Kapitel 29 - Das Versprechen
Nun ist es also so weit gekommen – wir wenden uns gegen eine der unseren. Ich frage mich, rechtfertigt das Verbrechen den Verrat?
Wenn einer sterben muss, damit das Geheimnis bewahrt werden kann ... lässt sich so ein Leben mit dem Gewissen vereinbaren?
Dennoch ... ich kann nicht sagen, dass mich der Gedanke nicht reizt. Es mag uns nicht von Schuld befreien, aber alles in allem, wie könnte ich den Tod ablehnen? Am Ende ist es mein Element.
Unsterblichkeit ist nicht für jedermann. Am Ende wirst du den Tod finden, wie das Urteil auch fällt. Und ich werde da sein, um die Hinrichtung zu vollziehen.
Das ist mein Versprechen, Aura. Es ist fast schon bedauerlich.
- Nigros, fünfter Psalm, obsolet
Das Heulen des Wolfs erschütterte die Grabesstille der Nacht und übertönte jeden ihrer Gedanken. Dennoch glaubte Moira, ein Flüstern zu vernehmen. Allmählich befürchtete sie, den Verstand zu verlieren.
Lauf, mein Kind, lauf.
Ihr Herz hämmerte mit jedem Schritt in ihrer Brust, presste ihr die Luft aus der Lunge. Zu lange rannte sie schon, zu kurz war die Pause mit Nala im Pavillon gewesen. Viel länger würde sie nicht mehr durchhalten. Sie musste einen Weg finden, diese Verfolgungsjagd endgültig zu beenden, und nun, da der Bluthund ihr nicht mehr auf den Fersen war, wusste sie auch wie.
In die Kanalisation. Am Kanalkreuz gab es einen Zugang, der sich nur bei Starkregen vollständig mit Abwasser füllte - vorausgesetzt, das zugehörige Sperrgitter war geöffnet.
Und deshalb konnte sie nur hoffen, dass Nala Recht behalten und Lupus dort auf sie warten würde, um sie einzulassen. Denn das Gitter ließ sich nur von der Innenseite öffnen.
Die Furcht trieb sie an - vor der unsicheren Zukunft, die vor ihr lag, und dem, was hinter ihr lag. Der Wolf des Schnitters jagte sie, konnte jeden Gedanken an ein Morgen abrupt beenden. Es war wie ein unheilvolles Versprechen, das sie einzuholen drohte – wenn sie hier und jetzt stehenblieb, losließ, würden alle Sorgen schlagartig enden.
Nein, besann sie sich. Obwohl jeder ihrer Muskeln schmerzte und ihre Knochen stöhnten, hielt sie nicht an. Aufgeben ist keine Option.
Dank ihrer Gabe, ihrem Segen, wie Garrit es genannt hatte, fühlte sie sich, als wäre sie vollständig mit den Schatten verschmolzen. Selten – nein, noch nie - hatte sie sich dem Ende so nah und gleichzeitig so lebendig gefühlt. Es war, als ob sie umso mehr erwachte, desto näher sie dem Tod kam.
Aber nicht nur ihr volles Potential war geweckt worden. Auch die Rote Garde schien zu ihrer vollen Größe erblüht zu sein. Stadtwachen zogen durch sämtliche Straßen der Stadt und durchleuchteten sie mit dem allsehenden Feuer der Ewigen Flamme. Ganz Klippenzunge musste aussehen, als stünde es in Flammen.
Sie kommen für dich, flüsterte die Dunkelheit, so wie sie einst für mich gekommen sind.
Moira schoss aus der Gasse und hechtete über den großen Platz, vorbei an einem Springbrunnen, in dem das Wasser friedlich vor sich hinplätscherte. Sie hörte lautes Rufen, das die Grabesruhe der Nacht erschütterte, dann das Zischen von Metall, als zwei Stadtwachen ihre Schwerter aus den Halftern zogen und auf sie zueilten.
In ihren Kettenhemden und gepolsterten Wappenröcken waren sie allerdings viel zu schwerfällig, sodass die Diebin ihnen mit Leichtigkeit davonrannte. Lediglich der gepresste Atem der Männer drang an ihre Ohren.
Ohne anzuhalten wagte Moira es, einen Blick über die Schulter zu werfen. Zu ihrer Verblüffung konnte sie den Wolf nicht sehen.
Habe ich ihn etwa abgehängt?, dachte sie verblüfft.
Im nächsten Augenblick ertönte ein Knurren zu ihrer Linken und ließ ihren Kopf herumfahren.
Da. Das Raubtier war ihr nicht direkt gefolgt, sondern in dem Versuch, sie seitlich zu attackieren, um den Springbrunnen herumgelaufen und schoss nun mit gebleckten Fängen auf sie zu.
Reflexartig wich sie nach hinten aus und rannte auf einen Händlerstand zu, dessen Warenkisten die anliegende Seitenstraße blockierten. Dann sprang sie über das Hindernis.
Noch während sie durch die Luft segelte, zerrte etwas an ihrem Hals und riss sie abrupt zu Boden, sodass sie mit dem Rücken auf das Holz der Kisten bretterte. Moira würgte und rang nach Atem, griff sich an die Kehle, die drohte, von ihrem Umhang zugeschnürt zu werden. Der leinenartige Stoff grub sich tief in ihre Haut. Mit den Fingern zerrte sie daran, versuchte verzweifelt ihn zu lockern, und ertastete die metallene Schnalle, die sie sogleich löste. Ruckartig wurde der Umhang von ihr gestreift.
Panisch hechtete sie über die Kisten in die Gasse, warf nur einen kurzen Blick auf den Wolf, der sich in dem Stoff verbissen hatte und nun davon abließ. Er musste ihren Umhang erwischt haben, als sie gesprungen war.
Statt ihr zu folgen, heulte er erneut. Das Geräusch jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
Es klingt wie ein Signal, dachte sie bestürzt, schlagartig von dem Gefühl gepackt, dass er sie womöglich bewusst in diese Richtung lenkte. Wenn es ihr gelang, einen Satz über die Händlerkisten zu machen, dann konnte er es allemal.
Warum tut er es dann nicht?, wunderte sie sich. Ist es nicht das, was sie wollen? Mich töten? Warum hält er sich dann zurück? Oder verfalle ich langsam dem Wahnsinn?
Moira rannte, bis ihr Atem rasselte und sie glaubte, ihre Lunge müsste bersten. An einer Kreuzung angekommen hielt sie kurz inne, nur um zur Rechten und Linken Fackeln zu sehen, die sofort zu ihr herumschwangen, als die Wachen sie bemerkten. Es gab nur einen Weg, also hetzte sie geradeaus. Doch es beunruhigte sie - mehr noch, als es der Anblick des Schnitters getan hatte.
Denn sie hatte jegliche Kontrolle über ihre Flucht verloren. Noch dazu arbeitete die Zeit gegen sie. Umso länger sie davonlief, desto eher würden ihre Kräfte sie verlassen - bis sie schließlich in die Fänge ihrer Häscher geraten würde.
Am Ende der Gasse erklomm sie einen Mauervorsprung, der sie die Hausfassaden am Kanal entlangführte, bis sie eine Erhebung aus Steinplatten erreichte, auf die sie sich zog. Von hier aus hastete sie auf eine Steinbrücke zu.
Unter ihr klaffte das dunkle Gewässer und spiegelte das Mondlicht. Hier, am Kanalkreuz, traf der nördliche auf den südlichen Kanal, und an eben diesem Ort gab es mehrere Zugänge zur Kanalisation, die vom Wasser aus zu erreichen waren. Für ihre Rettung war einer von ihnen ausreichend, sofern er geöffnet war.
Sie musste nur noch in Erfahrung bringen, welcher es sein würde.
Lupus. Nala hatte ihr gesagt, dass ihr Bruder hier warten würde, um die Gitter von der Kanalisation aus zu öffnen. Am höchsten Punkt der Brücke blieb sie sehen. Mit den Augen suchte sie das Kanalbecken mitsamt der Begehung ab.
Dann sah sie ihn. Beinahe hatte sie ihn unter dem Umhang nicht erkannt, doch für sie schlug er die Kapuze ein Stück weit zurück, sodass sein hellblondes Haar sich von der Dunkelheit abhob. Eine Welle der Erleichterung durchfuhr sie und verlieh ihr neue Kraft. Mit seiner gesunden Hand deutete er auf einen der Kanalisationszugänge, reckte anschließend den Daumen in die Höhe und kurz darauf den Zeigefinger.
Alles ist in Ordnung, verstand Moira. Einer ist zurückgekehrt.
Das musste bedeuten, dass Nala bereits bei ihm war. Zumindest hoffte sie es so sehr.
Da bemerkte sie eine Bewegung aus den Augenwinkeln. Erschrocken riss sie den Kopf herum. Beinahe hatte sie geglaubt, sie hätte alles Unheil dieser Nacht hinter sich gelassen, indem sie dem Reiter und den Wachen entkommen war.
Doch nun erkannte sie entsetzt, dass sie ihm direkt in die Arme gelaufen war.
Er war auf der nordwestlichen Kanalseite aus der Gasse hervorgetreten, saß seelenruhig im Sattel seines Rosses. Dieses Mal trug er keine Fackel, sodass nur das Mondlicht die schwarze Erscheinung - das Grauen und das Leid, das er verkörperte - reflektierte. Er spannte die Sehne seines Bogens, ein Pfeil zum Schießen angelegt. Und noch bevor sie realisierte, was geschah, durchbrach ein Zischen die Nacht – und aus der Grabesstille wurde eine Todeshymne.
Wie hatte sie glauben können, dass sie ihm entrinnen konnte? Sie hatte es geleugnet, genauso wie das dunkle Versprechen, das ihr Imitri längst gegeben hatte: Sein Pfeil verfehlt nie sein Ziel. Und er trifft immer ins Herz.
Und mit diesem Versprechen rauschte der Pfeil durch die Dunkelheit, formte sich zu einer Krähe und zurück in seine ursprüngliche, tödliche Form, als er sein Ziel fand. Aber es war nicht Moira gewesen, die er anvisiert hatte.
Lupus!
Es hatte nur den Bruchteil eines Wimpernschlags gedauert, von dem Moment an, als sie den Schwarzen Schnitter wahrgenommen hatte, bis zu dem, in dem Lupus aufstöhnte und vornüber in den Kanal fiel.
"Nein, nein, nein!"
Sein Körper wurde vom Gewässer verschluckt und verschwand in den Tiefen. Moira hievte sich auf die Balustrade, schrie aus vollem Hals. Für einen Atemzug hockte sie dort, balancierte auf den Fußballen, während ihr Blick über die Wasseroberfläche hechtete. Aber die Tränen nahmen ihr die Sicht. Zu dunkel, zu verschwommen. Zu endgültig.
Das darf nicht wahr sein!, brüllte sie innerlich. Er hat ihn getötet, flüsterte die Vernunft. Nein, das darf nicht sein, das darf es einfach nicht!
Der Schnitter griff zum nächsten Pfeil. Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt, das brauchte er auch nicht. Einmal ins Visier genommen würde er sein Ziel nicht verfehlen. Er kannte keine Eile, strotzte vor Selbstbewusstsein, und Moira hasste, ja, verfluchte ihn dafür. Nur der Mond war ihr Zeuge.
Dann schoss er erneut.
Der einzelne Schlag eines Herzens – und selbst das konnte nicht den Hauch des Augenblicks beschreiben, in dem Moira den Pfeil auf sich zurasen sah. Wie er sich blitzschnell in eine Krähe verwandelte, die schwarzen Federn durch die Luft wirbelnd, nur um sofort darauf wieder als Geschoss auf sie zuzujagen.
Für diesen einen Schlag setzte ihr Herz aus, gefror in diesem allumfassenden Punkt im Gefüge der Zeit. Mit einem Mal schien alles still zu stehen, jeder ihrer Muskeln zu Eis erstarrt. Sie rührte sich nicht, gleichzeitig brach die Welt um sie herum in Scherben und riss sie von den Füßen - als bewege nicht sie sich, sondern alles andere um sie herum.
Es war übernatürlich, unnatürlich - die pure Essenz von Magie. Für den Splitter eines Pulses, in dem sie zu atmen vergaß, zog es sie in die Schatten, sodass sie glaubte, sich zu biegen und beinahe zu brechen.
Und dann verstrich der Moment. Die Welt drehte sich weiter, während sie von der Balustrade fiel und die kalte Brühe des Kanals sie in Empfang nahm.
Ihre Seite schmerzte, aber sie spürte, dass sie lebte. Wie ihr Herz wild in ihrer Brust hämmerte, als müsste es die Sekunden, die ihr gestohlen worden waren, zurückholen. Das kühle Nass sog sich in ihre Kleidung und das Leder, umfing ihre Haut und ihr Gesicht, mischte sich mit ihren Tränen, süß und salzig zugleich.
Sie öffnete die Augen, noch immer unter Wasser. Doch sie sah kaum die Hand vor Augen, nur die Luftblasen, die durch ihren Sturz aufgewirbelt worden waren. Ob er erneut auf sie schießen konnte, wenn er wollte?
Nein, das glaube ich nicht, mutmaßte sie. Er muss sein Ziel vor sich sehen, um den Pfeil anzusetzen, sonst wäre ich schon tot. Im Wasser bin ich geschützt.
Also ließ sie sich von der Strömung davontreiben, bis zu dem Zugang, in den sie schließlich hineinschwamm - den, auf den Lupus gezeigt hatte. Bei dem Gedanken an ihren Freund verkrampfte sich ihr Herz. Sie lebte, aber zu welchem Preis? Das Wasser um sie herum ertränkte ihren Kummer.
Im Inneren des Tunnels schwamm sie an die Oberfläche, rang gierig nach Luft, keuchte und weinte. Sie kämpfte sich vorwärts, aber jede Bewegung fühlte sich anstrengend an, als vermengte sich in ihrem Inneren eine überwältigende Mischung aus Trauer, Wut und Hoffnungslosigkeit, die jegliche Energie verschlang.
Nur mit Mühe gelang es ihr, den Kopf über Wasser zu halten und ihre Beine dazu anzutreiben, zu strampeln. Ganz allmählich konnte sie das Sperrgitter vor sich ausmachen. Das Plätschern des Wassers drang an ihre Ohren.
"Hallo?"
Mit letzter, verbliebener Kraft streckte sie die Hand nach den Eisenstäben aus und zog sich daran hoch. Von der anderen Seite drang das Licht einer Fackel zu ihr, doch der Gang nahm eine Biegung, sodass sie niemanden erkennen konnte.
"Nala?"
Sie tastete das Gitter ab, spürte den Rost der Jahrzehnte unter ihren Fingerkuppen, den Schlick und den Kalk. Dann rüttelte sie daran.
Verschlossen.
Warum hatte Lupus es nicht offengelassen? Oder bedeutete es, dass Nala bereits hineingegangen war? Warum war sie dann nicht hier? Womöglich hatte sie den Kampf gehört und das Weite gesucht. Oder Lupus hatte das Gitter versehentlich geschlossen.
Dann wäre alles umsonst gewesen.
Wenn sie hierblieb, würde sie im kalten Nass des Kanals erfrieren. Gleichzeitig fehlte ihr die Ausdauer, umzukehren, wissend, dass der Schwarze Schnitter wahrscheinlich schon am Ufer lauerte, um sie aus dem Wasser zu fischen – und er würde keinen Unterschied machen, ob er sie tot oder lebendig fing.
Bei dem Gedanken hätte sie panisch werden müssen. Stattdessen schien alles auf einmal so unbedeutend. Sie hatte die Schnitter aufhalten, ihre Freunde beschützen und Eliza ein besseres Leben ermöglichen wollen. Sie hatte eine Spionin sein wollen, ein Kind der Schatten.
Und sie war gescheitert. Jeden und alles hatte sie mit sich ins Verderben gerissen. Garrit hatte sich geirrt, die hinter vorgehaltener Hand geflüsterten Gerüchte sich bewahrheitet, wenn sie davon sprachen, was sie war. Ein Fluch.
Moiras Finger lösten sich von den Eisenstäben, dann sackte sie in sich zusammen. Finsternis umfing sie, als das Bewusstsein ihr langsam entglitt.
Die herannahenden Schritte, die das Wasser aufwühlten, und das darauffolgende Quietschen des Metalls, das beim Öffnen des Sperrgitters ertönte, hörte sie bereits nicht mehr.
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