
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