Das Everlive Protokoll
Entnervt legte Kai die Patientenakte beiseite und griff sich nochmal den Ordner der ‚Everlive Ltd.'. Dieser ganze Unsinn würde wahrscheinlich sowieso nicht funktionieren. Seine Augen starrten auf den Inhalt, ohne ihn zu sehen. Alles in ihm widerstrebte dem, was er darin wieder und wieder gelesen hatte. Er knallte dieses Manifest der Eitelkeit auf den Tisch, schnappte sich sein Stethoskop und stürmte aus dem Arztzimmer der Chirurgie. Nach der Visite würde er die vorgeschriebenen Schritte einleiten müssen. Er wusste nicht, was sich die Leute da draußen so alles für einen Schwachsinn ausdachten. Das hier grenzte wahrhaft an krankhaften Narzissmus, befand er. Aber es gab nichts zu rütteln daran: Die Patientenverfügung war eindeutig.
Etwa dreißig Minuten später kehrte er ins Arztzimmer zurück und sah das geduldige Schriftstück immer noch da rum liegen. Gerne hätte er für jene Zeitspanne vergessen, was ihnen bevorstand. Es war ihm nicht gelungen: Dieser schreckliche Patient hatte einen Vertrag mit diesen Verbrechern abgeschlossen und eine horrende Summe dafür bezahlt, dass man seine Schädelkalotte öffnete, sie abnahm, sein Gehirn mit einer Art organischem Elektrodennetz abdeckte und die Neuroinformation damit in eine elektronische Hardware zu übertragen, welche die ‚Everlive Ltd.' ebenfalls bereitstellte. Danach, so war es beschrieben, würde diese Hardware in eine Art Avatar eingesetzt, was letztlich nichts anderes war, als eine Art Plastikreplika des Patienten. Dann werden sie ihn booten, wie einen Computer. In der Patientenverfügung stand, dass der Prozess im Falle eines Komas genau nach zwölf Monaten durchzuführen sei. Der Zeitpunkt, wann das eintrat, war morgen gegen 17:12 Uhr. Laut Patientenakte wurde vor genau 364 Tagen zu diesem Zeitpunkt diagnostiziert, dass er im Koma lag. Nichtbeachtung der Regelung habe die juristische Verfolgung der entscheidenden Personen, sowie der medizinischen Institution zur Folge, welche für den komatösen Patienten verantwortlich sei. Dieser Teil des Dokuments war regelrecht aggressiv, da hier versichert wurde, dass ausreichend Mittel zur Verfügung standen, um das Krankenhaus für Jahre mit Prozessen zu überziehen. Wie viel das alles gekostet haben mochte, war jenseits seiner Vorstellungskraft. Was dabei schief gehen konnte? Er hatte keine Ahnung! Das farbige Hochglanzpapier in dem Ordner sprach davon, dass dieses Verfahren zuvor an zehntausenden von Mäusen, Schweinen und später an hunderten von Menschenaffen getestet worden war. Das Ausmaß an Verachtung, welches er in Anbetracht der unermesslichen Tierquälerei empfand, die allein dem Zweck der Eitelkeit von reichen Menschen diente, konnte er nicht in Worte fassen. Und er wusste eines: Im Falle eines Versagens stand der Ruf des Krankenhauses, der chirurgischen Abteilung und nicht zuletzt sein eigener auf dem Spiel. Denn es war der erste Fall weltweit, bei dem man das Verfahren anwenden würde. Der Mann war früher ein gewiefter Geschäftsmann, dachte er. Der Patient hatte sogar an die Vermarktung dieser Aktion gedacht. Ein Teil der Verfügung beschäftigte sich damit, ein Filmteam von Nerdfix zu kontaktieren, dem er eine Option auf die Exklusivrechte für den Dreh dieses ‚Seelentransfers' verkauft hatte. Die ganze Welt sollte dabei zusehen, wenn der erste Mensch auf Erden den Weg in die Unsterblichkeit antrat. Dieser verdammte Narzisst brauchte ein Publikum, dem er zeigte, dass er, indem er den Tod besiegte, stärker, reicher und schöner war als alle anderen. Er verspürte Lust, aufs Klo zu gehen und zu kotzen. Aber das tat er nicht. Er blieb sitzen, griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer, die sich vorne auf dem Titelblatt des Ordners befand.
Als das Live Streaming Event am Abend angekündigt worden war, ging es sofort auf allen sozialen Netzen viral. Millionen Mal wurde es auf Matesbook, Chitter, Snagchatter & Co. geteilt. Die Regisseurin des Filmteams von Nerdfix sagte, dass sie bei Nilefile, dem größten Cloud Computing Provider weltweit, für die Sendung hunderte weiterer Server geordert hatten, damit sie die hohe Zahl an erwarteten Zuschauern überhaupt zu bedienen vermochten. Mit großen Augen hatte sie ihm das erzählt. Und obwohl er diese ganze Sache immer noch von tiefstem Herzen ablehnte, war auch er aufgeregt. Ob es wirklich gelang, die Persönlichkeit eines Menschen mittels dieses mit Millionen mikroskopischer Organelektroden besetzten glibberigen Netzes in einen virtuellen Speicher zu übertragen und zu booten? Der Forscher in ihm war geweckt und lief zu Hochleistung auf, während er dem Team aus Neurochirurginnen und -chirurgen und Spezialisten von ‚Everlive Ltd.' assistieren durfte. Die Operation war in vollem Gange, die Schädelkalotte mittels der feinen Hochleistungsknochensäge aufgesägt und beiseite auf eine gekühlte Organschale gelegt. Ein Bildschirm hinter dem Patienten und dem Team zeigte die aktuell geschätzte Anzahl an Zuschauern an. Neunhundertacht Millionen waren es derzeit. Die Welt sah zu. Er schluckte. Das von ‚Everlive Ltd.' vorgeschriebene Protokoll sah vor, das Glibbernetz frei von Luftblasen über das Gehirn zu legen. Das war der kritischste Schritt. Jedes noch so kleine Luftbläschen, dass sich zwischen Gehirn und Netz einschlich, gefährdete die Übertragung der Seele. Aber auch dafür hatten die Ingenieure bei ‚Everlive Ltd.' etwas vorgesehen: Die Übertragungssoftware würde zuvor einen Check durchführen, dass alle der Millionen Elektroden, mit dem Gehirn in Verbindung standen. Wie das mit Sicherheit gelingen sollte, war ihm ein Rätsel. Wenn das abgeschlossen war, erschienen die Folgeschritte recht einfach zu sein. Die Hardware wurde gestartet und die Übertragungssoftware würde weitgehend die Kontrolle übernehmen. Nach Abschluss des Transfers schrieb das Protokoll vor, die Hardware sofort in den Avatar einzusetzen und zu starten, um die Funktion der virtuellen Seele sicher zu stellen. Danach, so sah es das Protokoll vor, sollten die lebenserhaltenden Geräte am organischen Patienten abgestellt werden, um den Übergang vom menschlichen Menschen zum virtuellen Menschen zu finalisieren. Mit anderen Worten: Sie ließen den komatösen Körper sterben. Die kritische Phase begann: Während das Ding mit großer Sorgfalt Zentimeter für Zentimeter aufgebracht wurde, war es seine Aufgabe, mit steriler Kochsalzlösung das Gehirn und das Netz zu befeuchten. Mehr hätte er sich als Assistenzarzt im zweiten Jahr auch nicht zugetraut. Dieser Teil der Prozedur dauerte fast eine dreiviertel Stunde. Nachdem sie damit fertig waren, betätigte einer der ‚Everlive Ltd.'-Leute einen Schalter an der Hardware. Das System fuhr hoch. Der Mann authentifizierte sich mit einem Sicherheitstoken und mit einem ellenlangen Passwort an dem Gerät. Eine ebenfalls von ‚Everlive Ltd.' anwesende Frau trat dazu und steckte einen veritablen Schlüssel in ein Schloss und drehte ihn um. Erst dann wurde die grafische Benutzeroberfläche der Maschine, welche die Hardware des Patienten enthielt, freigegeben. Sofort erschien eine Übersichtsgrafik, die das Gehirn des Mannes darstellte und auf siebzehn Stellen hinwies, an denen Luftbläschen zwischen Elektrodennetz und Gehirn eingeschlossen waren.
„Das habt ihr aber auch schon mal besser hinbekommen."
„Ja. Das sind alles keine Profis hier."
Diese Frechheit veranlasste ihn, in das Gesicht der Chefärztin der Neurochirurgie zu schauen. Darin stand blanke Wut oder sogar Hass? Es entsprach in etwa dem, was er selbst empfand. Wie konnten sie es wagen, als Gäste in diesem Hause solch eine Arroganz walten zu lassen?
„Meinst Du, die automatische Luftextraktion schafft das?"
„Klar. Wir hatten mit sowas gerechnet."
„Ich möchte doch bitten!"
Der Atem der Chefärztin beschleunigte sich. Sie kochte vor Wut.
„Ja, ja. Entschuldigung."
Ohne eine weitere Reaktion abzuwarten, betätigte der Schnösel einen Button auf dem „Air extraction" stand. Ein leises Blubbern war zu hören, als die Luft offenbar durch das Elektrodennetz nach außen gedrückt wurde. Nacheinander verschwand jede der siebzehn lila eingefärbten Stellen von der Grafik. Die ‚automatische Luftextraktion' erledigte ihren Job. Er brachte alle Beherrschung auf, um sich nicht darüber zu ärgern. Hätte er ihnen ein Fehlschlagen dieser Funktion gewünscht? Beinahe! Aber das gestatte er sich nicht. Er hatte einen Eid geleistet. Den Eid des Hippokrates. Darin hieß es unter anderem:
Meine Verordnungen werde ich treffen zu Nutz und Frommen der Kranken, nach bestem Vermögen und Urteil; ich werde sie bewahren vor Schaden und willkürlichem Unrecht.
Dieser uralte Schwur bedeutete ihm etwas. Mehr als die himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass sich die Reichen und Schönen dieser Welt solch eine Sache, wie diese hier, leisten konnten, während andere einfach starben, wie Menschen schon immer starben.
Endlich war alles bereit. Die eingefärbten Flecken zum Anzeigen der Luftbläschen waren alle vom Bildschirm verschwunden.
„Na dann..."
Der ‚Operator', wie es in dem schicken Ordner hieß, betätigte einen weiteren Button: ‚Transfer Human'. Bescheiden waren diese Leute nicht unbedingt. Die Grafik, die das Gehirn anzeigte, wurde leicht abgedunkelt. Ein Fortschrittsbalken erschien.
„So. Die Übertragung kann nun bis zu zehn Stunden dauern."
Dieser Part war für ihn als Assistenzarzt mehr als bescheuert. Im stündlichen Wechsel mit einem weiteren Assistenz-Kollegen, war es ihre Aufgabe, diese zehn Stunden dafür zu sorgen, alles mit Kochsalzlösung feucht zu halten.
Achteinhalb Stunden später, die Anzahl an Zuschauern war auf 63 Millionen zurückgegangen, machte der Fortschrittsbalken mit einem Mal ein paar Sprünge und die Seelenübertragung war abgeschlossen. Innerhalb von Sekunden schnellte die Einschaltquote in die Höhe. Noch während das Team für die letzten Schritte zusammen kam, sprang die Anzahl der Zuschauer, die den Live-Stream verfolgten, auf über zwei Milliarden. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass sie hier Geschichte schrieben – egal, wie das Ganze ausging. Er verspürte Ehrfurcht. Veränderten sie heute den Lauf der Welt? Für immer?
„Transferieren sie das Device in den Avatar."
Die Frau von ‚Everlive Ltd.' sprach in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Ihr Kollege schritt zur Tat und löste das Kabel, das sie Megacore nannten, und dass die Hardware mit dem Glibberding auf dem Gehirn verband. Niemand sprach. Einige von ihnen mochten die Luft angehalten haben, so dass nur die Geräusche vom Lösen der schraubbaren Kabelverankerung zu hören waren. Der Schnösel öffnete das Gerät und betätigte zwei Knöpfe. Eine schwarze Schachtel von der Größe einer externen Festplatte – war es genau das? – wurde ausgeworfen. Mit dieser Schachtel lief er hinüber zu der Plastikpuppe. Hier wurde der ehemalige Kopf des Menschen in die Brust eingesetzt. Ein leise summendes Geräusch war zu hören, als die Kiste auf dem letzten Zentimeter von der Puppe automatisch eingezogen wurde. Eine Kontrollleuchte neben dem Einschub blinkte gelb. In der Stille des Raumes hätte man einen Stecknadelkopf fallen hören, während der Avatar bootete. Nach etwa einer Minute wechselte die Farbe der Leuchte. Sie erstrahlte in einem permanenten Grün. Spontan stellte er sich die Frage, ob der Patient in seiner neuen virtuellen Umgebung aufwachen würde, oder ob das Koma weiter bestünde. Aber diesen Gedanken verwarf er sofort wieder. Das Koma als Erkrankung wurde, so hatte er es gelernt, auf eine Störung der Großhirnfunktion zurückgeführt. Das neue Gehirn konnte per Design diesen Defekt nicht aufweisen. Und wie zur Bestätigung seiner Vermutung öffneten sich die Augen des Plastikmannes. Eine Stimme erklang aus einem Lautsprecher:
„Wo bin ich?"
„Willkommen zurück, Herr Rellefocker! Sie lagen über ein Jahr im Koma. Wir haben sie wieder zum Leben erweckt. Wie fühlen Sie sich?"
„Ich fühle körperlich kaum etwas."
Das weitere Protokoll sah vor, dass die Mitarbeiterin von ‚Everlive Ltd.' eine Reihe an Fragen abarbeitete. Ziel dessen war, den Erfolg der Übertragung zu kontrollieren. Auch dieser Teil erforderte mehrere Stunden, die er und der andere Assistenzarzt das aller Voraussicht nach zum Tode verurteilte organische Gehirn feucht hielten. Erst wenn der Avatar wesentliche Fragen zur Geschichte des Patienten, korrekt beantworte, gestatteten die Vorschriften von ‚Everlive Ltd.', die lebenserhaltenden Maßnahmen am organischen Körper des Patienten einzustellen. Aber niemand schien mehr daran zu zweifeln, dass die Aktion erfolgreich verlaufen war. In den sozialen Medien brach eine Kommunikationsschlacht aus, wie zuletzt beim Versinken der Niederlande, als die Deiche gegen das immer höher steigende Meer nicht mehr standhielten.
Als diese vorletzte Sequenz zur Übertragung der Seele des Mannes in die Everlive-Hardware abgeschlossen war, gingen sie gemäß Protokoll dazu über, die Maschinen am organischen Körper des Patienten abzustellen. In diesem Moment wandte sich der Avatar mit einer unwirklich mechanisch wirkenden Bewegung der Kamera zu:
„Hallo Welt da draußen! Heute ist ein großer Tag für die Menschheit. Wir sind nicht länger an das unvollkommene Joch unserer organischen Hülle gebunden! In Zukunft werden wir unsterblich sein!"
Die anwesenden Menschen brachen in frenetischen Applaus aus. ‚Bravo!', wurde gerufen. Er selbst klatschte begeistert mit. Erst Tage später kam in ihm die Tatsache erneut hoch, dass dies die Weltsicht eines extrem reichen Menschen war. Das Privileg, unsterblich zu sein, war einer Klasse vorbehalten, die über Ressourcen verfügte, wie anderen Ortes Staatschefs. Während dessen wurden im Hintergrund unter Aufsicht eines Notars und von Vertretern der medizinischen Ethikkommission der Europäischen Union die Rechtsübergänge abgeschlossen, die dem schwarzen Kästchen die europäische Bürgerschaft und somit die formelle Menschlichkeit zusprachen. Damit war der organische Körper offiziell kein Mensch mehr.
Als letzter Schritt stand die Extubation bevor, das Herausziehen des Schlauchs in der Luftröhre, der eine maschinelle Beatmung ermöglicht hatte. Diese Aufgabe überließ man ihm. Er ließ die Luft ab, mittels derer ein kleiner Ballon am unteren Ende des Schlauchs aufgeblasen worden war, um ihn in der Luftröhre zu stabilisieren, und zog ihn heraus. Im Anschluss daran erwarteten sie den biologischen Tod. Der Brustkorb hob und senkte sich selbständig. Aber da die Atemmuskulatur des Patienten seit zwölf Monaten kaum trainiert worden war, würde das Sterben des Körpers nicht lange auf sich warten lassen. Er fühlte sich schrecklich unwohl dabei. Die Kamera und die Aufmerksamkeit aller Umstehenden waren auf die Atmung des Organismus und auf ihn fokussiert. Dann aber geschah etwas, mit dem niemand gerechnet hatte. Der Körper schlug die Augen auf. Nervös schaute er um sich. Mühsam führte er seine Hand zum Gesicht und rieb sich die Augen.
„Ich bekomme kaum Luft!"
Der Klang seiner Stimme kam einem Krächzen gleich.
„Oh mein Gott!"
Niemand wusste, wer genau diese Worte ausgesprochen hatte.
„Ich ... Luft!"
Er machte Anstalten, sich aufzusetzen, fiel aber wieder zurück auf die OP-Liege.
„Was haben wir getan? Ich bin ja gar nicht tot!"
Der künstliche Klang des Avatars jagte Kai einen Schauder über den Rücken.
„Ist das...?"
Diese Worte entstammten dem originären Körper des Patienten.
„Was machen wir jetzt?"
Später, als er sich die Aufnahme nochmals anschaute, sah er sich selbst lächeln, als er diese Frage hörte. Dann sprach er in die Kamera:
„Dafür ist im Protokoll nichts vorgesehen."
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