Kapitel 28 - Hetzjagd
Der Wind trug das Heulen eines Wolfs durch die Nacht. Es klang beinahe wie ein Gespenst, das die bevorstehende Heimsuchung der Stadt ankündigte.
Moira stürmte zusammen mit Nala über die Dächer. Eine winzige Träne lief ihre Wange hinunter und wurde vom Wind davongetragen.
Seltsamerweise spürte sie keine Schmerzen in ihrem Fuß. Als sie danach tastete, bemerkte sie zu ihrer Erleichterung, dass das Leder zwar löchrig und zerfetzt war, ihre Haut aber unversehrt geblieben war. Wenn sie daran dachte, was er alles mit ihr hätte anrichten können, lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter.
Warum hat die Wölfin den Bluthund angefallen? Der Gedanke ließ sie nicht los. Bedeutet das, dass der Schnitter mir bis in die Gasse gefolgt ist? Dass ich ihn doch noch in die Falle gelockt habe? Oder sind wir gescheitert?
Alles war so völlig anders gekommen, als sie es sich ursprünglich erhofft hatte. Aber bei all' den Fragen, die sich vor ihr auftaten, war es vor allem eine, deren Beantwortung sie sich herbeisehnte: Geht es Imitri gut?
Er hatte ihr das Leben gerettet und die Flucht ermöglicht. Zu gern hätte sie sich bei ihm bedankt – für heute, für alles, was er für sie getan hatte. Ob sie jemals die Gelegenheit erhalten würde, es ihm persönlich zu sagen?
Hauptsache er lebt, betete sie. Das ist alles, was zählt. Jetzt muss auch ich überleben. Das bin ich ihm schuldig.
Sie sprangen über den Spalt einer Gasse, der sie vom nächsten Dach trennte, und huschten weiter.
"Da hast du dich aber in einen ganz schönen Misthaufen manövriert", kommentierte Nala ihre Begegnung mit dem Bluthund, während sie ihr voraus den Giebel erklomm. "Das war dieses fürchterliche Monster aus dem Speicher, nicht wahr?"
Also erinnerte sie sich.
"Ja", bestätigte Moira und folgte ihr dichtauf. "Er muss dem Feuer entgangen sein."
"Ich habe mich damals schon gewundert, warum er so in den Lagerraum gestürmt ist." Nala wandte den Kopf in ihre Richtung und musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. "Aber nachdem er diesen Blutmagier angefallen hat, habe ich nicht weiter darüber nachgedacht. Beim Nobiskrug, warum hast du uns nichts davon erzählt?"
"Was hätte ich denn sagen sollen?" Gemeinsam schlitterten sie das Dach auf der anderen Seite hinunter. "Ich wusste doch selbst nicht, dass er noch lebt. Außerdem, wenn Garrit es erfahren hätte, hätte er mir, nur um auf Nummer sicher zu gehen, den Garaus gemacht."
"Also bist du lieber das Risiko eingegangen?", konterte ihre Kameradin. "Dass er dir womöglich bis in den Unterschlupf folgt und uns alle massakriert?"
"Deshalb war ich in letzter Zeit so selten wie möglich dort", rechtfertigte sich Moira, bemüht, ihre Stimme gedämpft zu halten, doch es kostete sie jegliche Willensbeherrschung, und von der besaß sie nicht viel. "Glaubst du, mich hat es nicht beschäftigt? Seitdem habe ich kaum ein Auge zugetan. Ich muss jede Nacht daran denken."
Sie schlichen die Dachkante entlang, der Abgrund unheilvoll nah, vorbei an einigen Gauben, die aus den Schrägen ragten. Die Fenster darin waren dunkel, als läge kein Leben dahinter.
"Was hättest du an meiner Stelle getan?", fragte Moira herausfordernd und tastete sich die Ziegel entlang, um den Halt zu bewahren. Wieder ertönte das Wolfsgeheul und versetzte ihr eine Gänsehaut.
"Wahrscheinlich dasselbe." Nala grinste. "Oder ich hätte dem Bluthund Lupus zum Fraß vorgeworfen."
Moira seufzte. "Ich bin nur froh, dass-"
Sie brachte ihren Satz nicht zu Ende, denn ein Schatten lugte zwischen den Gauben hervor. Es brauchte einen Augenblick, bis die dunkle Kontur ledrige Flügel entfaltete und sie begriff, was es war – und der Schrei ihre Lippen verließ.
"Ducken!"
Sie stieß ihre Freundin mit aller Kraft nach vorne, gerade noch rechtzeitig, bevor eine Klaue durch die Luft schnellte.
Der Hieb ging ins Leere. Stattdessen erwischte es Nalas Umhang, dessen Stoff mit einem lauten Knirschen riss, während sie, von ihrem eigenen Schwung angetrieben, vornüber auf die Dachziegel knallten und unkontrolliert die Schräge herunterrollten. Oben und unten verloren an Bedeutung, als sie sich überschlugen. Moiras Arme wedelten durch die Luft, gierten nach allem Fassbaren, das sich ihr bot.
Aber da war nichts, das sie hätte greifen können.
Abrupt stieß sie mit Nala zusammen, der es irgendwie gelungen sein musste, sich festzuhalten. Bevor Moira realisierte, was mit ihr geschah, prallte sie von ihr ab und schlitterte weiter die Ziegel hinunter. Jegliche Kontrolle über ihren Sturz schien verloren.
Mit einem Mal huschte die Regenrinne in ihr Blickfeld - und mit ihr der gähnende Abgrund.
Soll es jetzt und hier enden, nach allem, was wir durchgestanden haben? Ihre eigenen Gedanken rasten so unaufhaltsam, dass sie glaubte, in einem Alptraum gefangen zu sein. Einem, aus dem es kein Erwachen gab.
Instinktiv schnappte ihre Hand nach dem Metall der Rinne – denn schon im nächsten Moment fegte der Schwung sie über die Kante. Ein heftiger Ruck durchfuhr ihre Arme, als die Schwerkraft sie nach unten reißen wollte, aber mit dem Willen einer Überlebenden krallten sich ihre Finger an den rettenden Anker des Daches.
Unterdessen erhaschte sie einen Blick auf Nala, die sich auf die Beine hievte und zu Moira stürmte, um sie an den Handgelenken zu packen.
"Durchhalten!", brüllte ihre Freundin ihr zu, lauter als notwendig, als müsste sie sich selbst anspornen, während sie mit aller Kraft versuchte, Moira hochzuziehen.
Die Diebin gab die Regenrinne frei und klammerte sich an Nala. Für einen Atemzug baumelte sie so in der Luft. Kaum, dass das Dach in Reichweite kam, stemmte Moira sich mit einem Bein auf der Kante ab, spürte, wie das Ziehen des Abgrunds allmählich von ihr abließ und die Schwerkraft ihr Gewicht auf die Ziegel drückte. Beinahe hatten sie es geschafft.
Noch während ihre Kameradin sie hochhob, schälte sich ein Schemen aus den Schatten, direkt hinter Nalas Rücken. Mit ausgebreiteten Flügeln schoss der Gargyl vor.
"Achtung!" Ihr eigenes Brüllen klang in Moiras Ohren wie eine Ode an die Verzweiflung.
Doch zu spät. Die messerscharfen Krallen der Kreatur gruben sich bereits in Nalas Fleisch. Die Diebin schrie qualvoll auf, die Augen furchtgeweitet – ein Ausdruck, den Moira noch nie zuvor auf ihrem Gesicht gesehen hatte. Der Schmerz musste unendlich sein, wie ein Blitz, der durch alle Glieder fuhr, woraufhin der Halt, den sie Moira gegeben hatte, schlagartig endete.
Moira kämpfte um ihr Gleichgewicht und zog sich das letzte Stück aufs Dach. Dann zückte sie ihren Dolch. Der Gargyl leckte sich mit grauer, langer Zunge über die Lippen, genoss das Leid und die Qual seines Opfers, bis Moira in sein Blickfeld rückte - und sie ihm den Stahl ins Auge rammte.
Das Untier kreischte, schnellte panisch zurück und schlug mit den Flügeln. Gleichzeitig gaben seine klauenartigen Hände Nala frei.
Moira nutzte die Gelegenheit und half ihrer Freundin auf die Beine. Während sie gemeinsam über die Dächer rannten, stützte sie Nala, musste aber erschrocken feststellen, dass aus deren Gesicht jede Farbe gewichen war. Ihr Umhang klebte an ihrem Rücken, glänzte dunkel vom Blut.
"Durchhalten", hauchte sie ihr zu, eine makabre Wiederholung der Worte, die ihre Freundin ihr einen Augenblick zuvor selbst noch zugeflüstert hatte. Von einem Atemzug auf den anderen hatten sich ihre Rollen vertauscht. "Wir müssen von diesen verfluchten Dächern runter!"
Irgendwann in dieser Nacht war alles aus dem Ruder gelaufen. Vielleicht hätte sie nie Mama Monas Hütte betreten oder sich von ihrem Herzen statt von ihrer Vernunft lenken lassen dürfen.
Ihr Blick hechtete umher. Hinter sich konnte sie Flügelschläge hören. Es klang wie die Segel der Hafenschiffe, die im Küstenwind flatterten, nur schneller, Schlag auf Schlag.
Er verfolgt uns!, realisierte sie und trieb sich an, noch zügiger zu rennen. Energisch lenkte sie Nala in eine Richtung, von der sie wusste, dass sie dort vom Dach steigen konnten.
Das schrille Kreischen der Gargyle ließ ihre Köpfe herumfahren. Weitere Gestalten formten sich aus der Dunkelheit, den Giebeln und den Gauben. Eben noch unsichtbar, schienen sie nun zum Leben zu erwachen, vom Hunger geweckt und der sich bietenden Gelegenheit ermutigt. Mit einem Mal war die Nacht um sie herum von Zischen erfüllt. Die grauen Augen aus fahlen, kahlen Körpern mit verdrehten Gliedern funkelten gierig im Mondlicht.
Die beiden Diebinnen preschten über einige lose Bretter, die den Abgrund zwischen zwei Dächern überbrückten. Dann sah Moira die Fackeln. Von hier oben und in der Finsternis deutlich zu erkennen, züngelten sie wie Irrlichter durch die Gassen, als wären auch sie auf Nahrungssuche oder von einer unerfüllten Sehnsucht getrieben.
Die Rote Garde, schoss es ihr schlagartig in den Sinn. Sie suchen uns. Beim Nobiskrug, hat sich denn die ganze Stadt gegen uns verschworen?
In Moiras Ohren rauschte es, steigerte sich zu einem wilden, monströsen Laut, bis sie begriff, dass es eine der Bestien war, die von hinten auf sie zuschoss. Ruckartig duckte sie sich und presste Nala mit sich auf die Ziegel. Im nächsten Moment rollten sie sich ab, die Dachschräge hinunter, nur um sich kurz darauf zwischen Schornsteinen hindurchzuzwängen, die so eng beieinanderstanden, dass Moira sich im Rennen die Ellenbogen schrammte.
Sie konnte einen dumpfen Aufprall hinter sich hören, gefolgt von einem wütenden Kreischen, als die Gargyle gegen das Hindernis schlugen. Mit gespannten Flügeln war der Spalt unpassierbar für sie. Sie würden außen herumfliegen müssen.
Die Diebinnen nutzten den Zeitvorsprung, indem sie vom Dach sprangen und sich auf einen in Stein gehauenen Pavillon fallenließen. Ihre Knochen bebten bei dem Sturz, aber ihr Überlebenswille war stärker. Sie rutschten die kugelförmige Überdachung herunter, bis sie die Balustrade erreichten, und schwangen sich mit geübten Griffen von dieser herunter.
Im nächsten Moment spürte Moira das Kopfsteinpflaster der Straße unter ihren Schuhsohlen. Sie waren in Sicherheit – zumindest für den Moment.
Nala neben ihr entfuhr ein leises Stöhnen, dann sackte sie auf die Knie. Der Angriff hatte ihr stark zugesetzt, die Hetzjagd ihre Kräfte aufgezehrt. Wenn selbst eine Kämpfernatur wie sie nicht länger auf den Beinen bleiben konnte, mussten die Qualen unvorstellbar sein.
Moira eilte zu ihr, stützte sie und zog sie hinter einen Mauervorsprung, der den Pavillon umgab.
"Noch bin ich nicht tot", raunte sie und schob sie bestimmt von sich. "Bis dahin kannst du dein Mitgefühl für dich behalten, ich brauche es nicht."
Dabei wussten sie beide, dass sie so abgeschlagen aussah, dass es einer Lüge glich.
Moira schüttelte den Kopf über Nalas Hartnäckigkeit. Lange würde sie mit Sicherheit nicht mehr auf den Beinen bleiben können. Aber niemand würde dieses knarrende Scheunentor, das Nala verkörperte, je aus den Angeln reißen.
"Danke", sagte sie stattdessen nur. "Für vorhin."
Nala winkte ab, betastete ihren verletzten Rücken und verzog kurz darauf das Gesicht zu einer schmerzverzerrten Grimasse. "Nicht dafür."
Als das Heulen des Wolfs erneut ertönte, zuckten die beiden zusammen und duckten sich hinter das Gemäuer, um nicht entdeckt zu werden. Nun, da das Kreischen der Gargyle verstummt war, klang es noch furchteinflößender.
Und es schien ganz aus der Nähe zu kommen.
Vorsichtig lugte Moira auf den Platz vor ihnen. Zwischen den Gassen hindurch konnte sie Fackeln aufblitzen sehen, die durch die Stadt getragen wurden.
"Sie suchen uns", hauchte Nala neben ihr. "Und zwar sehr gezielt."
Moira nickte schwach. "Sieht ganz so aus."
Die Rote Garde zog mithilfe der Ewigen Flamme durch die Straßen, darauf versessen, die Gestalt aufzuspüren, die von dem Bluthund durch die Nacht gejagt worden war. Ob die Flucht vor den Gargylen ihren Aufenthaltsort zusätzlich verraten hatte?
Sie scheinen systematisch vorzugehen. Versuchen sie, uns einzukesseln?
"Wir müssen unüberhörbar gewesen sein", fügte Nala wie zur Bestätigung an. Auch ihr musste der Gedanke gekommen sein. "Wahrscheinlich haben diese zeternden Bestien die ganze Stadt alarmiert."
"Und wir haben uns kaum vom Fleck bewegt", ergänzte Moira schockiert.
Bei der grausamen Erkenntnis blieb ihr beinahe das Herz stehen. Der Pavillon, unter dem sie nun kauerten, war nur wenige Seitenstraßen von der Stelle entfernt, an der sie die Holzsprossen erklommen hatte und auf die Dächer gegangen waren. Dabei war ihr die Verfolgung durch die Gargyle wie eine Ewigkeit vorgekommen. Tatsächlich musste es sich nur um Minuten gehandelt haben.
Wieder rückte eine Fackel in ihr Blickfeld. Diesmal zog sie nicht vorbei wie die anderen, sondern verweilte an einer Stelle. Als überlegte sich ihr Träger seine nächsten Schritte ganz genau.
"Wir sollten uns aufteilen", sagte Nala, "wenn wir unsere Quote erhöhen wollen, hier lebend rauszukommen."
In der Tat hatten sie die Gunst des Schicksals mehr als überstrapaziert, und sie würden die Würfel in Nigros' makabrem Spiel noch einmal für sich gewinnen müssen, wenn sie die Sonne jemals wieder aufgehen sehen wollten.
Moira nickte knapp. "Wahrscheinlich hast du Recht."
"Wir müssen zum Kanalkreuz, das liegt östlich von hier." Nala stützte sich erschöpft gegen die Brüstung des Pavillons. "Lupus wartet dort und öffnet den Zugang für uns. Am besten, du kommst von südlicher Seite, und ich von Norden."
"Kommt gar nicht in Frage", entgegnete Moira entschieden und musterte ihre Freundin. Ihr Gesicht war leichenblass und sie konnte kaum aufrecht stehen. "Die Südseite ist viel leichter zu erreichen, wenn man ungesehen bleiben will. Die wirst du nehmen. Mit deiner Verletzung kommst du sonst nicht weit."
Nala erwiderte etwas, doch Moira hörte es nicht. Zu sehr war sie auf die Fackel vor sich fokussiert, die nun durch die Gasse streifte – direkt auf sie zu.
Dann fiel ihr auf, dass die Ewige Flamme sehr hoch in der Luft getragen wurde – und nicht auf Schulterhöhe, wie es für die Wachen üblich war. Der Anblick erschien ihr so außergewöhnlich, dass sie unwillkürlich den Kopf neigte, als könnte sie es dadurch besser verstehen. Die Welt vor ihren Augen begann zu verschwimmen, die Schatten verschmolzen. Nur ein dunkler Schemen hob sich davon ab, glänzte im herabfallenden Mondlicht und brach den Fackelschein auf dem Obsidian, als wagte das Licht nicht, seine Rüstung zu berühren.
"Bei Nigros ..." Moiras Augen weiteten sich vor Entsetzen, während er weiter auf sie zukam.
Der Fackelträger war ein Reiter, ein Schwarzer Schnitter, gehüllt in Vulkanglas. Mit einer Bewegung seiner Hand schnitt die Ewige Flamme durch die Nacht und erhellte den Platz vor dem Pavillon.
Eine graue Kontur zeichnete sich zu seinen Füßen ab und reckte den Kopf gen Himmel. Wieder setzte das schaurige Wolfsgeheul ein, dieses Mal unmittelbar vor ihnen.
"Ich werde ihn ablenken", flüsterte Moira, ihre Worte kaum lauter als das Wispern des Windes. "Versteck' dich solange hier und teil' dir deine Kräfte ein, bis er fort ist. Dann treffen wir uns am Kanalkreuz."
"Du bist völlig verrückt", hauchte Nala erschöpft, gefolgt von einem unterdrückten Husten. "Hör' auf mir zu helfen und rette lieber deine eigene Haut."
Moira drehte sich zu ihr, sah sie aus funkelnden, trotzigen Augen an. "Ich bin es leid, dass jeder nur an sich denkt."
Im nächsten Augenblick kam sie hinter dem Mauervorsprung hervor. Aus den Augenwinkeln erhaschte sie gerade noch einen Blick darauf, wie der Reiter die Fackel zu Boden warf und der Lichtkegel die Dunkelheit um sie herum in tiefes Rot tauchte. Seine Hand glitt zum Bogen. Doch da sprintete sie bereits in die Nacht - so rasch, wie es nur ein Kind der Schatten vermochte.
Die Hetzjagd, so erkannte sie mit Schrecken, hatte gerade erst begonnen.
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