Kapitel 6 - Keine Gnade
Moira durchlief ein eisiger Schauer. Ihre Wunde hatte bis vor kurzem noch geblutet, und der Stoff, den sie sich provisorisch umgewickelt hatte, war durchtränkt. Die losen Enden hingen kraftlos herunter, und zu ihren Füßen hatte sich ein dunkler Punkt einsam auf dem staubigen Boden gebildet, nachdem er heruntergetropft war.
"Ich hätte keinen Besuch erwartet", sagte der Blutmagier plötzlich.
Er klang beinahe amüsiert. Die Öllampe warf einen weiten Lichtkegel, als er sich, nun misstrauisch und akribisch, in der Depothalle umsah. Moira erstarrte.
Er ging einen Schritt vorwärts, dann noch einen. Obwohl er unmöglich wissen konnte, wo sie sich versteckte, schien er doch instinktiv auf sie zuzugehen. Nur ihr rasender Puls verriet sie.
Ob er ihn spüren kann, so wie der Bluthund? So sehr scheint er sich nicht von der Bestie zu unterscheiden.
Moira presste ihren Rücken fest gegen die Kisten und versuchte vergeblich, Abstand zwischen sich und den Lichtkegel zu bringen, der sich ihr bedrohlich näherte.
"Ich... wusste nicht...", begann eine der Wachen plötzlich, aber die Stimme versagte ihm mitten im Satz.
Zu Moiras Überraschung drehte der Hämomant sich zu ihnen um, woraufhin die Soldaten zusammenzuckten.
"Habt ihr also etwas dazu zu sagen?" Die Erheiterung, die eben noch in den Augen des Blutmagiers gelegen hatte, war schlagartig Geringschätzung gewichen.
Die beiden tauschten einen kurzen Blick aus.
"Es ist so", fuhr die Wache zögerlich fort. "Einer der Arbeiter war etwas schwach auf den Beinen. Er meinte, er hätte lange nichts gegessen und-"
„Er hat mit den anderen zusammen die Lieferung hereingebracht", ergriff sein Kamerad rasch das Wort. Seine Stimme klang gefestigt, aber nicht weniger eingeschüchtert. "Er ist gestolpert und mit der Ladung zu Boden gestürzt. Dabei ist ihm eine der Proben zerbrochen, ohne, dass es -"
Der alte Mann ging auf die Wachen zu, und sie verstummten augenblicklich. Obwohl er sich auf seinen Gehstock stützte, bewegte er sich zügig und zielgerichtet. In seinem Gang lag eine Bedrohlichkeit, die trotz seines Alters keinen Zweifel daran ließ, wer das Alpha und wer die Duckmäuser waren.
"Wollt Ihr damit sagen, eine Kanaille dieses lausigen Arbeiterpacks hat meine kostbare Lieferung beschädigt? Habt ihr ihm wenigstens einer wohlverdienten Strafe unterzogen?"
"Das haben wir, Meister", antwortete der andere. "Wir haben ihn in die unteren Ebenen bringen lassen. Er wird seine Dienste dort ableisten."
Die unteren Ebenen?, wunderte sich Moira. Seine Dienste ableisten? Was hat das zu bedeuten?
Für einen Moment herrschte Schweigen. Seit der Blutmagier die Halle betreten hatte, waren seine Gesichtszüge von Strenge und Misstrauen gezeichnet, als wären sie Teil seiner Persönlichkeit; ebenso wie Salz und Stürme zum Meer gehörten - oder Reißzähne zum Raubtier.
"Gut." Er ließ von den Wachen ab und blickte stattdessen zurück in die dunkle Halle. "Es ist wichtig, dass die Arbeiter wissen, was ihnen blüht, wenn sie die tägliche Gnade, die ihnen gewährt wird, nicht zu schätzen wissen." Er klang beschwichtigt, aber noch immer argwöhnisch.
Plötzlich drangen aus der Ferne laute Rufe und dann das Scheppern von Metall zu ihnen. Es klang fast so, als wäre ein Kampf in einem der angrenzenden Depotspeicher ausgebrochen und Alarm geschlagen worden. Die Wächter wirbelten irritiert herum und griffen nach den Heften ihrer Schwerter.
Doch statt zu handeln, sahen sie auf ihren Meister. Wie Marionetten, die erst agierten, wenn er an ihren Fäden zog.
Der alte Mann stand schweigend da und rührte sich nicht. Der Kampflärm wurde lauter. Moira hörte Holz splittern, dann den Schrei eines Mannes.
"Geht endlich", sagte er schließlich.
Entsetzt beobachtete Moira, wie die Wachen aus der Halle stürmten und mit gezogenen Schwertern zur Unterstützung eilten. Der Hämomant blieb als einziger zurück. Dennoch fühlte Moira sich wie eine Gefangene.
Der Blutmagier wandte sich wieder der Kiste zu. Wie mit einem allzu vertrauten Werkzeug nutzte er den Gehstock, um den Deckel des Containers aufzustemmen. Dann beugte er sich vor, hielt die Öllampe nah an sein Gesicht und griff nach dem Inhalt.
Im Lichtschein ließ sich leicht erkennen, was er da in Händen hielt. Ein zufriedener Ausdruck zeichnete sich auf dem Gesicht des alten Mannes ab, während er die kleine Glasphiole in der Hand hin und her schwenkte, elegant und kunstvoll, wie einen guten Wein. Ihr Inhalt, eine dunkelrote Flüssigkeit, bewegte sich kreisend darin, als er die Öllampe auf der nächstgelegenen Fracht abstellte und den Stopfen mit einem geräuschvollen plopp entfernte.
Dann schluckte er den Inhalt in einem Zug hinunter.
Moira war wie erstarrt. Sie bemerkte nicht einmal, wie die Kampfgeräusche abrupt verstummten. Kurz darauf kehrten die Wächter zurück. Sie waren in Begleitung einer weiteren Patrouille.
Und sie zerrten Lupus, Nala, und zwei weitere, abgeschlagene Diebesgestalten in die Halle. Moiras Lippen formten einen stillen Schrei, als sie sah, wie die Wachen sie brutal zu Boden stießen, sie knebelten und fesselten.
Der Hämomant betrachtete noch einige Zeit die nun leere Glasphiole, dann zog er eine weitere aus der Kiste und verstaute sie in seiner Robe, bevor er langsam zu den Gefangenen hinüberging. Die Öllampe ließ er auf der Kiste zurück.
Als hätte er alle Zeit der Welt.
Ich muss etwas unternehmen! Moiras Gedanken rasten, am liebsten wollte sie jede Vorsicht vergessen, aufspringen und zu ihnen stürmen. Gleichzeitig fühlte sie sich wie gelähmt.
Aber wie kann ich ihnen schon helfen? Es sind so viele Wachen, und dazu noch ein Blutmagier! Ich kann ihm nichts entgegensetzen... Aber ich kann auch nicht einfach hier sitzen, während er sie umbringt?
Sie erkannte die beiden anderen Diebe, Horn und Weger, ebenfalls Mitglieder von Garrits Bande. Sie mussten diejenigen sein, die das Boot für ihre Flucht hätten manövrieren sollen. Moira hatte sie nie gemocht, denn ihr waren schon immer die Blicke unangenehm aufgefallen, mit denen die beiden ihr begegneten. Schon als kleines Mädchen hatte sie versucht, von ihnen unbeachtet zu bleiben und sich zu verstecken.
Jetzt sahen sie übel zugerichtet aus. Wegers rechter Arm hing in einem unnatürlichen Winkel an seiner Seite herab, und Horn hielt sich eine klaffende Bauchwunde, die seine graue Tunika dunkel färbte.
Aber auch Nala hatte eine schlimme Wunde an der Schläfe davongetragen. Blut lief ihr über die Wange und tropfte von ihrem Kinn. Einzig Lupus schien relativ unversehrt zu sein.
Einer der Wachmänner deutete auf Horn und Weger. "Die Magielosen haben versucht, mit einem Fischerboot ins Lager einzudringen. Sie haben heftigen Widerstand geleistet."
Der Blutmagier nickte nur knapp und schenkte Horn und Weger keine weitere Beachtung. Stattdessen musterte er erst Lupus und schließlich Nala eindringlich.
Die Wache warf Nala einen abschätzigen Blick zu. "Das Mädchen hat sich ebenfalls gewehrt. Aber es hat ihr nichts genützt."
"Sieh an, sieh an." Der alte Mann schwang bedrohlich seinen Stock in Richtung der beiden. "Ich habe mich schon gefragt, wann euer Gesindel hier auftauchen würde, nachdem ihr euch Lager für Lager an unseren Vorräten vergriffen habt. Wie Ratten zieht es euch an."
Er umschritt Nala und Lupus wie Esel auf einem Viehmarkt, unschlüssig, ob sie der Mühe wert waren oder besser zum Schlachter gehörten.
"Deshalb habe ich besondere Vorkehrungen treffen lassen." Sein Stock klackte im Takt seiner Schritte. "Eine so gut aufgestellte Garde hättet ihr in einem alten Kanalspeicher nicht erwartet, nicht wahr? Dabei habt ihr den besten Teil meiner Vorbereitungen noch nicht einmal kennengelernt."
Bei seinen Worten beobachtete er die Reaktionen der beiden jungen Diebe mit höchster Präzision. Während Lupus ängstlich zu zittern begann, hob Nala das blutverschmierte Gesicht, um ihm wütend entgegenzublicken. Sie war schon immer diejenige gewesen, die für sie beide gekämpft hatte.
Er wirkte zufrieden und deutete mit dem Gehstock auf die verwundeten Männer, Horn und Weger. "Diese beiden da. Sie sind nutzlos. Bringt sie in die unteren Ebenen. Ich beschäftige mich später mit ihnen."
Die Wachmänner taten, wie ihnen geheißen, und brachten die beiden fort. Amüsiert beobachtete der Blutmagier Nala dabei, wie sie gegen ihre Fesseln ankämpfte, aber die Knoten saßen zu fest. Vielleicht glaubte sie, nun, da sie allein mit ihm waren, konnte sie etwas ausrichten.
"Ich muss schon sagen", fuhr er fort, "ich bin kein besonders frommer Mann, aber ich bewundere die Götter für ihr Kalkül. Dafür, dass sie die Menschheit geteilt haben - in jene, die zum Herrschen bestimmt sind, und in solche, die geboren werden, um zu dienen und zu sterben. Die einen werden gefressen, um die anderen zu ernähren."
Moira zitterte. Er hat Recht. Keine Macht in Klippenzunge würde sich ihm entgegenstellen, wenn sie es nicht tat.
"Das Prinzip ist geradezu wunderbar. Nichts ist verschwendet." Ein Lächeln umspielte seine faltigen Mundwinkel. "Dafür werde ich schon sorgen."
Er streckte die freie Hand aus; sie war blass und runzelig wie der lederne Einband eines Buches, dessen Seiten im Licht der Sonne ausgebleicht waren.
Plötzlich wanden Lupus und Nala sich in unnatürlicher, gekrümmter Haltung. Ihre Schreie wurden nur von den Knebeln vor ihren Mündern gedämpft und mündeten in flehendes Schluchzen. Schweiß und Tränen flossen über ihre Gesichter, gemischt mit dem Blut, das ihnen aus Augen, Nase und Ohren strömte, während die Hand des Hämomanten sich langsam aber stetig zu einer Faust schloss.
Warum!?, schrie Moira in Gedanken, ihr Blick wie gebannt. Warum stellt sich ihm niemand entgegen? Warum kommt niemand und ändert etwas? Ich habe ihnen versprochen, dass ich es nicht zulassen werde!
Und nun sah sie dabei zu.
"Nein!"
Ohne darüber nachzudenken, was sie da tat, riss sie Leinensack und Seil vom Gürtel, die einzigen Utensilien, die ihr noch geblieben waren, stürmte aus ihrer Deckung und stülpte es dem Hämomant über den Kopf. Noch im selben Atemzug zog sie die Schlaufe mit aller Kraft zu.
Er keuchte überrascht auf, als er sich mit beiden Händen an die zugeschnürte Kehle griff, und löste damit die brutale Magie, die er auf Lupus und Nala gewendet hatte. Den kurzen Augenblick, den sie durch ihr Überraschungsmanöver gewonnen hatte, nutzte sie, indem sie vorwärts hechtete, ihr Taschenmesser zog und die Fesseln von Lupus durchschnitt, da er ihr am nächsten war. Dann machte sie einen geschwinden Satz auf Nala zu.
Lupus streifte sich Knebel und Fesseln ab und sprang auf. Aber statt ihr zu helfen, musste sie mit Schrecken erkennen, dass Lupus rannte und zwischen Kisten und Statuen verschwand, wo die Schatten ihn verschluckten.
Dieser Bastard!, dachte sie wütend und setzte das Messer an Nalas Fesseln. Ich hätte wissen müssen, dass er uns nicht helfen wird! Ich hätte...
Moira erstarrte mitten in der Bewegung. Die Fesseln waren noch nicht vollständig durchtrennt, und das Taschenmesser in ihren Händen rührte sich nicht.
Nein, nicht das Messer. Es waren ihre Hände, die sich nicht mehr rührten.
Bitte! Moira drückte mit ihrer gesamten Willenskraft dagegen an, aber es war zwecklos - sie war wie gelähmt. Ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr. Noch nie war sie der Magie eines Hämomanten ausgesetzt gewesen - und hatte sich so hilflos, verängstigt und schrecklich verzweifelt gefühlt.
„Wie... kannst du es wagen?", knurrte der Blutmagier und hatte wieder die Hand vor sich ausgestreckt. Nun kontrollierte er sie mit derselben Magie, die er zuvor auf Nala und Lupus angewandt hatte.
„Ich hätte ahnen müssen, dass ihr wie Ratten in der Sippe auftaucht! Wie viele von euch verstecken sich noch hier, mmh?"
Den Sack hatte er sich abgestreift. Er lag nun zusammen mit dem Gehstock im Staub. Nala schluchzte, als er sie mit seiner Macht erneut zu Boden drückte, wo sie stöhnend zusammenbrach.
„Ihr kennt keine Würde, keine Magie, keinen Respekt", blaffte er ihr entgegen. "Ihr kennt nur Hinterlist und Heimtücke!"
Dann richteten seine Augen sich auf Moira. In ihnen glitzerte die Empörung.
„Also kenne ich auch keine Gnade."
Moira hatte es nicht ertragen können, nur hilflos zuzusehen. Deshalb war sie aus ihrem Versteck hervorgekommen. Nun war sie zu einem wehrlosen Eisblock erstarrt, fest im Bann des Hämomanten, und ihm völlig ausgeliefert.
Und wie einen Eisblock würde er sie zerschmettern.
Aber Moira wollte ihm nicht die Genugtuung geben, sich an ihr zu ergötzen. Wenn das hier ihr Ende war, würde sie mit wehenden Fahnen untergehen.
"Damit hattest du nicht gerechnet, nicht wahr? Ist es immer so einfach, einen Blutmagier auszutricksen, oder bist du nur besonders-"
Ein unerbittlicher Schmerz durchfuhr ihre Brust und ließ sie entsetzt aufkeuchen. Mit wenigen Schritten überbrückte er die Distanz zwischen ihnen und packte sie bei der Kehle. Zu ihrer Überraschung wirkte er weder alt noch gebrechlich; dazu war sein Griff zu beharrlich.
Immerhin habe ich es geschafft, dass ihm jedes Vergnügen vergangen ist. Sie lächelte.
Moiras Widerspenstigkeit entging ihm keineswegs. Statt der erwarteten Furcht blickte ihm Trotz entgegen.
"Du... dreckige Hure!", fauchte er sie an und schlug ihr mit der Faust ins Gesicht. Seine Miene war zu einer wütenden Grimasse verzogen. Moira ächzte, ihr Blickfeld verschwamm, sein Würgegriff so fest, dass es ihr den Atem raubte.
"Glaubst du, ich lasse mich von einer magielosen, halsstarrigen Straßengöre zum Narren halten?"
Moiras Puls hatte ihr bis zum Hals geschlagen. Sie spürte es in dem Moment, als er plötzlich versiegte, so wie das Rauschen eines Wasserfalls, das schlagartig verstummte. Ein dunkler Schleier legte sich um ihre Augen, als ihr heiße, dicke Tränen über die Wangen liefen, hinunter auf die Lippen, wo sie salzig und metallisch schmeckten. Zu spät bemerkte sie, dass es keine Tränen, sondern ihr eigenes Blut war, das sie weinte und kostete.
"Wenn du glaubst, dass zu sterben das schlimmste ist, das ich dir antun kann", hauchte er und verstärkte den Griff um ihre Kehle, "dann irrst du dich. Ich werde dich solche Qualen leiden lassen, dass du dir noch wünschen wirst, Nigros möge dich holen! Aber diese Gnade gönne ich dir nicht... Nein, bevor das passiert, sorge ich dafür, dass deine Schreie bis zum Nobiskrug zu hören sein werden!"
Nobiskrug. Die Verdammnis. Das Ende aller Dinge. Der Ort der Toten und der Gleichgültigen.
Klingt nach einem wundervollen Ort, dachte Moira wie betäubt, und ihre Lippen kräuselten sich erneut zu einem schwachen Lächeln.
Und dann verging ihr das Lächeln. Denn mit seinen Worten kam der Schmerz.
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