Kapitel 22 - Vergeltung
Der Junge unterschied sich kaum von anderen Straßenkindern. Nur neben der Obdisianrüstung, die dem Schnitter eine breite Statur verlieh, wirkte er schmächtig, beinahe verloren. Mit seinen Kinderfingern umklammerte er emsig eine Holzfigur, und ein bunter Holzsplitter - ein Accessoire, das er beim Spielen gefunden haben musste -, steckte hinter seinem linken Ohr.
"Verdammt", fluchte Moira. Wenn das nicht eines von Nigros' unfairen Spielen ist!
Innerlich tobte sie bei dem Gedanken, dass er sich mit einem Kind umgab. Verschanzt er sich etwa? Ist der Schild auf seinem Rücken nicht genug, muss er den Burschen zum Selbstschutz missbrauchen, um nicht auf offener Straße angegriffen zu werden?
Sie tastete nach dem Dolch an ihrem Gürtel. Das kalte Metall verlieh ihr ein Gefühl von Sicherheit und Kontrolle. Wenn sie wollte, konnte sie sich jederzeit damit zur Wehr setzen, auch wenn sie hoffte, dass sie nicht davon Gebrauch machen musste.
Was soll ich jetzt tun? Reglos beobachtete Moira die beiden. Was hat dieser Mistkerl mit ihm vor?
Imitri hatte sie gewarnt, dass die Schwarzen Schnitter mächtig waren, dennoch hatte sie nicht mit solchen Methoden gerechnet. War das die Art, wie sie vorgingen – wie sie ihre Ziele erreichten?
Früher oder später sollte sie den Köder spielen und die Schwarzen Schnitter in die Falle locken, aber für keinen Preis der Welt würde sie auf dieses Niveau sinken und ein unschuldiges Leben gefährden.
Sei nicht die Beute, sei der Schatten.
Nein, sie würde warten müssen, bis der Schnitter allein war.
Der Dunkelhaarige hob die Hand, wodurch Moira instinktiv den Atem anhielt. Sie hatte vermutet, dass er zu einem Schlag ausholen würde, doch zu ihrer Überraschung strich er dem Jungen nur einmal durchs Haar, während sie an dem Durchgang vorbeigingen, ohne sie zu bemerken.
Die Geste schien beinahe liebevoll, wie die eines Vaters, der seinen Sohn spazieren führte. Erleichtert stieß Moira die Luft aus. Seine Lippen bewegten sich, aber aus der Entfernung konnte sie nicht verstehen, was er sagte. Stattdessen konnte sie nur das Gesicht des Knaben deuten, der aus neugierigen Augen zu ihm aufschaute - die Furcht darin nur ein hintergründiges Flackern.
Die beiden liefen in Richtung der unteren Viertel, was Moira keineswegs behagte. Die einzigen, die dort lebten, waren mittellose Magielose wie sie. In einigem Abstand folgte sie ihnen, schwamm gegen den Strom der Menschen, der sich ihr entgegenstellte.
Beim Nobiskrug, wo gehen sie hin?, wunderte sie sich, während sie das Gespann observierte.
Die Schnitter hatten den Auftrag, sie und die anderen Diebe zu jagen, daran zweifelte sie keine Sekunde. Für einen Augenblick befürchtete sie daher, dass der Junge den Vollstrecker zu ihrem Unterschlupf führte, verwarf den Gedanken jedoch. Ein Knabe wie er wusste mit großer Wahrscheinlichkeit nicht, wo sie sich versteckt hielten, und selbst wenn, würden die anderen ihn längst kommen sehen und schleunigst die Flucht ergreifen.
Darüber hinaus wechselte Garrit seine Unterkunft regelmäßig, sodass er nie lange an einem Ort verweilte. Noch dazu hielt er sich nie in der Nähe der anderen Bandenmitglieder auf. Ihn würden sie also in jedem Fall nicht antreffen.
Dennoch beschlich sie die Sorge, dass der Schnitter etwas im Schilde führte, so zielstrebig, wie er sich auf die Armenviertel zubewegte. Umso näher sie kamen, desto aufmerksamer musterten seine blauen Augen die Umgebung - seine anfängliche Zurückhaltung wich der Neugier.
Die befestigte Straße endete, und an ihrer statt traten Dreck und Abfall, festgetrampelt zu einem unebenen Pfad. Kaum, dass sie einen Fuß daraufsetzte, bäumte sich die Besorgnis in Moira zu einer gewaltigen Flutwelle auf, prallte auf ihre Emotionen wie das Meer auf die Küste und spülte jeden Versuch, Ruhe zu bewahren und sich nichts anmerken zu lassen, davon.
Sie erinnerte sich an diesen Teil der Slums. Wie hätte sie es auch vergessen können? In der toten Erde unter ihren Schuhen lag ein Teil ihrer Kindheit begraben.
Es war lange her, dass sie hier im Schlamm gesessen und mit den Holzfiguren gespielt hatte, nachdem ihre Amme sie hinausgeschickt hatte, so wie sie es bis heute mit all' ihren Ziehkindern tat. Sie fand sie in der Gosse oder vor ihrer Türschwelle, wenn sie dort ausgesetzt worden waren und bot ihnen Nahrung und ein Dach über dem Kopf. Bis sie alt genug waren, um an die Diebesbanden verkauft werden zu können.
Die Gedanken an ihre Vergangenheit vereinnahmten Moira so sehr, dass sie für einen Moment fast vergaß, wofür sie hergekommen war. Die Hände zu Fäusten geballt, überwältigt von Angst, Scham und Wut, presste sie sich an die Fassade einer Baracke, um etwas Halt zu spüren, und suchte mit den Augen nach dem Schnitter.
Dann erblickte sie die Holzhütte.
Viele Male war sie durch diese Tür ein- und ausgegangen. Sie konnte kaum glauben, dass sie eines Tages wieder hier stehen würde - zu sehr hatte sie sich geschworen, diesem Teil ihres Lebens den Rücken zu kehren. Damals noch jung und naiv, war sie heute ein anderer Mensch.
Mit einem Mal bemerkte Moira, dass nicht nur sie auf das Häuschen starrte – zu ihrem Entsetzen hatte auch der Schwarze Schnitter innegehalten. Mit einer Hand tätschelte er die Schulter des Jungen, die Berührung zu menschlich für die eines Monsters. Daraufhin streckte der Knabe den Arm aus, als hätte er nur auf die Bestätigung gewartet, und deutete mit dem Finger auf das Gebäude. Die blauen Augen des Mannes fixierten das schäbige Zuhause.
Ihr Herzschlag dröhnte wie Donner in ihren Ohren. Eine schreckliche Vorahnung blitzte vor ihrem geistigen Auge auf und trübte ihre Sicht. Noch einmal strich der Mann dem Jungen durchs Haar, dann gingen sie gemeinsam darauf zu.
Er ist eines von Mama Monas Kindern, realisierte sie schlagartig. So wie Moira damals eines ihrer Ziehkinder gewesen war, als sie noch bei der Amme gelebt hatte. So wie er jetzt bei ihr lebte.
Wahrscheinlich hatte auch er viele Male hier im Schlamm gespielt, seine Holzfigur gehegt und gepflegt, die Türschwelle dieses Hauses so oft überquert wie sie.
Und nun hatte er einen Vollstrecker dorthin geführt.
Alle Instinkte in ihr schrien, trotzdem rührte sie sich nicht.
Die schwarze Obsidianrüstung war eine finstere Vorhersehung des Leids, das er bringen würde, wenn er erst einmal Fuß in das Haus gesetzt hatte. Also waren die Legenden wahr; die Schnitter kamen, um zu jagen und zu morden.
Nein, das darf nicht sein, dachte Moira benommen, noch immer regungslos. Mach ihm nicht auf. Das Blut rauschte in ihren Ohren und komponierte ein Orchester im rasenden Rhythmus ihres Herzschlags.
Vielleicht hatte sie diese Gruppierung unterschätzt, als sie geglaubt hatte, sie würden sich darauf konzentrieren, die wahren Verbrecher aufzuspüren - sie.
Doch warum sollten sie das tun, wenn es im Gegenzug so einfach war, sich an den Wehrlosen zu rächen - an den Kindern, die in dieser Hütte lebten, mit einer Frau, für die Moira alles empfand, nur keine Zuneigung. Aber so sehr sie Mama Mona auch hasste, änderte es nichts daran, dass sie niemandem dort drinnen den Tod wünschte, der nun vor ihrer Tür auf Einlass wartete.
Er wird sie alle umbringen, durchfuhr es sie. Danach gaben ihre Knie nach und ihre Beine knickten unter ihr ein, unfähig sich vom Fleck zu rühren. Was soll ich nur tun? Sie war nur eine Person, wie sollte sie einen schwerbewaffneten Soldaten und eine Hungerswölfin aufhalten? Was hatte sie ihnen schon entgegenzusetzen?
Ein Klopfen riss sie aus ihrer Starre, als er gegen die Tür hämmerte. Die silberne Wölfin an seiner Seite legte die Ohren an, doch mit einem Wink seiner Hand entspannte sie sich wieder.
Noch immer drängte sich der Knabe dicht an die Seite des Dunkelhaarigen. Unmöglich konnte er wissen, in welches Verderben er sich gerade führte. Er war nur ein Kind, das um sein Leben fürchtete.
Und doch... sie hatte die Erwartung in seinen Augen gelesen – den Wunsch, Vertrauen zu fassen, wenn man nur Misstrauen kannte. Aber wurde seine Gutgläubigkeit nun nicht verraten?
Abrupt schwang die Tür auf. Moira erkannte die Frau sofort, mit ihrer dunklen Haut, gekleidet in eine dunkelgrüne Tunika, während sie die Haare mit einem braunen Tuch zusammengebunden hatte.
Die Diebin konnte nicht hören, was sie sprachen, sondern erhaschte nur einen Blick auf die schreckgeweiteten Augen Mama Monas, als sie zuerst den Schnitter, dann den Jungen betrachtete.
Der Fremde schob sich an ihr vorbei ins Innere, gefolgt von seinen Begleitern, dann fiel die Tür ins Schloss. Außer Moira bemerkte oder ahnte niemand, was sich hinter verriegelten Fenstern abspielen würde.
Instinktiv rannte Moira auf die Hütte zu. Sie registrierte nicht einmal, wie sie das Metall des Dolchs so fest umschloss, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
Bei Nala und Lupus hatte sie nicht tatenlos zugesehen, als der Blutmagier sie töten wollte, und sie würde es auch jetzt nicht tun, wenn der Schnitter Mama Mona und ihre Straßenkinder abschlachten wollte. Alle Instinkte in ihr riefen dazu auf, etwas gegen diese Ungerechtigkeit zu unternehmen, so ausweglos die Situation auch schien.
Nur der Verstand sprach ihr gut zu. Dass niemandem geholfen war, wenn sie jetzt starb, denn sie konnte ihnen nichts entgegensetzen außer nackter Verzweiflung. Sie war keine Mörderin, hatte noch nie ein Leben eigenhändig beendet.
Wenn sie jetzt Ruhe bewahrte, sich nicht einmischte, könnte sie immer noch den Köder spielen und den Schnitter in die Falle locken. Nur so konnte sie dafür sorgen, dass es ihm doppelt und dreifach heimgezahlt werden würde.
Obwohl die Hütte nicht weit entfernt von ihr gelegen hatte, keuchte Moira atemlos, als sie sich an dem splittrigen Holz des Türblatts abstützte. Um zu lauschen, presste sie ihr Ohr dagegen, doch das einzige, was aus dem Inneren zu ihr drang, waren Wortfetzen gewisperter Gespräche - die eine Stimme tief, die andere unverkennbar die der Amme, schroff und heiser.
Noch konnte sie keine Kampfgeräusche vernehmen. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis der Vollstrecker und sein Raubtier sich an ihnen vergingen.
Falls sie jetzt hineinstürmte, würde sie als lebloser Körper in einem Massaker enden. Womöglich musste sie sich dieses Mal in Geduld üben und ihre Gedanken ordnen.
Aber Moira war kein besonnener Mensch. Lange hatte sie es vorgezogen mit einer Lüge zu leben, statt für die Wahrheit zu sterben, hatte geglaubt, die Welt in Hälften schneiden zu können - in Schwarz und in Weiß, in Gut und in Böse. Nun stand sie hier, hatte ihre eigene Sache verraten und sich wie Flinn für Privilegien verkauft, um ihre Schwester zu schützen.
Nur die Seite, für die sie sich entschieden hatte, war eine andere als seine.
Wenn einer es überleben kann, dann du, hallten Garrits Worte in ihren Gedanken wider.
Vielleicht hatte er sich in ihr getäuscht.
Denn sie würde warten - an die Holzverkleidung der Hütte gelehnt, den Dolch gezückt -, bis die Schreie im Inneren des Hauses begannen. Bis das Blut den Hüttenboden rot färbte und er schließlich sein bitteres Werk beendete. Bis er zufrieden den Leichen den Rücken zuwandte und wieder zur Tür hinaustrat.
Und dann würde sie hier sein, um ihm die Kehle durchzuschneiden. Denn alles, was für sie noch zählte, war Vergeltung.
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