Kapitel 3 - Fluch
"Hört endlich auf zu streiten", unterbrach Nala sie. "Sag uns lieber, wie wir vorgehen sollen."
"Das Lagerhaus ist gut bewacht." Flinn wandte sich von Moira ab. "Anscheinend befürchten sie, wir könnten aufhören, uns mit den einfachen Rationen zu begnügen und uns stattdessen die kostbaren Vorräte vornehmen."
"Wenn du glaubst, dass es gut bewacht ist, sollten wir uns dann nicht ein einfacheres Ziel suchen?", hakte Lupus nach.
"Sie scheinen unsere nächtlichen Einbrüche nicht besonders zu mögen." Er grinste flüchtig. "In den anderen Lagerhäusern haben sie die Anzahl der Wachen mittlerweile fast verdoppelt. Dieses hier scheint noch nicht betroffen zu sein."
"Was sie unweigerlich nachholen werden, sobald wir hier einbrechen", ergänzte Nala.
Flinn nickte. "Im Lagerhaus gibt es eine ganz besondere Fracht, aber ich bin nicht sicher, worum es sich dabei handelt. Auf jeden Fall haben die Blutmagier viel Zeit und Geld investiert, damit diese Lieferung sicher hier ankommt. Sie wurde heute Morgen geliefert."
Er deutete auf das Gebäude. Die Wachen hatten mittlerweile vor dem Lagerhaus Position bezogen. "Von hier aus könnt ihr die Nordseite erreichen. Sie hat keine Fenster und keinen Zugang zum Kanal, deshalb kommt dort so gut wie niemand vorbei. Das gibt euch die Möglichkeit, ungesehen aufs Dach zu gelangen. Nehmt das hier zu Hilfe."
Flinn zog etwas hervor und reichte es jedem - ein Hanfseil.
"Zwischen den Giebeln führt ein Lüftungskanal in den Haupttrakt, eine Art Vorratskammer. Wenn wir Glück haben, werden sie im Raum nebenan die besondere Fracht verstaut haben. Versucht am besten, so viele Kisten wie möglich zu durchstöbern. Wenn ihr etwas von Interesse findet, nehmt es mit."
Mit diesen Worten reichte er jedem von ihnen einen Leinensack.
"Neben euch wird sich eine weitere Gruppe von der Südseite aus mit einem Boot nähern. Damit könnt ihr die Beute wegschaffen und verschwinden. Aber ihr müsst euch beeilen. Falls ihr in Schwierigkeiten geratet, könnt ihr versuchen, stattdessen über den Erdkeller zu entkommen. Ich habe keine Ahnung, was dort unten lagert, aber ich habe gesehen, wie Wachen ihn über eine unbelebte Seitengasse betreten, nahe dem Marktplatz." Er sah sie der Reihe nach eindringlich an. "Euer Ziel muss aber der Haupttrakt sein. Ihr dürft auf gar keinen Fall mit leeren Händen zurückkommen, habt ihr verstanden? Gebt unbedingt euer Bestes."
"Wir geben immer unser Bestes." Moira versuchte, nicht zu verbissen zu klingen, aber es gelang ihr nicht.
Flinn grinste nicht mehr, als er den Hang hinunter deutete. "Siehst du die Hütten dort unten?"
Sie wusste, dass er auf die Slums zeigte - den Ort, den sie ihr Zuhause nannte.
"Bettler werden auf offener Straße ermordet. Kinder verhungern vor unseren Augen, und niemand sieht hin. Unsere Bestände schrumpfen. Viele von uns werden den anstehenden Winter nicht überleben. Willst du das?"
"Ob ich das will? Denkst du, ich-"
"Deshalb ist es so wichtig, dass ihr Erfolg habt", unterbrach er sie harsch. Die plötzliche Schärfe in seiner Stimme überraschte sie.
"Ich habe genug von euren Streitereien! Wenn wir nur hier herumstehen und uns die Stadtwache aufknöpft, brauchen wir uns keine Gedanken mehr darüber zu machen, also reißt euch zusammen!" "
Forsch schob Nala sich zwischen die beiden. Sie war immer die Stimme der Vernunft von ihnen gewesen, schon seit sie Kinder gewesen waren.
"Und du", wandte sie sich tadelnd an Moira, "hör auf ständig mit jedem zu streiten, verdammt nochmal!"
"Wartet, bevor ich es vergesse." Flinn griff in seine Hosentasche, zog drei Phiolen hervor und reichte jedem von ihnen eine. Moira beäugte den kleinen Glasbehälter in ihrer Hand. Er war kaum größer als ihr kleiner Finger, verkorkt und mit einer Art schwarzem Pulver gefüllt.
Sie verstaute den Behälter an ihrem Gürtel, direkt neben dem rostigen Messer.
Plötzlich legte sich eine Hand auf ihre Schulter. Überrascht blickte sie auf.
"Ich mag dich, Moira.", sagte Flinn. "Seit ich dich kenne, warst du immer voller Tatendrang, und ich bewundere dich dafür."
Sie errötete und wich seinem Blick aus. Die Wärme seiner Hand drang durch ihren Umhang.
"Aber du bist auch wütend und verbittert. Wenn wir uns einfach in unser Schicksal fügen, wird sich nie etwas zum Besseren wenden. Du könntest viel verändern. Wenn du es nur wollen würdest."
Als er sich zurückzog, füllte Kälte die Stelle, an der seine Hand gelegen hatte.
Dann wandte er sich an Nala und Lupus. "Denk nicht nach, schau nicht zurück."
"Sei nicht die Beute, sei der Schatten", antworteten sie wie im Chor. "Auf dass Nigros uns übersieht. Möge das Spiel beginnen."
"Ich zähle auf euch."
Ein letztes Mal drehte er sich Moira zu. "Warte an dem alten Kampanile im Rotenburger Viertel auf mich, wenn die sechste Stunde schlägt." Er grinste. "Ich werde da sein."
Noch bevor sie etwas erwidern konnte, sprang Flinn aus der Gasse in die Nacht - und schockiert sah sie dabei zu, wie er geradewegs auf die Wachen zuging.
"Was hat er vor?", hauchte Nala. "Sie werden ihn umbringen!"
Der Gedanke jagte Moira einen kalten Schauer über den Rücken.
Wenn wir keine Hoffnung mehr hätten, wären wir nicht hier, besann sie sich und hob trotzig das Kinn.
Moira schlich voran, während die anderen ihr folgten. In der Zwischenzeit hatte Flinn die Wachen erreicht. Ihre Kettenhemden glänzten blutrot im Licht der Fackeln.
Moira erreichte als erste die Mauer. Nala folgte und kletterte auf ihre Schulter, damit sie eine Zinne greifen und sich daran hochziehen konnte.
Lupus tastete vorsichtig mit den Sohlen umher, ehe er sein Gewicht auf ihre Schultern verlagerte. Ihr Umhang war bereits durchnässt vom Regen, der auf sie niederprasselte, und so fand er nur schwer den richtigen Halt.
Moira ließ derweil die Wachen nicht aus den Augen. Es war ein kritischer Moment; einer der Männer brauchte nur den Kopf in ihre Richtung zu drehen, und er würde sie entweder für brünstige Gargyle halten - wenn er dumm war - oder für das, was sie waren: Plünderer.
Sie konnte sehen, wie Flinn noch immer mit den Männern sprach, und etwas aus der Hosentasche zog. Waren das... Münzen? Wollte er die Männer bestechen? Der Gedanke war absurd.
Dann verstand sie, und ein Lächeln kräuselte ihre Lippen. Er lenkt sie ab.
Flinn bot ihnen etwas zum Verkauf an, denn er streckte den Männern die Handfläche entgegen, und skeptisch beugten sie sich darüber. Sie schienen zu verhandeln.
Ob er ihnen eine dieser getrockneten Blütendrogen anbot, die auf dem Schwarzmarkt kursierten? Hoffentlich konnte er ihnen dabei noch ein paar Rubel abluchsen.
In dem Moment wandte eine der Wachen den Kopf in ihre Richtung. Er konnte unmöglich mehr als einen Schemen in der Dunkelheit gesehen haben, dazu waren sie zu weit entfernt. Aber es war genug gewesen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Misstrauisch schwang er die Fackel, deren Flammen im niedergehenden Regen zischten, und machte einen Schritt auf sie zu.
"Wer ist da?"
Ein Blitz der Angst durchfuhr Moira bei seinem Ruf. Hilflos stand sie da, unfähig wegzulaufen, während Lupus auf ihren Schultern balancierte. Hastig griff Nala nach seiner gesunden Hand und zog ihn daran hoch. Moira stützte ihn von unten. Sie konnte den blutroten Lichtkegel der Fackel wie eine züngelnde Schlange entlang der Mauer auf sich zukriechen sehen.
Plötzlich schrie einer der Wachmänner auf und seine Fackel stürzte zu Boden, die Nacht erzitterte unter dem Lichtertanz. Ein Dolch ragte aus seinem Nacken, wo das Kettenhemd endete, und er brach auf die Knie. Metall blitzte rot im Schein des Lichts, als sein Kamerad, der sich eben noch auf Moira zubewegt hatte, sein Schwert aus dem Halfter riss und nach Flinn ausholte.
Lupus hatte es mittlerweile auf die Zinnen geschafft. Panik stieg in Moira auf. Sie würde es niemals schaffen, sich hochzuziehen, bevor die Wache sie erreichte, also tat sie instinktiv, was sie für richtig hielt. Geduckt wie ein Wiesel rannte sie davon, die Mauer entlang. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Sie rannte um ihr Leben, und sie konnte nur hoffen, dass Flinn das gleiche tat.
Umso schneller sie lief, umso mehr verschmolz sie mit der Dunkelheit, die sie wie ein endlos langer Mantel umgab. Unsichtbar, unscheinbar für das unwissende Auge. Ihr wurde kalt und ihr Puls raste, als ob das Blut in ihren Adern allmählich gefror.
Es fühlte sich unnatürlich an. Übernatürlich. Das waren die Worte, die ihr dazu einfielen. Manchmal nannte sie es eine Gabe, manchmal einen Fluch. Es schien, als ob sie zu einem Geschöpf der Nacht wurde, wenn sie nur nah genug am Abgrund des Lebens stand.
Es war nicht nur die Angst vor dem Tod, die sie spürte, sondern auch ihr Hass auf die Magier, die diese Angst verbreiteten. Wie zwei Peitschen, die im Wechsel schlugen, trieb es sie vorwärts.
Sie wagte es nicht, sich umzudrehen. Mit einer Hand tastete sie sich an dem Mauerwerk entlang, bog um eine Ecke. Ihr Einbruch hatte doch noch gar nicht richtig begonnen, wie hatte er da so schnell eskalieren können? Sie konnte nur hoffen, dass Lupus und Nala nicht entdeckt worden waren.
Es muss einen anderen Weg in das Lagerhaus geben, überlegte sie angespannt, während sie rannte. Einen für Kanalarbeiter, für Lieferungen, irgendetwas...
Der Erdkeller. Flinn hatte ihn als einen Fluchtweg beschrieben. Warum sollte sie ihn nicht einfach nutzen, um hinein statt hinaus zu gelangen?
Es dauerte nicht lange, da fand sie den Seiteneingang. Das Mauerwerk hier war hoch wie ein Wall und grenzte an eine schmale Gasse, die bis auf ein paar Fässer völlig leer dalag. Nichts deutete darauf hin, dass hier überhaupt Menschen ein und aus gingen. Die Tür war aus massivem Holz, wahrscheinlich doppelt gesichert. Als Diebin hatte sie ein Gespür für Schlösser. Ihre Finger ertasteten die Klinke, dann drückte sie zu.
Verschlossen.
Was hatte sie erwartet? Dass sie einfach hineinspazieren konnte?
Plötzlich hörte sie Schritte, und aus den Augenwinkeln erkannte sie den Lichtkegel, der sich hinter der Ecke näherte. Die Wache. Bedeutete das, Flinn war entkommen?
Für einen Augenblick schaute sie zurück auf die verwaiste Straße, ihr Umhang vollgesogen und schwer vom Regen. Sie waren entdeckt worden, es gab keinen Grund mehr, einen gescheiterten Plan zu verfolgen. Warum also rannte sie nicht einfach davon?
Und wohin soll ich gehen? In die Slums zwischen Kot und Abfall? In die Kanäle zu den Ratten?
Sie war nicht wie Lupus, der die Bestätigung anderer brauchte, um einen Sinn in seinem Handeln zu sehen. Sie war auch nicht wie Nala, die ihre Motivation daraus zog, der Realität fest ins Auge zu sehen, und ihr jeden Tag aufs Neue triumphierend ins Gesicht zu lachen. Moira hatte ihren ganz eigenen Grund, jede Nacht ihr Leben zu riskieren - zu wissen, dass Nigros, der Gott des Zerfalls und der Schmerzen, eines Tages das Spiel mit ihr Leid sein würde, und sie schließlich mit Gewalt holte.
Und dieser Grund hieß Eliza.
Wenn du die Wahl hättest, was würdest du ändern?, flüsterte Flinn in ihren Gedanken.
Also zückte sie ihren Dietrich aus dem Ärmel und machte sich an die Arbeit.
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