I
Immer noch sitze ich hier in der Zelle. Es ist dunkel. So wie immer. Kein einziger Lichtstrahl ist je bis hier vorgedrungen. Und wenn doch, dann wurde er sogleich von der Dunkelheit zerfressen. Meine einzige Gesellschaft ist die Fledermaus, die die ganze Zeit über unbeweglich vom Deckenbalken runterhängt. Ihr eines, rot unterlaufenes Auge starrt mich an. Wenn ich mich bewege, folgt sie meinem Körper mit ihrem Blick. Wie ein Jäger, der sein gefangenes Tier voller Stolz betrachtet.
Aber bin ich das nicht? Ein gefangenes Tier? Ich lebe hier schon seit... einem Tag? Einem Monat? Einem Jahr? Und der Grund dafür? Ich kenne ihn nicht. Doch ich habe viele Vermutungen. Die glaubwürdigste ist die, dass ich wegen meiner Fähigkeit hier festgehalten werde. Wegen der Fähigkeit, Bücher zu hören.
Ja. Hören. Sie reden mit mir wie ich früher mit anderen gesprochen habe. Einfach so. Ohne ein bestimmtes Kommando oder Zauberwort. Das ist auch der Grund dafür, dass ich nie länger als zwei Herzschläge in einer Bibliothek war.
Es ist nicht auszuhalten. Die Stimmen der Bücher. Ihre Klagelaute, wenn irgendein Barbar sie achtlos auf den nächstbesten Tisch schmeißt. Ihre wohligen Seufzer, wenn liebliche Hände über ihren Einband streichen. Ja, Bücher sind lebendig. Nur sehr wenige haben die Begabung, sie zu hören. So wie ich.
Doch ich habe ihnen lange nicht mehr gelauscht. Den Büchern. Für mich ist das die reinste Folter. Keine Bücher zu hören. Kein Papiergeraschel beim Umblättern. Jedes Buch erzählt eine eigene Geschichte. Die Geschichte seines Lebens. Von seinem Qual und Leid, aber auch von Freude.
Genauso wie ich es tun könnte. Doch ich tu es nicht. Ich kann nicht. Jeden Tag bekomme ich nur ein Blatt Papier und eine Bleistiftmine, mit der ich meinen Geist beruhige. Ich schreibe ein Stück meiner eigenen Geschichte auf und höre ihr zu. So lebe ich. Orientierungslos und in der Dunkelheit gefangen.
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