Kapitel 15 - Gewissheit
Sie erreichten das Viertel am äußersten Rand Klippenzunges, in dem auch die Krematorien lagen. Die Gewissheit schlug ihnen entgegen wie der unerträgliche Gestank, der die Luft verpestete, gleichwohl dem Rauch, der ohne Unterlass aus den Schornsteinen stieg und den Himmel erstickte.
Noch nie war Moira diesem Ort so nah gewesen. Bisher hatte es auch keinen Anlass dazu gegeben; viele Menschen hatten ihr Leben betreten und es gewaltsam wieder verlassen, doch nie hatte sie sich dessen versichern müssen.
„Dort vorn ist das erste." Imitri deutete auf ein Gebäude in einiger Entfernung. „Es ist das am meisten frequentierte, weil es der Stadt am nächsten liegt. Aus Erfahrung kann ich sagen, dass die Gardisten meist zu bequem sind, die Bahren weiter zu tragen als unbedingt notwendig."
Der Pfad, den sie entlanggingen, schien viel befahren zu sein. Tiefe Rillen zeichneten sich im Schlamm ab, was dem regen Treiben auf den Plätzen und Straßen keinen Abbruch tat. Zu beobachten, wie viel Leben sich in einem Stadtteil abspielte, der zwecks der Toten existierte, war verwirrend für sie, zugleich aber auch beruhigend - denn es nahm dem Ort seinen Schrecken.
Dennoch fühlte es sich verboten an, hier zu sein. Als hätten sie den Nobiskrug betreten, das Reich der Verdammten und der Gleichgültigen, zu dem nur die Seelen der Verstorbenen Zutritt erhielten. Kein Ort, der für die Lebenden geschaffen worden war. Ob die Feuer ihrer Öfen je stillstanden?
"Warum verbrennen sie überhaupt die Toten?" Nachdenklich musterte Moira die Steingebäude, welche schwarz und grau verfärbt vom Ruß und der Asche vor ihnen aufragten. "Das habe ich noch nie verstanden."
Sie ging neben Imitri her, möglichst darauf bedacht, keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Umso näher sie dem Krematorium kamen, desto enger schien sich ihr Hals zu schnüren. Mitten am Tag, ohne den Schutz der Dunkelheit, fühlte sie sich ausgeliefert. Die Kapuze ihres Umhangs, unter der sie das Gesicht verbarg, half ihr nur mäßig.
"Der Grund ist wohl historisch bedingt", antwortete er. "Die Blutmagier fürchten sich noch immer vor den Nekromanten, obwohl ihre Magie seit Jahrzehnten als ausgestorben gilt."
"Nekromanten?", hauchte sie ungläubig. "Von denen habe ich noch nie gehört."
"Todesmagier. Es heißt, sie haben die Seelen der Toten auferstehen lassen und so ihre Macht demonstriert. Die Hämomanten sprechen nicht wirklich darüber... ich glaube, sie wollen nicht, dass irgendjemand davon weiß. Ihnen ist es lieber, wenn diese Magie in Vergessenheit gerät. Du weißt ja, dass Magie vererbt wird?"
Moira nickte. Magielose konnten nicht zu Magiewirkern werden und umgekehrt, soviel wusste sie.
„Wenn niemand mehr da ist, der die Magie vererben kann, stirbt sie aus." Er klang dabei ganz nach dem jungen Adepten, der er war, als lese er die Worte aus einem Buch vor. "Es heißt, die Schwarzen Schnitter hätten sie lange Zeit gejagt – und jeden einzelnen von ihnen zur Strecke gebracht."
Die Schwarzen Schnitter. Wieder diese Gruppierung, deren Name sich wie eine Seuche durch die Geschichte zu ziehen schien. Aber hatte es diese Todesmagier überhaupt je gegeben? Und wenn ja, warum hatten die Schnitter sie so erbarmungslos verfolgt? Konnten sie so viel bedrohlicher gewesen sein als die Blutmagier?
Wenn es stimmte, dass sie die Nekromantie ausgerottet hatten... bedeutete das nun, dass sie mit den Diebesbanden Klippenzunges das gleiche anstellen würden?
„Sind die Schwarzen Schnitter wirklich so gefährlich, wie man sagt?", fragte Moira, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
„Die Schwarzen Schnitter sind sehr erfolgreich in dem, was sie tun... Wenn du verstehst, was ich meine."
Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu. "Und woher weißt du das alles?"
Es war als Scherz gemeint, immerhin war Imitri einer der wenigen, mit denen sie nicht ständig aneinandergeriet, und er war der einzige Mensch, der sie unterstützte, ohne eine Gegenleistung zu fordern; mit Nahrung, Kleidung und seiner Wertschätzung.
Aber sie war noch nie gut darin gewesen, sich zu verstellen, und in Wahrheit fühlte sie sich alles andere als guter Dinge. Der Gedanke, dass sie womöglich gegen die Schnitter keinen Erfolg haben würde und Elizas Heilung damit in unerreichbare Ferne rückte, frustrierte sie und schwang in jeder ihrer Silben mit.
Auch Imitri entging ihr Zwiespalt nicht. Er vermied es, ihr in die Augen zu sehen, und konzentrierte sich stattdessen fieberhaft auf den Weg.
"Bei meiner, ähm... Familie", stotterte er und kratzte sich verlegen am Kopf. "In Norstoed sind die Winter kalt und die Nächte lang. Da erzählt man sich... so manche Geschichte."
Moira reckte den Kopf, um die Schornsteine zu mustern, die nun immer näher rückten. "Glaubst du denn, dass sie wahr sind?"
Ihrem Blick folgend, beobachtete er den Rauch und wie der Küstenwind ihn jenseits der Stadt trieb.
"Ich weiß es nicht", raunte er. "Aber ist das nicht sehr viel Aufwand, nur für ein paar Geschichten?"
Als sie näherkamen, manifestierten sich drei weiße Punkte, ähnlich Schafen, die sich friedlich niedergelassen hatten, vor der rußschwarzen Fassade des Krematoriums. Es dauerte eine Weile, bis Moira erkannte, dass es weiße, mit dunklen Flecken gesprenkelte Tücher waren, die die Leichenkarren bedeckten, Bahre um Bahre.
Die Präsenz der Roten Garde war unübersehbar, auch wenn sie nicht so unbarmherzig vorgingen, wie Moira es während der Sperrstunde gewohnt war. Zumindest schienen sie nicht daran interessiert, den Krematorien noch mehr Nachschub zu beschaffen.
Stattdessen patrouillierten sie friedlich die Eingangstore und kümmerten sich um die Zu- und Abgänge der Waren. Niemand betrat ein Gebäude, ohne dass ein Gardist die Erlaubnis dazu erteilte. Auch wenn sie ebenso Magielose waren wie Moira, verliehen ihnen die blutroten Wappenröcke etwas Elitäres.
Ob Flinn sich auch verkauft hat, so wie sie?, wunderte sich Moira.
Im Nachhinein betrachtet kam ihr das Gespräch mit ihm mehr als verdächtig vor. Er hatte so viel Verständnis für die Menschen, die für die Hämomanten arbeiteten, aufgebracht; dass sie ihre Familien ernährten, sich ein besseres Leben erhofften...
Was, wenn er gar nicht für eine andere Diebesbande arbeitet?, durchfuhr es sie. Und sich stattdessen für die Seite mit den Privilegien entschieden hat - die Blutmagier?
Eine tiefe Furcht packte sie und jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
Zwei Wachmänner lehnten gegen den Wall, welcher das Krematorium von der Außenwelt abschirmte. Einer von ihnen erzählte einen Witz, woraufhin der andere lautstark auflachte.
Vorsorglich fiel Moira ein Stück zurück, wie es sich für eine Magielose aus dem Hausstand eines Magisters gehörte. Gleichzeitig brodelte die Wut in ihr, darüber dass sie gezwungen war, sich so herabzuwürdigen – und dass sie sich dem widerstandslos fügte.
Aber jetzt war nicht der richtige Moment, um in Rage zu verfallen. Also atmete sie tief ein und aus, bändigte ihren Zorn. Wenn sie Gewissheit haben und Flinn finden wollte, durfte sie ihren Stolz nicht die Oberhand gewinnen lassen.
"Noch kannst du umkehren", flüsterte Imitri ihr zu, indem er sich kaum merklich zu ihr umdrehte.
"Ich schaffe das", war alles, was sie erwiderte.
War es eine Lüge? Sie konnte es selbst nicht mit Sicherheit sagen. Aber eines wusste sie dafür umso mehr: Sie musste es schaffen.
Als die Gardisten sie bemerkten, reagierten sie ertappt und warfen ihnen argwöhnische Blicke zu. Kurz darauf hefteten ihre Augen sich auf Imitris Robe, und mit einem Mal versteifte sich ihre Haltung.
Der junge Hämomant hob schüchtern die Hand zum Gruß, und obwohl Imitri alles andere als eine autoritäre Persönlichkeit war, erwiderten die Wachmänner die Begrüßung nun mit durchgebogenen Rückgrädern.
Moira hielt sich im Hintergrund, verfolgte das Gespräch, woraufhin einer der Gardisten in ihre Richtung nickte. Zu gern hätte sie sich in einer dunklen Gasse verborgen, aber zum Umkehren war es nun zu spät.
"In Ordnung", brummte der Gardist. "Aber ich muss die Magielose vorher durchsuchen."
Moira zuckte zusammen.
Durchsuchen?
Sie trug Garrits Dolch und eine Phiole mit Obsidianstaub bei sich. Wenn die Wachmänner auch nur einen der beiden Gegenstände bei ihr entdeckten, würden sie sie verhaften – und was ihr dann blühte, wollte sie sich nicht einmal im Traum ausmalen.
"W-was?" Auch Imitri musste sich dessen bewusst sein, denn etwas überfordert mit der Situation stammelte er vor sich hin, verzweifelt nach einem Einwand suchend. "Das... war mir nicht bekannt. Seit wann denn das?"
"Neue Sicherheitsvorkehrung, Meister." Der Wachmann nickte erneut in Moiras Richtung. "Seit dem Großbrand im Südviertel sind wir angewiesen, keine Magielosen mehr ohne Durchsuchung passieren zu lassen."
"Sie muss nur einen Toten für mich identifizieren", versuchte er den Gardisten zu überzeugen. „Es wird auch nicht lange dauern."
Vergeblich.
"Verzeiht, Meister." Er ließ sich nicht abbringen. "Aber Befehl ist Befehl."
Die Männer tauschten einen kurzen Blick aus, stimmten sich stumm ab, dann setzte sich derjenige, der gesprochen hatte, in Bewegung.
Hilflos suchten Imitris Augen ihre, das Flehen deutlich darin zu erkennen, aber es änderte nichts an der Tatsache, dass der Wachmann unaufhaltsam auf Moira zuhielt. In ihrem Blick lag der gleiche, bittende Ausdruck, gemischt mit Verzweiflung und der Hoffnung, dass Imitri es doch noch verhindern konnte.
Wie versteinert stand sie da, nur ihre Gedanken rasten.
Ich muss fliehen, schoss es ihr in den Sinn. Es war mehr ein Instinkt, der sich an die Oberfläche bohrte.
Und was dann?, haderte sie. Sie werden mich verfolgen, aber wie soll ich ihnen entkommen? Überall sind Wachen und ich kenne die Fluchtwege nicht...
Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück, dann noch einen. Der blutrote Wappenrock spannte sich um den beleibten Bauch des Gardisten, als er die Hand nach ihrem dünnen Arm ausstreckte.
Wie habe ich nur so dumm sein können, mich in die Höhle des Löwen zu manövrieren? Für einen falschen Freund, einen Verräter?
„Ihr könnt sie natürlich durchsuchen", rief Imitri plötzlich. Seine Stimme klang für unvertraute Ohren gefestigt, doch Moira kannte ihn lange genug, um das Beben darin wahrzunehmen. „Aber sie ist an Lepra erkrankt. Berührt sie und ihr werdet Euch mit großer Wahrscheinlichkeit infizieren."
Der Gardist stockte mitten in der Bewegung, seine Finger nur einen Spalt breit von ihr entfernt.
„Ich..." Räuspernd und möglichst subtil zog er die Hand zurück, als hätte er nie vorgehabt, sie anzufassen.
„Ich denke, in dem Fall lässt sich eine Ausnahme machen", fuhr Imitri fort, kaum fähig seine Erleichterung zu verbergen. "Selbstverständlich werde ich bei Euren Vorgesetzten ein gutes Wort einlegen für... Euer Pflichtbewusstsein."
Der Mann nickte knapp und wandte sich schließlich ab. Moira atmete schwer aus und schenkte Imitri ein kaum erkennbares, aber dankbares Lächeln. Obwohl es so unscheinbar gewesen sein musste, dass die Wachen es nicht bemerkten, kräuselten sich seine Lippen ebenso unauffällig - es war die stille Botschaft einer langjährigen Freundschaft.
Der Gardist gab seinem Kamerad einen Wink, der daraufhin beide auf das Gelände führte, zu dem nächstgelegenen Karren. Als er davor stehenblieb, fiel sein Blick auf den Sucher, der wiederum nervös zu Moira sah.
Selbst jetzt, nachdem er sie bereits mehrfach gefragt und sie es ihm mehrfach bestätigt hatte, wartete er auf ihre Zustimmung - wollte sie vor ihrer eigenen Beharrlichkeit schützen.
Plötzlich war sie nicht mehr so sicher, ob es eine gute Entscheidung gewesen war, hierherzukommen.
Sie hätte ahnen müssen, dass sie nicht bereit dafür war, als sie dennoch stumm nickte und das Leichentuch zurückgeschlagen wurde.
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