Kapitel 32 - Die Abstimmung
Dong.
In der Ferne hörte Dunagar die Glocken der Kathedralen und Kampanilen zur vollen Stunde läuten. Gezielt schritt er den langen Flur der Festung entlang, um zum Ratssaal des Prätoriums zu gelangen. Nicht nur die Schwarzen Schnitter begleiteten ihn, sondern auch ein ganzes Geschwader der Roten Garde - eine Inszenierung, die er von den Hämomanten gelernt hatte, denn wenn sie eines respektierten, dann war es die Demonstration von Macht.
Und auf dem ganzen, langen Weg habe ich keine andere Wahl, als mich selbst denken zu hören. Resigniert rieb er sich die pochenden Schläfen.
Die Luft hier am obersten Hang der Klippen war dünn und verschlimmerte seine Beschwerden - oder zumindest war es das, was er sich einzureden versuchte. Vielleicht lag es aber auch an seinen Bedenken, die ihm Kopfzerbrechen bereiteten.
Dong.
Tatsächlich war es einer dieser seltenen Momente, in denen Dunagar sich selbst für das verachtete, was er tat. Seine Gedanken kreisten um den kleinen Jungen, den er dem Schnitter überlassen hatte; seinen Namen hatte er bereits vergessen, aber sein Weinen klang ihm noch in den Ohren.
In den höchsten Türmen verbergen sich die tiefsten Kerker, hatten seine früheren Lehrmeister zu sagen gepflegt, und ihm daraufhin die Obsidianmaske angelegt. Er musste zugeben, dass in dieser Weisheit eine gewisse Wahrheit lag, die perfekt die Gefühlswelt widerspiegelte, die damals in ihm wie ein Sturm getobt hatte.
Nun waren die Bedenken zu einer lauen Brise verhallt. Obwohl er sich bis heute wie ein Turm mit einem Verlies darunter fühlte, so war doch niemand mehr da, der wusste, wer der schlanke, großgewachsene Mann unter der Maske einst gewesen war, und auch er selbst hatte es allmählich vergessen.
Wenn das Chaos rundherum wütete, war es wichtig, die Gesetze Albums ohne Gnade und Barmherzigkeit durchzusetzen. Und dafür waren Kerker ein notwendiges Übel, um diejenigen einzusperren, die eben jenes Chaos verursachten.
Vielleicht würde heute der Tag sein, an dem auch die Prätoren dies begreifen würden.
Dong.
Pünktlich auf den Schlag wurden dem Justikar die schweren Flügeltüren des Saales aufgeschoben, kaum dass er sich genähert hatte. Während ihm die Schwarzen Schnitter dichtauf folgten, deutete er den Wachen der Roten Garde, davor zu warten.
Die Ratskammer glich einem Festsaal. Während die vier Prätoren auf ihren hohen Rängen saßen und sich mit Speisen versorgen ließen, stolzierte der Richter über den glatten Marmorboden auf die goldene Verzierung in ihrer Mitte zu. Die blutroten Wandteppiche, die Rubans Symbol, den Blutmond, trugen und den Raum rundherum schmückten, beachtete er kaum.
"Justikar Dunagar", tönte eine vollmundige Stimme. "Willkommen."
Der Mann, der den Richter begrüßte, wischte sich die speckigen Finger an seinem Wams ab, das sich über seinen beleibten Bauch spannte. "Seid Ihr also endlich unserer Einladung gefolgt."
Er war von kleiner Statur und trug einen gezwirbelten Schnurrbart, in dem sich ein Rest Pastete verfangen hatte. Als er es bemerkte, schob er sich den Klecks mit dem dicken Daumen in den Mund.
"Spart Euch die Floskeln, Odowyn", herrschte Dunagar ihn an. "Dass Ihr mich hierher zitiert, kommt eher einer Vorladung als einer Einladung gleich."
Beeindruckt von den Vollstreckern, die den Justikar begleiteten, glättete der Angesprochene nervös die Enden seiner weitgefächerten Robe. "Es ist ja nicht so, dass Ihr ohne Grund hier seid. Sondern weil Ihr Euch Rechte herausgenommen habt, die Euch nicht zustehen."
"So ist es." Prätor Invictus erhob sich von seinem Platz. Trotz seines guten Rufes und seiner melodisch hohen Stimme wirkte er mit den buschigen Augenbrauen und den markanten Gesichtszügen, als blickte er anklagend auf Dunagar herab. "Ihr habt das Tribunal um Hilfe ersehnt und die Schwarzen Schnitter herbeordert, ohne unsere Zustimmung einzuholen. Solches Handeln bleibt nicht ohne Folgen."
"Mehr noch als das", ergänzte nun die Dritte aus ihrem Kreis, Percura, und lehnte sich weit auf ihrer Sitzbank vor, "habt Ihr unsere Aufforderung, vor uns zu treten, seitdem mehrfach missachtet."
Wie üblich trug sie ihr graues Haar in einem strengen Zopf, der ihrem schmalen Gesicht mit den vielen Falten das Aussehen einer Kraterlandschaft verlieh.
"Bei allem Respekt dem Gesetz gegenüber, gibt es auch für Euch Regeln, an die Ihr Euch zu halten habt." Drohend erhob sie den Finger gegen ihn. Ihre Worte drangen rau und körnig an sein Ohr, wie Sand, der zwischen Papierseiten rann. "Wir erwarten eine Erklärung für Euer Handeln, Justikar."
Der Vierte im Bunde, Prätor Zarkrom, räusperte sich, richtete seine Robe und trat langsam vor.
"Wir gewähren Euch hiermit eine Audienz, bei der Ihr Euer Verhalten darlegen könnt", verkündete er. Obwohl er leise sprach, klang es so eindringlich, als schlüge Stein auf Granit. Mit seiner Glatze, der olivfarbenen Haut und dem schlohweißen Bart, der ihm in zwei Strängen um die Brust fiel, sah er aus wie einer der alten Zauberer aus den Legenden, die Zeiten entsprangen, lange bevor der Blutmond regiert hatte. "Wenn Ihr wollt, dass wir Nachsicht zeigen, solltet Ihr diese Gelegenheit nutzen."
Unbeeindruckt von den Vorwürfen, faltete Dunagar die Hände hinter dem Rücken zusammen. Dann schritt er gemächlich auf der goldenen Verzierung auf und ab, während seine makellose, weiße Robe jede seiner Bewegungen umschmeichelte. So rein wie sie war auch sein Gewissen.
"Ich bin nicht hier, um mich zu rechtfertigen", antwortete er kühl. "Ich bin hier, um zu beenden, was Ihr in erster Linie unfähig wart zu beginnen."
Nun war es an ihm, vorzutreten, denunzierend den ausgestreckten Finger durch den Raum zu schwingen und Reihe um Reihe auf die Prätoren zu deuten, während er sie mit dem Obsidianblick seiner Maske durchbohrte. Sie hätten sich auch hinter Mauern verschanzen können, sein Starren hätten sie dennoch gespürt.
"In dieser Stadt keimt schon lange ein Übel, und alles, was Ihr vorhabt, ist die Augen davor zu verschließen. Diebe und Halunken breiten sich in dieser Stadt aus, missachten die Gesetze und verderben unsere Gesellschaft. Ihr wollt mich maßregeln? Mich an den Pranger stellen? Ich habe nur getan, was Ihr längst hättet tun sollen. Einer aus Euren eigenen Reihen wurde durch diese Verbrecher ermordet, und selbst dann habt Ihr nichts dagegen getan. Meine Vorgehensweise mag ungewöhnlich, ja, vielleicht sogar anmaßend gewesen sein. Aber das Gesetz verlangt, dass auf ein Unrecht Gerechtigkeit folgen muss. Während Ihr nur Worte übrighattet, habe ich Taten sprechen lassen. Hiermit lege ich euch die Wahrheit zu Füßen."
Er gab den Wächtern einen Wink, und im nächsten Moment öffneten sich erneut die schweren Flügeltüren des Saales.
Eine Frau - oder der Schatten dessen, was er als eine Frau ansah - wurde gewaltsam in den Raum geführt. Die braunen Haare klebten ihr wirr am Kopf, die Hände gefesselt, und alles, was man ihr gelassen hatte, waren die Lumpen, die sie trug. Sie wirkte elendig und ausgebrannt, gleich einem Häufchen Asche, das nach einem Lagerfeuer liegengelassen worden war.
Ungeachtet dessen wollte der Ausdruck des Trotzes nicht aus ihrem Gesicht weichen – nicht einmal, als die Wachen sie vor den Rat warfen und sie keuchend auf dem Marmorboden aufschlug.
"Vor Euch seht Ihr die Mörderin, die Prätor Cykalis Leben auf dem Gewissen hat." Sein anklagender Finger wanderte zu ihr. Völlig entkräftet hob die Magielose den Kopf, doch in ihren Augen brannte ein Feuer der Rebellion.
Dunagar hatte jedoch keine Zweifel daran, dass er - so wie bei allen vor ihr - ihren Widerstand bald brechen würde.
"Die Schwarzen Schnitter haben sie schließlich gefangen. Ohne ihre Hilfe wäre eines der größten Verbrechen, das Klippenzunge je gesehen hat, nie geahndet worden."
"Wir haben Euch zu danken, dass Ihr die Übeltäterin gestellt habt, Justikar", begann Invictus und hob verblüfft die buschigen Brauen, "aber wir möchten Euch dennoch bitten, die Vormachtstellung des Rates zu wahren. Ihr schuldet uns eine Erklärung."
"Entweder das", unterbrach ihn Percura in kratzigem, forderndem Ton und schlang die feingliedrigen Finger um ihr Podest, "oder Ihr schwört uns, dass dieses Malheur ein einmaliger Fehltritt war und sich nicht wiederholen wird."
"Wenn Ihr zugebt, dass Ihr es bereut", säuselte Zarkrom und kam auf Dunagar zu, bis er auf den untersten Rängen stand, "werden wir gnädig sein und die Konsequenzen milde ausfallen lassen."
"Bereuen?", wiederholte Dunagar und richtete seinen gnadenlosen Blick auf den Prätor mit der olivfarbenen Haut. "Ich bereue gar nichts. Vielmehr solltet Ihr mir danken."
"Danken, wofür?" Angespannt zwirbelte Odowyn seinen Schnurrbart. Selbst ein Blinder hätte ihm die Nervosität angesehen.
Endlich. Ohne es zu wissen, stellte er die Frage, auf die Dunagar nur gewartet hatte. Der Hauch eines Lächelns huschte über seine Züge – fast hatte er vergessen, wie es sich anfühlte, den Muskel zu verwenden.
"Viel zu lange schon habt Ihr das große Ganze aus den Augen verloren", fuhr er ungerührt fort und schritt an Zarkrom vorbei wie ein Reisender an einer alten Eiche. "Statt zu regieren, setzt jeder von euch seine eigenen Interessen durch - die Vormachtstellung des Hauses, die Verwaltung von Ländereien, den eigenen Reichtum ..."
Seine Stimme verlor sich, als er neben die Magielose trat. Ihr zorniger Blick verfolgte ihn mit jedem Schritt. Dann zog er einen kleinen Gegenstand unter seiner Robe hervor. Die Prätoren musterten ihn mit gemischten Gefühlen, bestürzt und zugleich fasziniert – so wie sie es immer taten, wenn sie sich vor etwas fürchteten.
"Ihr seid blind für die Wahrheit und taub für die Bedrohung, die in dieser Stadt zu sprießen beginnt."
Dunagar trat näher an den Rat heran, wobei er die bronzene Brosche mit dem Symbol der Sonne deutlich erkennbar in die Höhe hielt. Hörbar sogen die Prätoren die Luft ein, während die Verärgerung auf ihren Gesichtern der Besorgnis wich.
"Vor Jahrzehnten habt Ihr geglaubt, sie besiegt zu haben, und nun seid ihr unfähig zu sehen, wie sie wieder aus den Schatten hervorkriechen, ja, sogar mitten unter Euch wandeln. Dabei ist der Beweis direkt vor Euren Augen."
Wieder deutete er auf die Diebin. "Diese Gesetzlose trug das Symbol Auras bei sich. Sie ist eine Nekromantin, ein Schattenkind, und damit ein Teil des Bösen, vor dem ich Euch vor Jahrzehnten gewarnt habe. Und ich warne Euch wieder: So wie damals werden sie auch jetzt versuchen, den Blutmond zu stürzen und in ganz Ta'ehran Chaos zu entfesseln. Vernichtet sie, bevor sie Euch vernichten können. Vertraut auf die Gabe der Zukunft und lasst mich meines Amtes walten."
"Ihr wollt also unsere Legitimation?", blaffte Odowyn ihn so aufgebracht an, dass sein beleibter Bauch zu beben begann. "Weil Ihr glaubt, Ihr müsst die Anhänger der Sonne jagen, so wie Ihr diese Diebin hier gejagt habt?"
"Ich glaube es nicht", entgegnete Dunagar tonlos. "Ich weiß es."
"In Anbetracht der vorgebrachten Beweise, sind die Behauptungen des Justikars nicht haltlos." Zarkrom rieb sich das bärtige Kinn. "Ich schlage vor, wir stimmen darüber ab."
Dunagar beobachtete Odowyn dabei, wie er die Magielose beäugte, die noch immer auf dem Marmorboden kniete. Dann schüttelte der Prätor ungläubig den Kopf, sodass seine pausbäckigen Wangen wackelten. "Das ist mir zu heikel. Mit einer Gruppierung, die eine tote Göttin verehrt, will ich nichts zu tun haben. Ich enthalte mich."
Percura und Invictus tauschten einen kurzen Blick aus. Während der hochgewachsene Mann kritisch die Brauen zusammenzog, legte sich ein wissender Ausdruck auf die faltenzerfurchten Züge der Prätorin.
"Ihr denkt also, die Anhänger Auras sind zurückgekehrt?", fragte sie und nickte zugleich. "Dann nur zu. Zerschlagt sie. Meine Zustimmung habt Ihr."
Invictus wog nachdenklich das Haupt. "Ihr mögt die Gabe der Zukunft haben, aber solange keine Bedrohung erkennbar ist, gibt es keinen Grund für voreilige Schlüsse. Wir sollten die Situation beobachten und besonnen agieren. Ich stimme dagegen."
Daraufhin richteten sich alle Augen auf Zarkrom. Der Mann mit dem gewundenen Bart stieg von den untersten Rängen herunter und musterte interessiert die Schwarzen Schnitter in ihren Rüstungen aus Obsidian.
Die beiden Männer hatten der Sitzung schweigend beigewohnt. Als Dunagar sie prüfend musterte, wirkte vor allem das Gesicht des einen nicht so ausdruckslos, wie der Richter es erwartet hatte. Vielleicht würde er ein ernstes Wort mit ihm reden müssen - auch in Anbetracht der Tatsache, dass er sich nicht an die Vorgaben gehalten hatte, die er ihm auferlegt hatte.
"Nun", begann der kahlköpfige Prätor. "Es ist, wie es ist. Neben dem Blutmond ist kein Platz für die Schönheit der Sonne. Die Nekromanten wurden schon einmal vernichtet. Ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen. Und wenn es morgen wieder geschieht, werde ich der Letzte sein, der Euch im Weg steht, Justikar. Ich stimme zu."
Dunagars Blick schweifte durch die Ratskammer, bis er auf den fünften, leeren Rang traf. Es war derjenige, den einst Prätor Cykalis für sich beansprucht hatte.
Der Triumph ließ ihn das Pochen seiner Schläfen beinahe vergessen. Er würde der Mörderin, die für seinen Tod verantwortlich war, danken müssen.
Und sie danach töten.
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