Botschaften der Seele
Anduriel hatte sich Anais kein weiteres Mal offenbart, obwohl diese noch so viele Fragen hatte. War ihr nur dieser kurze entschlüsselnde Blick auf die Wirrungen, welche in ihrem Kopf wüteten, gestattet gewesen?
Sie wollte wissen, wie sie Kontakt zu Merandil aufnehmen konnte. Anduriel hatte gesagt, sie wäre bei ihm, in all seinen Prüfungen. Könnte sie ein Medium zwischen ihnen sein? Würde sie ihr doch nur wieder erscheinen!
Einige Male spürte sie die Anwesenheit von dunklen Auren, die sie umlagerten, aber sie schützte sich durch den Zauber, der die Stimmen fernhielt, die sie zu hören erwartete. Sie harrte aus und vegetierte vor sich hin. Was war aus der Elfe geworden, die ihren Wald mit offenen Sinnen durchstreift und dem Leben gehuldigt hatte?
Sie bewachte eine Grabstätte, die von Freunden und auch ihre eigene, denn auch wenn sie die Hoffnung nicht aufgab, ein Teil von ihr war tot und sie nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ihr Leben hatte einzig den Sinn, diesen Verbannungsort zu sichern und dabei war sie selbst zur Verbannten geworden. Sie sang keine Lieder mehr, schaute nicht mehr zum Himmel auf und nahm die Gerüche der Blüten, die immer noch um sie herum sprossen, kaum noch wahr.
Anais existierte, nicht mehr und nicht weniger. Bis zu dem Tag, der ihrem Leben wieder eine neue Richtung weisen sollte.
In den ersten Tagen, die Merandil in der dunklen Festung verbrachte, wurde er auf Schritt und Tritt bewacht. Entweder war Dimion persönlich bei ihm, oder er befahl mehreren Schattenkriegern, über ihn zu wachen. Trotzdem prägte er sich seine Umgebung genau ein.
Er suchte nach abgelegenen Winkeln, die ihm als Verstecke dienen könnten und beobachtete die Gewohnheiten der Kreaturen Dimions. Einige schienen keine erkennbaren Aufgaben zu haben, sie lungerten einfach herum. Andere hingegen bewegten sich auf immer gleichen Routen durch das Gemäuer.
Bald hatten sich die Schattenkrieger an seine Anwesenheit gewöhnt und nahmen ihn kaum noch wahr, was Merandil ausnutzte. Als Dimion die Aufsicht über ihn an drei seiner dunklen Diener übergab, mischte sich dieser bei der ersten sich bietenden Gelegenheit, unter die in einer düsteren Ecke lagernden Krieger, welche den Elfen ähnelten und krümmte sich so zusammen, dass er nicht aus der Masse herausstach.
Die drei Krieger, die für einen Moment unachtsam gewesen waren, schlugen keinen Alarm, als sie sein Fehlen bemerkten, da sie Dimions Strafe fürchteten. Sie besprachen sich leise und schwärmten dann in verschiedene Richtungen aus, um Merandil zu finden, bevor ihr Herr zurückkehrte.
Merandil hatte alles aus dem Augenwinkel beobachtet und atmete auf, als er sah, dass seine Bewacher von ihm wegstrebten. Die gebeugte Haltung beibehaltend, wandte er sich gen Westen, von wo er Wasserträger kommen gesehen hatte. Er huschte durch dunkle Gänge, die nur an wenigen Stellen spärlich von Fackeln beleuchtet waren und drückte sich in die Schatten der Wände, so gut es ging. Glücklicherweise hielt ihn niemand auf, da er seinen Blick gesenkt hielt und seine abgerissene Gestalt unter den zerlumpten Kriegern gar nicht auffiel. Außerdem war jedem hier bekannt, dass er sich nicht ohne Begleitung bewegen durfte und keiner außer den drei Unglücklichen, die eine harte Strafe zu erwarten hatten, wusste von seinem Verschwinden.
Die Gänge führten stetig bergab, was Merandil Hoffnung machte, hatte Dimion doch gesagt, dass sich die Quelle in einer Höhle unweit der Festung befände. Nach einiger Zeit, die ihm ewig vorkam, erreichte er ein Tor, das unbewacht war und ins Freie führte.
Merandil grinste. In einem Land zu leben, welches keine Feinde fürchtete, hatte definitiv Vorteile. Wozu sollte man einen Eingang sichern, wenn man keine Bedrohung erwartete?
Er schlüpfte nach draußen und kauerte sich eng an die Mauer gedrängt nieder, um die Lage zu sondieren. Keine Seele war zu sehen und Merandil atmete erleichtert auf. Weiterhin an die Wand gedrückt, ging er nach rechts, da er aus den Fenstern in dieser Richtung eine große Felsformation gesehen hatte. Dieser strebte er nun zu.
Merandil hoffte, das Zwielicht würde ihn genug verschleiern, um ungesehen über die Ebene zu gelangen, die sich zwischen der Festung und den Felsen erstreckte. Und er betete, dass er sich nicht irrte und die Quelle tatsächlich irgendwo in diesem Massiv entsprang.
Das Glück verließ ihn nicht. Er gelangte ohne Zwischenfälle zum Ort seiner Hoffnung und fand nach kurzer Suche einen klaffenden Spalt in den Felsen, der groß genug war, um aufrecht hindurchzugehen.
Aus dem Inneren des Steins schlug ihm ein muffiger Gestank, gleich einer Mischung aus Feuchtigkeit, Moder und Verwesung, entgegen. Es war stockfinster und er tastete sich blind vorwärts. Der Boden war glitschig und uneben und einige Male konnte sich Merandil nur knapp vor einem Sturz bewahren. Schlängelnd führte der Weg, auf dem er sich vorsichtig voran bewegte, in die Tiefe und allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, sodass er vage Umrisse zu erkennen vermochte.
Die Decke war hoch und zu beiden Seiten des Weges türmten sich Tropfsteinsäulen auf, die ein mattes Licht zu verströmen schienen. Und dann vernahm er ein Geräusch, das ihn frohlocken ließ.
Noch aus der Ferne, aber unverkennbar, drang ein Plätschern an sein Ohr, dem er, nun schneller laufend, folgte. Fast wäre er gegen eine Felssäule gestoßen, die düsterer war als die Tropfsteinformationen und sich nicht so stark von der Dunkelheit abhob. Er prallte zwar nicht dagegen, doch sie verlangsamte seinen Lauf und ließ ihn kurz innehalten, was ihn rettete.
Keine fünfzig Schritte von ihm entfernt, stand Dimion mit geschlossenen Augen und ausgebreiteten Armen am Rand des Wasserbeckens, in das sich die dunkle Quelle ergoss. Merandil konnte sich gerade noch rechtzeitig wieder hinter die Säule drücken. Er lauschte angestrengt, doch vernahm nur unverständliches Gemurmel.
Wo sollte er sich verstecken? Sobald sein Vater aus seiner Trance zurückkehrte, würde er ihn hier entdecken.
Merandil tastete an der Wand entlang und seine Hände erfühlten eine ovale Vertiefung auf halber Mannshöhe, die groß genug war, dass er sich hindurchzwängen können würde. Er hievte sich hinein und stellte erleichtert fest, dass das Loch tiefer war, als er erwartet hatte und er sich gut sechs Schritt in den Fels zurückziehen konnte. Eng an die Wand gepresst, traute er sich kaum zu atmen und verharrte in vollkommener Stille. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, aber plötzlich gellte ein wütender Schrei durch die Höhle.
Dimion kochte vor Wut.
Selbst unter Aufbietung all seiner Kräfte, hatte er es wieder nicht geschafft, Anais' Geist zu durchdringen. Ihre Magie und ihr Willen waren einfach zu stark. Aber er würde nicht aufgeben. Vielleicht schwächten sie seine Angriffe wenigstens so sehr, wie ihr Schutzschild ihn seiner Kräfte beraubte und sie würde die magische Grenze zusehends schlechter instandhalten können. Für heute jedoch würde er sich geschlagen geben.
Etwas beunruhigte ihn, doch was es war, vermochte er nicht zu sagen. Er hatte das Gefühl, nicht allein zu sein. Aber wer sollte hier sein? Die Aura, die er zu spüren glaubte, war flüchtig und undeutlich. Vielleicht nur eine Ratte, die sich der Quelle genährt hatte und wieder davongehuscht war, als er aufgeschrien hatte?
Dimion schüttelte den Gedanken ab und stapfte schnellen Schrittes dem Ausgang entgegen. Er würde sich Merandils annehmen und endlich seine Magie anzapfen. Die Schonzeit war vorüber!
Als Dimion an Merandils Versteck vorbeieilte, schlug ihm das Herz bis zum Hals. Doch der Dunkle war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, als dass er ihn bemerkt hätte. Vorsichtig ließ Merandil sich aus dem Felsloch dem Höhlenboden entgegengleiten. Er vergewisserte sich, dass er tatsächlich allein war und schritt dann auf die Quelle zu.
Das Wasser in dem Becken, welches in den schroffen Boden gemeißelt worden war, schäumte so sehr, dass es aussah als würde es kochen. Merandil musste würgen, da der faulige Geruch hier überwältigend war. Er nahm sich aber zusammen und überlegte, was er tun sollte.
Würde es genügen, einfach an Anais zu denken, um ihr seine Botschaft zu übermitteln? Würde sie überhaupt zulassen, dass jemand in ihre Gedanken eindrang, oder schützte sie der Zauber auch vor seiner Stimme?
Merandil schloss die Augen. Er stellte sich vor, wie sich seine Seele von seinem Körper trennte und in das Wasser eintauchte. Ein Strudel erfasste ihn und trug ihn weit weg. Er trieb durch die Dunkelheit einem fernen Licht entgegen, das ihn magisch anzog. Und plötzlich hatte er das Gefühl, zermalmt zu werden. Seine Seele durchbrach die Grenze von Morlith und fiel direkt vor seiner Liebsten nieder.
Sie saß in sich zusammengesunken auf dem Boden und sah so verloren aus, dass es Merandil das Herz brach. Im Geiste strich er sanft über ihre Wangen und wischte eine Träne aus ihrem Augenwinkel, die sich eben ihren Weg über das Gesicht Anais' bahnen wollte.
Er flüsterte ihr ins Ohr:
„Ich bin bei dir. Hör mich an, Liebste."
Anais blickte auf und sah ihn an, zumindest hatte Merandil das Gefühl. Ihre Augen suchten nach ihm, da sie seine Stimme vernommen hatte.
„Anais, ich weiß nicht, wie lange ich die Verbindung zu dir halten kann", drängte er, obwohl es ihm widerstrebte und er sie so gerne in aller Ruhe seiner unverändert starken Gefühle versichert hätte.
„Merandil, ich höre dich. Wo bist du, Liebster?", fragte Anais mit erstickter Stimme.
Sie konnte ihn nicht sehen, aber allein seine Worte zu vernehmen, war wie Balsam für ihre Seele.
„Ich bin an einer Quelle in Morlith, durch die ich meinen Geist auf Reisen zu dir schicken kann. Hör mir zu! Der dunkle Herr wird versuchen, dir in meiner Gestalt zu erscheinen und dich zu verführen. Er will ein Kind von dir, weil ich mich ihm widersetze und meine Magie vor ihm verschließe. Er braucht einen Lichtelfenhalbling, um das Portal zu öffnen und nach Melith zu gelangen. Eine gewaltige Armee von Schattenkriegern wartet nur darauf, über das Land herzufallen."
Merandil fühlte, dass es ihm zunehmend schwerer fiel, seinen Geist außerhalb seines Körpers zu kontrollieren.
„Entferne dich so weit vom Inrith, wie du nur kannst, damit er dich nicht erreichen kann", hauchte er.
Anais schüttelte energisch den Kopf.
„Ich bleibe hier, besonders jetzt, da ich weiß, dass du noch lebst."
Merandil seufzte. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte er sie nicht davon abbringen. Das hatte er nicht geschafft, als er ihr noch in Person gegenüberstand und würde es erst recht nicht Zustandebringen, solange er nur eine Stimme in ihr war.
„Verschließ dich vor ihm und traue niemandem, der aussieht wie ich. Sollte dir so jemand begegnen, egal ob in deinen Träumen oder in der Realität, so frage ihn, ob er wieder Alpträume hatte. Wenn ich es tatsächlich bin, werde ich dir antworten: Nein, ich habe keine Alpträume mehr. Nur unglaubliche Sehnsucht nach dir", sagte Merandil.
Anais nickte und sagte mit Tränen in den Augen:
„Ich liebe dich und vermisse dich so sehr."
„Ich dich auch, mehr als alles auf der Welt", flüsterte Merandil.
Anais fühlte einen Luftzug, wie einen zarten Kuss über ihre Lippen streichen. Dann wurde es still um sie herum. Merandils Geist war entschwunden.
Mit einem berstenden Gefühl, drang Merandils Seele wieder in seine Brust ein und er erwachte aus seiner Trance. Er hatte Anais wirklich erreicht und sie warnen können. Und er hatte sie berührt, wenn auch nur im Geiste. Am Ende war ihr Bild vor ihm zerflossen, so als ob sie sich in seinen Armen aufgelöst hätte. Merandil hatte sie und die Verbindung zu ihr nicht halten können. Seine Kraft war aufgebraucht und sein Körper forderte den Geist zurück.
Nun musste er wieder in die Festung und so tun, als wäre nichts geschehen, damit Dimion keinen Verdacht schöpfte. Er würde jetzt wohl oder übel ein wenig kooperieren müssen, aber nur so weit, dass keine Gefahr bestand, ihn zu mächtig zu machen. Das Portal musste unter allen Umständen geschlossen bleiben.
Er hoffte, dass Anais eine Möglichkeit finden würde, die Elfen von Melith vor der Armee des dunklen Herrn zu warnen. Sollten alle Stränge reißen und die Grenze fallen, mussten sie wenigstens vorbereitet sein.
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