Kapitel 37 - Aufbruch
Unendlich langsam schlug Moira die Augen auf. Bei dem Gefühl, aus einem Alptraum erwacht zu sein, überkam sie eine Welle der Erleichterung, gefolgt von Furcht, als sie erkannte, dass es nicht der Traum war, den sie fürchten musste – sondern die Realität.
Um sie herum war es stockfinster. Sie lag auf dem Rücken, konnte nicht einmal die Hand vor Augen sehen. In dem Versuch, sich aufzurichten, stieß sie mit dem Kopf gegen ein Hindernis. Sie wollte mit den Armen um sich schlagen, doch diese konnte sie kaum heben, ohne ebenfalls auf eine Wand zu treffen. Panik brach in ihr aus. Während sie versuchte, ihre rasche Atmung zu beherrschen, raste ihr Herz unkontrollierbar in ihrer Brust. Es dauerte einen Moment, bis sie die Lage realisierte, in der sie sich befand.
Sie war gefangen. In einem Käfig aus Holz.
Blind vor Angst hämmerte sie mit den Fäusten dagegen und begann zu schreien. Sollte das ihr Ende sein? War sie lebendig in einen Sarg gesperrt worden? Hatte man vielleicht geglaubt, sie sei tot?
Tausend Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf, aber keiner konnte sie beruhigen oder davon abhalten, wild auf die Wand vor sich einzuschlagen. Im Gegenteil: Die Vorstellung davon, dass der Blinde Richter, der ihr das angetan hatte, auch die letzte Person sein würde, die sie lebend gesehen hatte, versetzte sie in Rage.
Dann hörte sie Geräusche. Oder bildete sie es sich nur ein? Augenblicklich verstummte Moira, wagte nicht einmal zu atmen. Nur ihr eigener Herzschlag dröhnte in ihrer Brust.
Ein Rascheln. Hatte jemand sie gehört und näherte sich nun?
"Sie ist wach!", hörte sie eine vertraute Stimme sagen. Der Klang trieb ihr beinahe die Tränen in die Augen.
Eliza. War sie hier oder spielte ihr Verstand ihr einen Streich?
Mit einem Mal knackte es dicht an ihrem Ohr, sodass sie schützend die Hände vors Gesicht legte. Im nächsten Augenblick ertönte ein lautes Krachen, als der Deckel ihrer Kiste gelöst und zur Seite geschoben wurde. Sofort umklammerte sie mit zittrigen Fingern die Holzkante und stieß in die Freiheit vor, noch bevor die Abdeckung vollständig die Öffnung freigab. Unter keinen Umständen würde sie zulassen, dass sie auch nur einen Atemzug länger in diesem Käfig blieb.
„Na, na. Ganz ruhig, Prinzessin."
Schwer atmend und noch immer bemüht, sich zu beruhigen, sah sie sich auf einmal dem dunkelblonden Schnitter gegenüber. Aus zusammengekniffenen Augen betrachtete sie ihn. In einer Hand hielt er eine Brechstange, mit der er den Deckel gelöst haben musste.
Selbstbewusst erwiderte er ihren forschen Blick. Sein kurzes Haar und die glattrasierten Wangen ließen ihn gepflegt wirken, ebenso wie die schwarze Rüstung, unter der sich seine drahtige Statur abzeichnete, und der Bogen auf dem Rücken.
Der, mit dem er Lupus getötet hat, schoss es ihr schlagartig in den Sinn.
Gerade wollte sie etwas erwidern, da entdeckte sie Eliza, die hinter ihm zum Vorschein kam und auf sie zustürmte. Ihr dunkelgrünes Kleid war verschmutzt, aber sie schien wohlauf zu sein. Ohne ein Wort zu verlieren, schlossen sie einander in die Arme. Ihre feuerroten Locken kitzelten die Diebin an der Nase, als sie ihre Schwester fest an sich zog. Es war das schönste Gefühl, das sie seit langem verspürt hatte.
"Wie rührend." Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie der Schnitter die Brechstange schwungvoll in eine Ecke feuerte. "Leider habe ich dafür überhaupt keine Zeit."
Widerwillig löste Moira sich aus Liz' Umarmung und schob sich schützend vor sie, während sie den Dunkelblonden hasserfüllt anfunkelte. "Du Mistkerl! Du hast mich in diese verfluchte Kiste gesteckt, nicht wahr?"
"Das war nur zu deiner eigenen Sicherheit", entgegnete er und verschränkte die Arme vor der Brust. "Wir mussten dich schließlich irgendwie an Bord bekommen, ohne dass die Rote Garde dich sieht. Du hast in letzter Zeit schon für genug Aufsehen gesorgt."
"An Bord?", hauchte sie ungläubig, die Augen vor Schreck geweitet.
In einiger Entfernung schlich ein grauer Wolf durch das Lagerhaus - oder wo auch immer sie sich befanden. Der Raum war mit Vorratskisten, Fässern und Säcken gefüllt, aber etwas schien anders zu sein als sonst. Der Geruch von Salz und einer moderigen Feuchtigkeit schlug ihr entgegen, gleichzeitig bewegte der Boden unter ihr sich mit jedem Wellengang. In der Ferne konnte sie ein Rauschen hören, das ihr bekannt vorkam, nur näher und aufbrausender, als sie es gewohnt war.
"Wo ... sind wir?"
"Auf dem Ozean", flüsterte Eliza hinter ihr. Im gleichen Atemzug erkannte Moira, dass es die Wahrheit war.
Sie waren im Bauch eines Schiffes mitten auf dem Meer.
Der Schock musste ihr ins Gesicht geschrieben stehen, denn ihr Gegenüber verzog daraufhin die Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen.
"Dafür darfst du dich bei Arkin bedanken. Mal wieder. Wenn es nach mir ginge, wärst du gar nicht hier." Er musterte sie kritisch. „Bilde dir bloß nichts ein, nur weil du meinen Freund um den Finger gewickelt hast. Mich kannst du nicht so einlullen. Ich behalte dich im Auge."
"Wie bitte?", japste sie. Am liebsten hätte sie ihm ins Gesicht gespuckt. "Ich habe überhaupt nichts gemacht! Ihr habt mich hierher verschleppt und in diese Kiste gesperrt!"
Sein riesiger Hungerswolf hatte sich derweil zu ihm gesellt und schien ihren aufkochenden Zorn zu spüren. Ein leises Knurren drang aus seiner Kehle, während er sie aus hellgelben Augen fixierte. Es war eindeutig derselbe Wolf, der sie durch die Stadt gejagt und direkt vor das Visier des Schnitters getrieben hatte.
Doch der Dunkelblonde zuckte nur mit den Schultern. "Immerhin liegst du nicht unter einem Henkersbeil. Das würde ich eine ziemliche Verbesserung nennen."
Mit den Worten machte er auf dem Absatz kehrt. "Also, ich muss dann. Ich habe noch andere Sachen zu erledigen."
Erst in diesem Moment bemerkte Moira die Treppe, auf die er zusteuerte und die zum Deck des Schiffes führen musste. Als sein Wolf sich nicht rührte, sondern weiter die Mädchen beobachtete, hielt er auf der Schwelle der ersten Stufe inne.
"Komm schon, Geist", rief er und stieß einen hohen Pfiff aus. Augenblicklich wirbelte das Tier herum und eilte zu ihm.
Das ist also der Name des Wolfs. Eine ungewöhnliche Wahl, wie Moira fand. Eliza musste wohl das gleiche denken, denn die beiden warfen sich einen kurzen, fragenden Blick zu.
Mit einem verschmitzten Ausdruck im Gesicht wartete der Schnitter und stützte sich mit einem Arm gegen den hölzernen Treppenaufgang. Sein Blick huschte erneut zu der Diebin. Das Grau seiner Iriden erinnerte sie an Asche und Staub - und an ein Feuer, das unersättlich gebrannt haben musste.
"Du kannst natürlich gern hier unten sitzen bleiben, aber solange wir auf dem Schiff sind, darfst du dich frei bewegen", fügte er an. "Aber vergiss' nicht, du bist noch immer eine Gefangene. Falls du abhauen willst, kommst du nicht weit. Außer du hast vor, dich ins Meer zu stürzen. Das soll mir nur recht sein."
Moira knirschte mit den Zähnen, was ihn nur dazu verleitete, breiter zu grinsen.
"Mich hat aber niemand an Bord gehen sehen, dank euch", konterte sie. "Wird die Mannschaft nicht misstrauisch, wenn sie mich auf einmal sehen?"
Ihr Gegenüber winkte nur ab, noch immer ein Schmunzeln auf den Zügen. "Wir haben der Mannschaft schon gesteckt, dass wir vielleicht ein oder zwei Mädchen als blinde Passagiere an Bord haben."
Moira stutzte. "Und das haben sie nicht hinterfragt?"
"Nein, weißt du", säuselte er amüsiert und verschränkte die Arme vor der Brust, "für Vergnügen haben die Männer größtes Verständnis."
"Du mieser Bastard!", spie sie ihm entgegen, kaum fähig, ihre Wut zu kontrollieren.
Sein Lachen wurde nur vom Rauschen des Meeres gedämpft. "Sieh' einer an, eine Frau mit Temperament! Vielleicht werden wir zwei uns früher oder später doch noch verstehen." Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. "Dass Arkin das gefällt, wundert mich allerdings."
"Lass' uns gefälligst in Ruhe!" Provokant machte sie einen Schritt auf ihn zu. Sie würde sich weder von ihm einschüchtern lassen, noch zum Spielball seines zynischen Humors werden.
"Na aber, Prinzessin." Er schnaubte abfällig. "Wo sind denn deine Manieren?"
Bevor Moira etwas erwidern konnte, tätschelte er den Kopf seines Hungerswolfs und verschwand die Treppe hinauf in Richtung Deck.
"Dieser ..." Vor Wut ballte sie die Fäuste so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Wie kam er überhaupt dazu, sie Prinzessin zu nennen?
Mit einem Mal berührte sie etwas an der Hand und ließ sie zusammenzucken. Elizas Finger hatten sich um ihre Faust gelegt, die sie nun langsam löste. Ihre smaragdgrünen Augen blickten ihr wie Leuchttürme entgegen. Ein Lidschlag von ihr genügte, um die finsteren Gefühle aus Moiras Herz zu vertreiben.
"So schlimm ist Rafael gar nicht." Liz lächelte schmallippig. "Glaube ich."
Moira seufzte schwer. Mit dem Ausatmen legte sich auch etwas die Anspannung in ihr. "Hauptsache dir geht es gut. Und woher kennst du überhaupt seinen Namen? Sie haben dir doch nichts getan, oder?"
Ihre Schwester schüttelte energisch den Kopf. "Nein, sie waren nett zu mir. Wir haben uns nur unterhalten. Ich durfte sogar die Wölfin streicheln."
"Unterhalten?" Skeptisch legte Moira die Stirn in Falten. "Aber du hast ihnen doch nichts über uns verraten, oder?"
"Nein", behauptete Liz und blinzelte nur unschuldig. "Nur ganz wenig."
Die Diebin kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. "Darüber reden wir noch."
"Später. Erst will ich dir unsere Kabine zeigen", verkündete ihre Schwester feierlich und zog sie an der Hand Richtung Treppe. "Komm, ich bringe dich hin und zeige dir alles."
Moira ließ es über sich ergehen. Wie gelang es Liz nur, immer so fröhlich zu sein?
Gemeinsam gingen sie an Deck, das Rauschen des Meeres nun unüberhörbar. Die Sonne schien und nur wenige Wolken zeigten sich. Dennoch fröstelte es sie, als der starke Wind an ihren Haaren und ihrer Kleidung zerrte.
Eliza führte sie weiter in Richtung Bug, vorbei an einem großen Mast und unter riesigen Segeln hindurch. Oft schon hatte Moira die Schiffe im Hafen bestaunt, doch noch nie war sie einem von ihnen so nah gewesen. Der Anblick erstaunte und faszinierte sie zugleich.
Einige Matrosen gingen ihrer Arbeit nach und warfen ihr einen überraschten Blick zu, doch niemand sprach sie an. Offensichtlich hatte der Schnitter nicht gelogen, dass sie Moiras Anwesenheit bereits angekündigt hatten. Und wer widersprach schon einem Vollstrecker?
Dann deutete Eliza in die Ferne vor sich. "Da ist die Blutküste. Ist das nicht beeindruckend?"
Moira traute ihren Augen kaum, als ihr Blick den unendlichen, blauen Horizont streifte, bis sie schließlich die Küste ausmachte. Doch statt einer Großstadt wie Klippenzunge zierten nur Bäume und Sträucher die Felsen vor ihnen. Wie lange war sie ohnmächtig gewesen, dass sie schon so weit gesegelt waren?
Als Moira sich weiter umsah, entdeckte sie einen silbernen Schweif, der hin und her züngelte. Ihr Augenmerk glitt über den geraden Rücken der Hungerswölfin, deren Fell im Sonnenlicht glänzte wie der polierte Rahmen eines Spiegels, bis hin zu der dunklen Gestalt, die ihr zur Seite stand.
Es war derselbe Mann, Arkin, der ihr im Verlies begegnet war. Der Schnitter mit dem nachtschwarzen Haar unterhielt sich gerade mit einem der Seemänner, der wohl der Kapitän zu sein schien, zumindest seinem auffälligen, breitkrempigen Hut nach. Das Ende seines blauen Schals wehte wild im Wind.
In ihrer Gedankenverlorenheit hafteten ihre Augen ein wenig zu lang auf ihm, denn er schien ihre Aufmerksamkeit zu bemerken und drehte den Kopf gerade genug, dass sich ihre Blicke kreuzten.
Schnell wandte sie sich ab, doch zu spät. Er hatte sie längst gesehen - was nicht hieß, dass sie es sich anmerken lassen musste.
Auch Eliza entging seine Anwesenheit nicht. Sie lächelte zu ihm herüber, ließ kurzum Moiras Hand los und stürmte davon. Die Diebin wollte noch ihr Handgelenk zu fassen bekommen, aber ihre Schwester tänzelte geschwind wie ein nasser Fisch aus ihrer Reichweite. Scheinbar hatte sie bereits damit gerechnet, dass Moira versuchen würde sie aufzuhalten.
Mit Entsetzen musste die Diebin mit ansehen, wie Liz sich auf ihn und die Wölfin zubewegte und anschließend dem Raubtier den Kopf tätschelte, als sei es das Natürlichste der Welt.
Ob Liz überhaupt ahnt, was sie da tut? Moira hatte kein Interesse daran auf den Mann zuzugehen, der sowohl für ihre Gefangenschaft als auch ihre Entführung verantwortlich war. Dennoch konnte sie ihre Schwester unmöglich allein mit ihm und einem Hungerswolf lassen.
Also tat sie, was sie immer tat, wenn sie in einer Zwickmühle steckte.
Sie nahm all' ihren Mut zusammen und stellte sich der Herausforderung.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro