Kapitel 8 - Weiße Wüste
Ich bin der Henker. Mein Gebot ist unendlich.
Allen Augen begegne ich. Manchen mit roher Gewalt, anderen mit Behutsamkeit. Man könnte meinen, der Tod bereite mir deshalb so große Freuden. Die Wahl liegt stets bei mir.
Doch nie hat eine Natur mich so fasziniert wie die der Menschen. Trotz ihrer rapiden Vergänglichkeit zeichnet sie ein unermüdlicher Wille aus. Ruhm, Frieden, Liebe... das unendliche Streben nach Unsterblichkeit.
Wir haben ihnen nie offenbart, wie sehr sie irren.
Der Tod verjährt nicht, auch wenn aller Vollkommenheit dem Ende naht. Fast hätte sie unser wohlgehütetes Geheimnis verraten und den Glauben in uns erschüttert. Der Glaube kann bewahren, zerstören, ganze Königreiche stürzen... und er kann selbst Götter töten. Denn welche Bedeutung hat schon Unsterblichkeit, wenn niemand an sie glaubt?
- Nigros, vierter Psalm, obsolet
Arkin hielt die Zügel seines Pferdes mit sanfter Hand; schon seit Monaten ritt er nun durch die Ödnis, fern jeder Zivilisation, die Lederriemen zwischen den behandschuhten Fingern und der Sattel unter ihm so vertraut, dass er sie völlig vergaß, während sein Rappe langsam durch die Wälder Norstoeds schritt.
"Winter!"
Arkin seufzte. Sein Ruf echote durch das schneebedeckte Tal, aber nichts regte sich. Winter, seine silberne Hungerswölfin, ließ sich ungern dabei stören, wenn sie in der Wildnis - und davon gab es reichlich hier - umherzog. Wie Arkin bevorzugte auch sie die Einsamkeit gegenüber den lauten, schnelllebigen Städten. Aber auch, wenn Arkin sie oft aus den Augen verlor, so spürte er doch stets ihre Anwesenheit. In den vielen Jahren der gemeinsamen Jagd und des Reisens hatten sie gelernt, einander blind zu vertrauen.
Erst vor wenigen Tagen hatten sie die kargen, verlassenen Eisebenen hinter sich gelassen, ein von Schnee und Eis bedecktes Hochgebirge - oder wie Arkin es nannte, die weiße Wüste. Selbst jetzt noch würde es Tage dauern, bis er wieder unter Menschen sein würde.
Die Aussicht darauf, nach Hause zu kehren, ein warmes Kaminfeuer und eine gut zubereitete Mahlzeit zu genießen, hätte ihn mit Vorfreude erfüllen müssen; das Tribunal würde ihn loben, dafür, dass er ein weiteres Mal ihr Urteil vollstreckt und Gerechtigkeit hatte walten lassen. Die Schwarzen Schnitter würden ihm Ehre zollen und ihm wie gewohnt seinen wohlverdienten Lohn ausbezahlen.
Stattdessen empfand er nur eine dumpfe, innere Leere.
Vielleicht lag es an der Farbe seiner schwarzen Rüstung aus Obsidian, weil sie sich so abhob von dem Weiß der mit Schnee bedeckten Landschaft, dass er sich fühlte wie ein Fremdkörper in einer sonst harmonischen Umgebung. Eine schwarze Rose inmitten weißer Nelken.
"Winter!"
Wie zur Antwort knisterte es dicht neben ihm im Unterholz, und sein Pferd schnaufte nervös.
"Ruhig, Bandit", sagte er und strich dem Rappen besänftigend durch die tiefschwarze Mähne. "Das ist nur Winter. Vielleicht lernt sie es doch noch irgendwann, auf mich zu hören."
Kurz darauf huschte ein silberner Rücken durch die Büsche, und die Wölfin trat an seine Seite. Im Maul trug sie ein Kaninchen, das bräunliche Fell glänzte noch, aber der Körper hing leblos herab. Arkin stieg aus dem Sattel, nahm Winter das Kaninchen ab, das sie ihm freudig überreichte, und band es an seine Satteltasche.
"Wenn wir jedes Mal eine Pause einlegen, sobald du etwas erlegt hast, kommen wir nie an", mahnte Arkin sie scherzhaft. "Sehe ich etwa so hungrig aus?"
Er beugte sich zu ihr und kraulte der Wölfin zärtlich den Hals, woraufhin sie zufrieden die Augen schloss. Für die riesigen Hungerswölfe war sie ein relativ kleines Exemplar, dennoch reichte sie ihm bis zur Hüfte.
Plötzlich spitzte sie die Ohren und drehte angespannt den Kopf. Unwillkürlich griff Arkin nach dem Heft seines Schwertes. Die Wisperwälder Norstoeds waren wegen ihres rauen Klimas nur sehr spärlich bevölkert, aber das war nur einer der Gründe, warum es gefährlich war, wie Arkin abseits der Haupthandelsstraßen durch die offene Wildnis zu reisen. Gerade jetzt, mit dem eintretenden Herbst, zogen Treibbären auf der Suche nach Nahrung für den kommenden Winterschlaf oft tagelang hungrig umher, und trieben selbst die Rudel der riesigen Hungerswölfe in die Flucht, die normalerweise die Wälder beherrschten.
Arkin folgte dem Blick von Winters bernsteinfarbenen Augen, mit denen sie den Himmel absuchte. Als er die Nebelkrähe entdeckte, entspannten seine Muskeln sich. Der mitternachtsblaue Vogel züngelte wie ein Pfeil durch die Luft und wirbelte die herabfallenden Schneeflocken auf, als er, am Ziel angekommen, kurz krähte und zu Arkins Füßen zu Boden ging, wo er wie ein weggeworfenes Spielzeug liegenblieb.
Behutsam hob Arkin ihn hoch. Der kleine Vogelkörper fühlte sich noch warm an. Er trug ein kleines Geschirr, das mit blauen Mond- und roten Blutsteinen verziert war und ein kleines Röhrchen hielt. Viele Male hatte er auf diese Weise Nachrichten erhalten und versendet, und auch dieses Mal zog Arkin das gerollte Papier aus dem Röhrchen heraus. Im selben Moment zerfiel der Körper der Krähe vor seinen Augen, Federn fielen in den Schnee. Zurück blieb nur ein Pfeil mit rabenschwarzer Befiederung und blutgetränkter Spitze.
Jedes Mal aufs Neue bewunderte und fürchtete Arkin die Magie der Illumantie, so anschaulich und mächtig war sie.
Die Nachricht war mit einem Siegel versehen, das Arkin sehr wohl kannte. Hastig brach er es auf und entrollte die Nachricht vor sich.
Mein alter Freund,
ich hoffe, deine Jagd war erfolgreich. Das Tribunal hat mir mitgeteilt, dass du wohlauf bist und dich auf dem Rückweg aus den Eisebenen befindest. Verrückt genug, dass du dich überhaupt dazu bereit erklärt hast, den gefährlichsten und einsamsten Ort Ta'ehrans aufzusuchen, aber ich kenne dich zu gut, als dass es mich überraschen würde.
Ich habe mir gedacht, dass dir ein wenig Gesellschaft nach deiner langen Reise gut bekommen wird. Triff mich in Klippenzunge, ich warte dort auf dich, um der guten, alten Zeiten willen. Meine Einladung ist allerdings nicht ganz uneigennützig... auch du kennst mich zu gut dafür, nicht wahr?
Dieses Mal handelt es sich um einen ganz besonderen Auftrag: Das Prätorium hat um die Unterstützung der Schwarzen Schnitter gebeten und fordert ihre besten Männer an. Wer wäre da besser geeignet als du und ich?
Ich erwarte deine Antwort bis zur dritten Sonnenwende. Und denk nicht einmal daran, mir abzusagen... ich habe den Auftrag bereits angenommen. Wir jagen einen Magiermörder. Was sagst du?
Dein Treuer,
Rafael
Arkin seufzte. Es war einige Zeit vergangen, seit er Rafael das letzte Mal gesehen hatte - zu sehr waren sie mit ihren eigenen Aufträgen beschäftigt gewesen. Aber die Aussicht, nach Klippenzunge - einer geschäftsträchtigen, hektischen Großstadt - zu gehen, trug nicht gerade dazu bei, dass sich Arkins Stimmung hob.
Als er das kleine Papier zusammenrollte und verstaute, war die Wölfin bereits fort, die Federn im Schnee hatte sie zerstoben. Den blutigen Pfeil warf Arkin dazu; er hatte seinen Dienst getan, denn nach einmaliger Verwendung verloren die Pfeile ihre Magie und wurden nutzlos.
"Das Prätorium bittet die Schwarzen Schnitter um Hilfe?", fragte er Bandit und strich dem Rappen über die Stirn. "Das ist schon kurios... Was meinst du, mein Großer? Sind wir genug durch die Einöde gewandert?"
Das Pferd schnaufte, warmer Atem stieg als weißer Rauch aus seinen Nüstern. Arkin klopfte dem Tier zum Abschluss gegen den Hals, dann zog er ein leeres Papier und einen schwarzgefiederten Pfeil aus dem Köcher neben seiner Satteltasche; es war der letzte, den er besaß, die übrigen hatte er auf seiner langen, isolierten Reise durch die Eisebenen verbraucht. Er musste sich seine Antwort also gut überlegen, denn er würde für eine ganze Weile keine weitere senden können.
Arkin war nie ein Mann großer Reden gewesen, und so schrieb er die Worte zu Papier, rollte den Brief zusammen und verschnürte ihn mit einem schlichten Faden. Nachdenklich betrachtete Arkin die Nachricht in seinen Händen. Noch hatte er ihn nicht in das winzige Röhrchen gesteckt, das um den Pfeil gebunden war. Noch konnte er sie einfach in den Schnee werfen und eine neue verfassen. Oder er konnte es dabei belassen und stattdessen die Heimkehr antreten.
Viele Jahre schon nannte er Norstoed sein Zuhause, hatte dessen verschneite Gebirgslandschaften viele Male auf seinen Reisen durchquert, und jedes Mal war er genügsam zurückgekehrt.
Aber nicht dieses Mal. Was also hatte sich verändert? Warum konnte er das Geschehene nicht vergessen? Die Erinnerung wurmte ihn, bedrückte ihn, brach ihn.
Er durfte nicht zulassen, dass es ihn entzweiriss.
"Das wird dir nicht gefallen, Winter", murmelte er schließlich. Dann stopfte er die Nachricht in das Röhrchen, nahm seinen Bogen, spannte und schoss gen Himmel.
Der Pfeil wirbelte durch die Luft. Für einen Augenblick wirkte es so, als würde er einfach in einem Bogen wieder zu Boden gehen, so wie gewöhnliche Pfeile es eben taten.
Plötzlich zerstob er zu schwarzem Rauch und formte sich neu. Statt eines Pfeils flog eine Krähe mit rot und blau verziertem Geschirr Richtung Horizont. Arkin sah ihr missmutig nach, bis er sie zwischen den Schneeflocken aus den Augen verlor. Dann stieg er in den Sattel und ritt weiter auf Bandits Rücken durch die Ödnis.
Er hatte nur zwei Worte zu Papier gebracht.
Bis bald.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro