Kapitel 27 - Puls
Arkin schaute zu dem Dach hoch, doch die Diebin schien bereits fort zu sein.
Kann es sein, jagen wir eine Frau?, wunderte er sich. Zumindest hatte ihr Aufschrei weiblich geklungen. Bis hierher hatte er den Bluthund verfolgt, der wiederum ihr auf den Fersen gewesen war.
Bis der Hämomant ihm zuvorgekommen war.
Der junge Mann stand völlig unter Schock, bevor er kurz darauf mitsamt seiner roten Robe zu Boden sackte und sich in die Ohnmacht ergab. Winter und der Bluthund hingegen kämpften noch immer. Blut tropfte auf die Pflastersteine unter ihnen.
Arkin kniete sich zu ihm und musterte ihn kritisch. Augenscheinlich hatte die Wölfin gerade noch rechtzeitig auf sein Kommando reagiert, denn er konnte keine Verletzungen an dem Blutmagier erkennen.
Gut so, dachte er. So ein Ende hat er nach seinem Einsatz nicht verdient.
Schlimm genug, dass er die Diebin nicht rechtzeitig erreicht hatte, um sie vor dem Bluthund zu bewahren.
Seine Magie gegen den Bluthund zu wirken, musste den Hämomanten so viel Kraft gekostet haben, dass es selbst seinen Lebenswillen aufgebraucht hatte. Aus seinem Gesicht war jede Farbe gewichen, ganz so, als hätte er gerade den größten Schrecken seines Lebens davongetragen.
Die Diebin hatte ihn Imitri gerufen, ja, sie schien sogar um sein Leben gebangt zu haben.
Ob sie einander kennen? Vielleicht sogar mehr als das?, fragte er sich.
Er wäre jedenfalls nicht der erste, dem Arkin begegnete, der seine Liebschaften außerhalb der üblichen Kreise pflegte.
Vorsichtig drehte er ihn auf die Seite. Arkin hatte nicht nur einmal erlebt, wie Menschen sich an ihrer eigenen Zunge verschluckt hatten, während sie ohnmächtig gewesen waren – auch wenn der Alkohol eine große Rolle dabei gespielt haben mochte.
Anschließend erhob er sich, nahm etwas Abstand und zog sein Obsidianschwert aus dem Halfter. Bei dem schneidigen Geräusch, das die Bewegung verursachte, kam der Mann langsam wieder zu Bewusstsein. Die schwarze Klinge glänzte schwach im Mondlicht - unberührt von dem Kampf, der um sie herum herrschte.
Im nächsten Augenblick schien der Hämomant zu bemerken, dass jemand neben ihm mit gezogener Waffe stand. Mit vor Schreck geweiteten Augen fuhr er ruckartig hoch und musterte erst das Schwert, dann die Obsidianrüstung, bis sein Blick schließlich auf die blauen Iriden des Schnitters traf.
"Ist dein Name Imitri?"
Die Lippen des Angesprochenen bebten, brachten jedoch kein Wort hervor. Stattdessen begann er, am ganzen Leib zu zittern.
"Ein Nicken genügt mir", fügte Arkin mit ruhiger Stimme an. Es war ein seltsames Gefühl, den Magier so völlig verängstigt zu sehen, wo er doch gerade noch den Helden gespielt hatte.
Imitri folgte der Aufforderung. Beinahe wäre dem Schnitter die Kopfbewegung entgangen, denn sein Augenmerk galt nun Winter, die noch immer mit dem Bluthund rang.
Behutsam, als wollte er ein Instrument spielen, setzte Arkin das scharfgeschliffene Vulkanglas an seinem Handgelenk an - genau an der schmalen Stelle, an der seine Rüstung endete und die Lederhandschuhe noch nicht begannen. Dann strich er über seine ungeschützte Haut, versetzte sich selbst einen Schnitt.
Blut quoll aus der Wunde. Obwohl die Verletzung so winzig war, genügte es, um die Aufmerksamkeit des Bluthundes zu erregen.
Ganz so, wie Arkin es sich erhofft hatte.
Noch einmal gelang es Winter, zuzubeißen und der wildgewordenen Kreatur eine Fleischwunde zuzufügen, die bei dem Geruch von Blut sichtlich die Konzentration verloren hatte. Aber der Bluthund ließ sich nur schwer in die Knie zwingen. Statt Anzeichen von Erschöpfung, so schien es, zeigte er umso mehr Elan, desto mehr Verletzungen er erlitt.
Das Interesse an der Hungerswölfin verloren, zuckte er zurück wie ein ängstliches Haustier, nur um kurz darauf auf Arkin zuzusprinten. Ein letztes Bellen entkam ihm, dann sprang er auf die ungeschützte Kehle des Schnitters zu.
Und alles, was er im Sinn hatte, war zu töten.
Mit einer einzigen, blitzschnellen Bewegung ließ Arkin die Klinge vor sich durch die Luft sausen. Während der Hund auf ihn zuhielt, trennte er ihm den Kopf vom Rumpf.
Ein plumpes Geräusch ertönte, als die beiden Körperhälften der Kreatur im Schlamm der Straße landeten. Eben noch mörderisch und blutversessen, lag er nun leblos da. Er würde nie wieder jemandem Schaden zufügen.
Imitri kauerte am Boden. Er hatte sich übergeben, und auch sein Zittern hatte nicht nachgelassen. Selbst jetzt versuchte er nicht zu flüchten. Wahrscheinlich hatte er noch nicht realisiert, was soeben geschehen war.
Dabei wäre es das klügste gewesen, zu fliehen. Denn Arkin hatte deutlich gesehen, wie er der Diebin geholfen hatte.
Ein wenig bewunderte er ihn dafür. Es musste sehr erfüllend sein, etwas gefunden zu haben, wofür man bereit war, alles zu riskieren. Die Vorstellung weckte seine eigenen Sehnsüchte, doch er begrub sie rasch wieder in den tiefen seiner Seele.
Stattdessen glitt sein Blick noch einmal zum Dach, doch falls jemand dort war, zeigte er sich nicht.
Dann ging er auf Imitri zu, das blutbeschmierte Schwert noch immer umklammert.
Erst jetzt schien der Hämomant seine missliche Lage zu begreifen. Allmählich löste er sich aus seiner Starre, indem er einige Schritte nach hinten taumelte.
Aber in der Sackgasse erwartete ihn nur der kalte, unnachgiebige Stein der Hausfassaden.
Nachdenklich legte Arkin den Kopf schief. Einen Atemzug lang überlegte er, ob er den Mann einfach fragen sollte, woher er die Diebin kannte, entschied sich jedoch dagegen. Was immer die beiden verband, ging ihn nichts an, und das würde er respektieren - für den Moment.
"Geh."
Mehr sagte Arkin nicht.
Aber der Blutmagier rührte sich nicht von der Stelle. Lediglich seine Augen huschten zwischen ihm und der Blutlache des Hundes hin und her.
"W-was?", brachte er schließlich hervor.
"Du kannst gehen." Zur Unterstreichung seiner Worte drehte Arkin die Klinge in Händen, reflektierte das Mondlicht. Vielleicht würde das ihn überzeugen. "Und verrate niemandem, was du hier gesehen hast."
Für einen Augenblick schien Imitri immer noch zu zögern. In seinen Augen lag vor allem eines: unfassbare Furcht.
Traut er sich etwa nicht?, spekulierte Arkin. Denkt er, ich ramme ihm das Vulkanglas in den Leib, sobald er mir den Rücken zudreht? Wenn ich ihn töten wollte, hätte ich das längst getan.
Als lese sein Gegenüber seine Gedanken, begann er endlich, sich davonzustehlen; mit größtmöglichem Abstand und an die Hauswand gepresst, schob er sich an dem Schnitter und seiner Hungerswölfin vorbei, ehe er schließlich davonspurtete.
Nun, da Arkin sowohl seinen Namen als auch sein Gesicht kannte, würde er ihn jederzeit unter den Hämomanten wiederfinden, wenn er das wollte. Vielleicht würde er später darauf zurückkommen müssen.
Er beugte sich vor und strich Winter prüfend durch das mit Blut gesprenkelte Fell. Zu seiner Erleichterung schien sie keine größeren Verletzungen davongetragen zu haben, lediglich einige Kratzer, um die er sich später kümmern würde. Dankbar kraulte er ihr den Hals, bis die Wölfin schlagartig die Ohren anlegte und den Kopf herumriss.
Ihr daraufhin einsetzendes Knurren verhieß nichts Gutes.
Dann bemerkte auch er es. Dunkle, in Umhänge gehüllte Gestalten schälten sich aus den Schatten. Langsam und bestimmt kamen sie auf ihn zu. Arkin zweifelte nicht daran, dass sie diese Gasse nicht etwa zufällig, sondern gezielt ausgewählt hatten. Er sah Stahl aufblitzen, als sie ihre Dolche zogen.
Das hier war ein kalkulierter, kaltblütiger Hinterhalt.
Winter hatte die Lefzen gehoben, bereit zum Angriff, wenn er den Befehl dazu gab. Doch noch hielt er sie zurück.
Mittlerweile waren die Gestalten so nahegekommen, dass er ihre düsteren, vom harten Leben gezeichneten Mienen unter den Kapuzen sehen konnte. Es waren zehn an der Zahl, wahrscheinlich Assassinen. So wie Geier das Aas umkreisten, umzingelten sie ihn.
Ob dieser Garrit sie geschickt hat?, mutmaßte Arkin. Wenn er solche Geschütze auffuhr, wollte er offensichtlich auf Nummer sichergehen, dass der Auftrag zufriedenstellend erfüllt wurde.
Aber so einfach würde er es ihnen nicht machen.
Puls. Das war die Macht, die er beherrschte. Arkin legte seinen Fokus auf sein Inneres - seine Atmung, sein Herz, seinen Blutdruck. Zusammen bildeten sie den Dreiklang seiner Magie. Spielte er eines, stimmten die anderen beiden mit ein. Es war wie eine Vorstellung, und der Kampf war seine Bühne.
Auf Kommando begann sein Puls zu rasen, gab den Takt der magischen Melodie vor. Im selben Augenblick stimmten die Trommeln seines Herzens und die Rasseln seiner Lunge in den wilden Rhythmus mit ein.
Als der erste Assassine zu einer Attacke ansetzte, hob Arkin blitzschnell die Klinge, parierte den Angriff, schwang das Schwert herum und stieß es seinem Gegner tief zwischen die Rippen.
Neun.
Einem Schrei folgte das Geräusch knirschender Knochen, als Winter einen der Auftragsmörder ansprang und zu Boden riss.
Acht.
Aber Arkin blieb keine Zeit, sich auf die Wölfin zu konzentrieren – er wusste, dass er sich auf Winter verlassen konnte. Stattdessen zog er mit der gleichen Bewegung, mit der er dem Mann die Rippen durchstoßen hatte, an dem Heft, bis der Körper die Klinge wieder freigab, und wirbelte herum - gerade noch rechtzeitig, um dem Assassinen, der ihm in den Rücken fiel, den Knauf in die Brust zu rammen.
Im selben Atemzug verpasste er dem Zurücktaumelnden einen Kinnhaken, bevor dieser sein Gleichgewicht wiederfand, und schnitt ihm mit einer zweiten Bewegung die Kehle durch.
Sieben.
Auch seinen Peinigern musste allmählich dämmern, dass sie mit ihm kein leichtes Spiel haben würden. Zu schnell waren die Manöver des Schnitters für das ungeübte Auge – eines, das nicht die enorme Macht der nach innen gerichteten Blutmagie kannte.
Während die Obsidianrüstung ihn vor Angriffen von außen schützte, konnte er sich ganz auf das konzentrieren, was darunter lag.
Doch mit der Erkenntnis wurden seine Angreifer auch waghalsiger.
Die Macht der Verzweiflung, fügte er in Gedanken hinzu.
Eine weitere verhüllte Gestalt donnerte auf ihn zu; zu langsam für den Rausch, zu dem sein Puls ihn trieb. Mit einem schnellen Handgriff schnappte er sich den Rundschild vom Rücken und duckte sich hastig dahinter.
Sofort prasselten mehrere Messerstiche auf ihn ein. Den Arm und den Schild zur Deckung erhoben, schaffte er es, seinen Kopf vor den Hieben zu schützen und an dem Vulkanglas abprallen zu lassen. Den aufkeimenden Schmerz in seinen Gliedern ignorierte er.
Im selben Moment ließ er die Klinge unter dem Schild hinweg durch die Luft sausen und schnitt durch die Wämser zweier Angreifer, die daraufhin schrien und auf die Knie brachen.
Als die anderen erschrocken zurückwichen, nutzte er die Gelegenheit und stieß nochmals zu. Der Obsidian glitt in ihr Fleisch wie Stahl durch Butter.
Fünf.
Unterdessen bemerkte er aus den Augenwinkeln, dass Winter einen Assassinen attackierte, der gerade einen Dolch auf ihn hatte werfen wollen. Das Kreischen des Mannes erreichte kaum Arkins Ohren; zu laut rauschte das Blut darin.
Vier.
Etwas prallte auf seinen Schild und brachte ihn ins Taumeln. Kurz darauf durchzuckte ihn ein heftiger Schmerz, als ihn einer der Schurken an der Schulter traf.
Mit einem Schwung seines Schwerts erwischte er den Mann am Arm, während er einem anderen den Schild ins Gesicht schlug. Noch während der Getroffene strauchelte, durchstach Arkin dessen Hals.
Drei.
Nein, nur noch zwei, realisierte er keuchend. Winter hatte sich auf einen weiteren von ihnen gestürzt.
Die übriggebliebenen Angreifer wichen respektvoll zurück. Einer von ihnen hielt sich den verwundeten Arm – der, den Arkin getroffen hatte.
Dann drehten sie sich um und rannten.
Gut, sollen sie ihrem Bandenführer ihre schlechten Nachrichten überbringen, dachte er zufrieden. Das würde ihm nur in die Karten spielen.
Null.
Der Kampf war vorüber. Auf sein Kommando hin wich alle Magie aus seinem Blut, ließ das Lied von Lunge und Herz mit einem Mal verstummen.
Und genauso schlagartig brach er vor Erschöpfung zusammen.
Verwundet und geschwächt kniete er im blutgetränkten Schlamm der Sackgasse. Um ihn herum schwiegen die Leichen - die Überreste des Massakers, das er angerichtet hatte.
Nur mit Mühe gelang es ihm, bei Bewusstsein zu bleiben. Sein Atem ging schwer, sein Puls dagegen so zart, dass er einen Augenblick befürchtete, er wäre für immer erloschen.
Seine Magie war roh wie ein ungeschliffener Diamant, verbrannte jedoch ebenso schnell. Beinahe hätte er seine Grenze überschritten, seine Ausdauer überschätzt. Mal wieder.
Etwas Feuchtes streifte sein Gesicht. Es kostete ihn alle Kraft, den Kopf zu heben. Winters bernsteinfarbene Augen blickten ihm entgegen, dann leckte sie ein weiteres Mal das Blut von seiner Wange.
„Schon gut", murmelte er lächelnd. „Ich stehe ja schon auf."
Schwerfällig erhob er sich. Allmählich kehrte die Kraft in seine Glieder zurück, auch wenn das stählerne Gefühl in seinen Muskeln blieb, als hätte er sich bis zum Äußersten verausgabt. Wenn er weiter so maßlos und ungehindert kämpfte, würde es ihn eines Tages das Leben kosten.
Wenn er wenigstens wüsste, wofür.
Den Bluthund zu beseitigen, war eines dieser Dinge gewesen, für die er gern die Schuld auf sich nahm. Er hatte sich geschworen, Ordnung und Harmonie zu wahren - und nicht, sie zu zerstören.
Aber daran wollte Arkin jetzt nicht denken. In der Ferne konnte er bereits Geist hören, Rafaels Wolf, der in die Nacht heulte.
Die Jagd war noch nicht vorbei.
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