Kapitel 26 - Kein Entkommen
Es gibt kein Entkommen. Dieser Satz hämmerte immer wieder gegen die Wände ihres Verstandes. Er oder ich. Es gibt kein Entkommen.
In der Ferne erklang ein Pfiff. Wie das Zwitschern eines einsamen Vogels sirrte er durch die ansonsten stille Nacht. Spielten ihre blank liegenden Nerven ihr etwa einen Streich?
Dann hörte sie es wieder - dieses Mal deutlicher. Es kam aus östlicher Richtung.
Die Dächer!, schoss es ihr in den Sinn. Ein Fünkchen Hoffnung keimte in ihr auf. Jemand ist auf den Dächern und will, dass ich dem Signal folge!
So gefährlich es dort wegen der Gargyle auch sein mochte, einem Bluthund und einem Vollstrecker lebendig zu entkommen, indem sie durch die Gassen rannte, erschien ihr ebenso unwahrscheinlich, wie gegen einen Trickbetrüger mit gezinkten Karten zu gewinnen. Lieber wollte sie wenigstens den Versuch wagen, noch einmal die Sonne aufgehen zu sehen.
Wieder. Der schrille Laut führte sie, über Mauerwerke und Schutt hinweg, blind durch die Straßen. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren.
Dann bog sie in eine Sackgasse. Bis hierher war sie dem Ruf des Pfeifenden gefolgt. Über den Dächern konnte sie einen dunklen Schemen ausmachen, der sich neben die Regenrinne gehockt und zwei Finger in den Mund gesteckt hatte. Erneut ertönte das Signal.
Sie denken, ich spiele den Köder. Sie wollen die Falle zuschnappen lassen! Ungläubig, aber mit neu gewonnener Energie, stürmte sie auf ihn zu.
In ihrer Verzweiflung hatte sie völlig vergessen, dass sie dem Unterschlupf eine Nachricht hatte zukommen lassen, und selbst wenn sie sich erinnert hätte, hätte sie nicht im Traum daran gedacht, dass ihre Bande trotz der aussichtslosen Lage, in der sich die Diebin befand, an dem Plan festhalten würde.
Noch nie war sie so dankbar gewesen, eines Besseren belehrt worden zu sein.
Denn die Sackgasse, in der sie nun stand, war der Ort, den sie ausgewählt hatten, um die Schwarzen Schnitter in einen Hinterhalt zu locken.
Die Gestalt auf dem Dach winkte sie zu sich heran. Als Moira näherkam, erkannte sie die morschen Holzsprossen - ähnlich einer provisorischen Feuerleiter -, die aus der Hauswand ragten, gerade breit genug, um sich daran festkrallen zu können.
Schon oft war Moira an dieser Stelle auf die Dächer gegangen. Aber heute, in dieser Situation, blieb ihr so wenig Zeit dafür, dass sie befürchtete, es könnte ihr letztes Mal sein.
Als sie es wagte, noch einmal hinter sich zu blicken, realisierte sie mit Schrecken, dass der Bluthund ihr direkt auf den Fersen war. Als hätte Nigros, Gott des Todes und der Schmerzen, heute Nacht alle Trümpfe gegen sie erhoben, um sie endgültig vom Spielfeld zu fegen.
Sein muskulöser Rumpf pumpte das Blut durch seine hervorstehenden Adern, stärkte seine Muskeln, die sich unter der zum Zerreißen gespannten Haut abzeichneten, während er mit riesigen Sätzen auf sie zukam. Unausweichlich. Unaufhaltsam.
Moira griff nach der ersten Sprosse, dann eine weitere, noch eine, viele. Innerhalb von Sekunden hangelte sie sich die Hauswand hinauf, zog sich mit aller Kraft höher, so schnell sie nur konnte. Und sie würde nicht aufhören, bis sie sich außerhalb seiner Reichweite befand.
Sie umfasste den nächsten Holzblock, konnte schon die freie Hand nach dem Fensterladen ausstrecken. Nur noch ein Stück ...
Moira fühlte sich wie vom Blitz getroffen, als eine unvorstellbare Kraft sie am Fuß packte und ihr, ehe sie sich versah, das Holz aus den Händen riss.
Nein, nicht das Holz bewegt sich, stellte sie schockiert fest, sondern ich bin es, die fällt!
Ehe sie den Gedanken zu Ende spinnen konnte, segelte sie bereits durch die Luft – direkt auf den Boden zu. Der Aufprall erschütterte ihre Knochen unliebsam und sandte eine Welle des Schmerzes durch ihren Körper, dumpf und allumfassend.
Aber schlimmer noch als das war der erschreckende Anblick, der sich ihr bot.
Der Bluthund hatte sie mit einem gezielten Sprung von der Hauswand gefegt, indem er sie am Stiefel erwischt hatte – ähnlich einer Möwe, die herabgesaust war, um eine Makrele aus dem Ozean zu fischen. Er ließ nicht von ihr ab, sondern hatte sich fest in das Leder ihres Schuhs verbissen und zerrte daran.
Panisch versuchte Moira, sich aufzurappeln, doch er riss sie erneut von den Füßen und schleifte sie mit sich durch den Schlamm. Mit aller Macht versuchte sie sich dagegen zu wehren, krallte sich mit den Fingernägeln in die Erde, doch vergeblich.
Wie ein Stück Fleisch, seine Beute, zog er sie brutal mit sich, sodass sie qualvoll aufschrie. Getrieben von seinen Instinkten, brachte er so enorme Kräfte auf, dass sie dem Bluthund nichts entgegensetzen konnte. Es war der hoffnungslose Kampf einer Brise gegen Windmühlen. Ein Tropfen Regen, der unmöglich in der Luft verharren konnte und nun am Grund zerschellte.
Nur ein Ausweg kam ihr in den Sinn.
Noch im selben Augenblick griff Moira nach ihrem Gürtel. Verzweifelt und orientierungslos zückte sie die kleine Phiole mit Obsidianstaub, die sie bei sich trug, und schleuderte sie der Bestie entgegen.
Von einem Moment auf den anderen hüllte sie schwarzer Staub ein. Der Bluthund heulte auf, als der Schmerz an ihm nagte und die Magie des Vulkanglases ihm in Nase und Augen stieg. Moira spürte, wie der Druck um ihren Fuß verschwand, als sein Kiefer sich von ihrem Stiefel löste. Ohne zu zögern, sprang sie auf die Beine und hechtete vor ihm davon.
Doch die wenigen Sekunden, die ihr der Obsidianstaub geschenkt hatte, vergingen zu schnell. Letztendlich stand sie in einer Sackgasse mit dem Rücken zur Wand, und der einzige Fluchtweg, den es gab, waren die Sprossen – jedoch unerreichbar, blockiert von einer wildgewordenen Bestie.
Wie zur Antwort drang ein tiefes Grollen aus seiner Brust. Noch während die Splitter des Vulkanglases niedersanken, schälte sich der Bluthund aus der Staubwolke. Immerhin hatte es ihr wertvolle Zeit des Überlebens erkauft.
Doch es war nicht genug gewesen.
Moira stand still da, nur ihre Augen suchten nach einer Möglichkeit zu entkommen. Aus purer Verzweiflung griff sie nach dem Dolch und hielt ihn abwehrend vor sich, woraufhin sich sein Knurren zu einem tobsüchtigen Gebell steigerte.
Hier waren sie wieder, führten das Spiel fort, welches Nigros für sie bestimmt hatte – welchem sie schon einmal knapp entgangen war. Auch er musste sich erinnern, sie konnte es ihm ansehen; darin, wie sein Rücken sich bog und seine Lefzen sich vor Wahnsinn hoben.
Dieses Mal würde er sie nicht davonkommen lassen.
So auf die Bestie fokussiert, bemerkte sie nicht die rotgewandete Gestalt, die sich hinter ihm aus der Dunkelheit der Gasse schälte, nur vom Mondlicht geleitet. Erst als der Mann bereits den Arm ausstreckte, erkannte sie den Blutmagier.
Doch die Magie richtete sich nicht auf sie.
Schlagartig zuckte der Bluthund zusammen, wimmerte und krümmte sich im Bann der Hämomantie, die auf ihn einwirkte. Moira traute ihren Augen nicht, ließ sogar vor Überraschung den Dolch sinken.
Imitri. Er hatte die Hand gegen ihren Angreifer erhoben und wirkte seine Blutmagie auf ihn.
In all' der Zeit, die sie sich kannten, hatte sie nie erlebt, dass er Hämomantie einsetzte, geschweige denn geglaubt, dass er sie beherrschte. Allein schon der Gedanke an Gewalt widerstrebte ihm, das wusste Moira, und der Anblick von Blut trieb ihn an die Grenze zur Ohnmacht.
Umso erstaunlicher war es, dass er nun vor ihr stand und ihr auf genau diese Weise das Leben rettete.
„Lauf!", hallte sein Echo an ihr Ohr, doch es klang seltsam fremd, seltsam fern, als spräche ein Geist zu ihr. Oder war sie diejenige, die zu einem Gespenst geworden war - zu einem Geschöpf der Nacht, einem Schatten?
Ohne zurückzublicken, spurtete sie an dem Bluthund vorbei die Holzfassade hinauf, erklomm die Sprossen noch schneller, als sie es davor getan hatte, und ignorierte den stechenden Schmerz, den ihr Herz bei dem Gedanken an Imitri empfand. So rasant, wie sie kletterte, sah sie jede Bewegung, bevor sie diese kurz darauf ausführte - fast wie eine Spiegelung ihres eigenen Ichs. Wie viel war sie noch sie selbst und wie viel hatte sie bereits an die Dunkelheit, an ihre Gabe, verloren?
Als sie den Fensterladen erreichte und sich von dort hoch zur Regenrinne ziehen wollte, streckte sich ihr eine helfende Hand entgegen. Mit einem Ruck zog die Gestalt sie nach oben. Erleichtert spürte sie den gebrannten Ton der Dachziegel unter ihren Schuhsohlen.
Nala stand vor ihr und sah sie mit ihrem typischen, kämpferisch herausfordernden Blick an.
„Wir müssen schnellstens verschwinden!", brüllte sie ihr zu und übertönte das Winseln des Bluthundes, der noch immer versuchte, sich Imitris Blutmagie zu widersetzen.
Doch Moira reagierte nicht. Stattdessen stand sie wie versteinert da. Zu groß war die Angst um ihren Freund - davor, dass sie am Leben sein würde, während er seines für sie geopfert hatte.
Als sie hinuntersah, blickte sie in sein schweißüberströmtes, schmerzverzerrtes Gesicht, das im Mondschein glänzte. Eine Ader pochte wild an seiner Stirn. Mittlerweile hatte er beide Hände gegen den Bluthund erhoben und zu Fäusten geballt; sie zitterten unter der enormen Kraftanstrengung, die ihn das Wirken der Magie kostete.
Aber der Bluthund war zu sehr in Rage, um sich von Hämomantie, seiner eigenen Waffe, aufhalten zu lassen. Obwohl Imitri alles daransetzte, die Bestie zurückzuhalten, kam diese unerbittlich auf ihn zu. Langsam, aber stetig schlängelte er sich unter dem Zauber wie ein Aal in seine Richtung.
„Komm schon!" Nala packte Moira energisch am Arm und wollte sie von der Dachkante wegzerren, doch diese rührte sich nicht, den Blick wie gefesselt auf die Szene unter sich gerichtet.
Er wird sterben und es wird meine Schuld sein!, prophezeite alles in ihr.
Nur Nalas eindringlicher Ruf übertönte ihre Gedanken. „Moira!"
Imitris Kräfte erreichten ihr Limit. Mit letzter verbliebener Energie versuchte er, die Bestie in die Knie zu zwingen. Der Bluthund kämpfte unerbittlich, sein Jaulen hallte durch die Nacht wie ein Vorbote des Todes.
Für einen Atemzug schnappte ihr Freund nach Luft und ließ die zittrigen Hände ein Stück weit sinken. Es war nur der Hauch eines Augenblicks gewesen, ein winziger Moment der Schwäche, der den Hämomanten überkommen hatte - aber es genügte, um den Bluthund aus seiner Magie zu lösen.
Nein, bitte nicht! Moira wusste nicht, ob sie die Worte nur dachte oder schrie. Alles erschien ihr so unfassbar gewaltig. Als wäre die Welt ein Abgrund und sie fiel hinein.
Schon setzte die Bestie zum Sprung an, stieß sich mit seinen kräftigen Hinterbeinen ab - geradewegs auf die Kehle des Magiers zu.
„Imitri! Nein!"
Bevor die letzte Silbe verhallte und der Bluthund ihn erreichte, wurde das Ungetüm voller Wucht zur Seite geschleudert.
Das silberne Fell der Hungerswölfin glänzte im Mondlicht, als sie sich auf die Bestie stürzte und mit sich zu Boden zerrte. Gleichzeitig vergrub sie die Fänge in seinen ungeschützten Hals. Die dünne, haarlose Haut ihres Kontrahenten riss, sodass das Blut in den Schlamm unter ihnen strömte.
Was beim Nobiskrug geschieht hier?, dachte Moira schockiert. Warum greift die Wölfin des Schwarzen Schnitters den Bluthund an?
„Moira, ich sage es nicht noch einmal!" Dieses Mal zog Nala so heftig an ihrem Arm, dass sie nach hinten taumelte. „Lass uns von hier verschwinden! Jetzt!"
Der Bluthund quiekte und wehrte sich mit aller Kraft, um dem Griff der Hungerswölfin zu entgehen. Wutentbrannt gelang es ihm, sich aus ihrem Maul zu lösen, doch nicht ohne eine tiefe Fleischwunde an seinem Hals zu hinterlassen. Die beiden standen sich gegenüber, knurrten und umkreisten sich, bis sie erneut aufeinander losgingen. Es war ein wildes Gerangel aus Zähnen und Krallen, Blut und Unerbittlichkeit.
Und alles, was Moira tun konnte, war, in die Nacht hinauszurennen.
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