Heiß wie Lava, kalt wie Stein
„Was hast du dir nur dabei gedacht? Hatte ich dir nicht ausdrücklich verboten, dich in Morlith zu offenbaren?", schalt Kalea Anais, nachdem diese sich wieder einigermaßen gefangen hatte.
„Ich dachte, dass ich den dunklen Herrn überraschen könnte und er dadurch angreifbarer wäre, sodass ich ihn überwältigen können würde. Ich wollte doch nur dafür sorgen, dass er Merandil nichts mehr antun kann", verteidigte sich Anais. „Aber anscheinend benötigt er keinen Schutz mehr. Er und Dimion schienen sich blendend zu verstehen", fügte sie erstickt hinzu.
Kalea musterte sie fragend und Anais berichtete, was sie gehört und gesehen hatte. Es war ihr unbegreiflich, wie sie sich so in Merandil getäuscht haben konnte. Noch vor ein paar Monaten hatte sein Geist sie aufgesucht, um sie vor seinem Vater und dessen Heer zu warnen. Und jetzt tat er so als hätte es ihre Liebe nie gegeben und strebte nach despotischer Macht?
Sie wusste, dass Mandelion ihr eingeschärft hatte, ihre Augen nicht vor der Wahrheit zu verschließen, auch wenn diese noch so schmerzhaft wäre. Aber etwas in ihr war plötzlich nicht mehr überzeugt davon, dass sie tatsächlich die Wahrheit gesehen hatte. Was wenn...? Und dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Wie hatte sie nur so blind sein können?
Sie war Merandils Schwingungen gefolgt bis die Dimions ihren Weg gekreuzt hatten und diese waren eindeutig nicht aus der Festung gekommen. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte sich an jede Einzelheit des Gesprächs zu erinnern, an jede kleine Nuance. Was war es, das nicht stimmte, ganz abgesehen von der Unwahrscheinlichkeit, dass Merandils Seele sich so sehr verdunkeln würde?
„Was hast du?", fragte Kalea besorgt.
Doch Anais hörte sie gar nicht. Sie war weit entfernt und völlig in sich vertieft. Plötzlich riss sie die Augen weit auf und flüsterte:
„Es gab nur eine Aura in dem Gemach in der Festung. Und es war nicht die meines Liebsten. Dimion muss gespürt haben, dass ich auf dem Weg zu ihm war. Merandil war gar nicht bei ihm. Das war nur ein Trugbild...und ich habe mich täuschen lassen."
Sie sah Kalea entschlossen an und nahm deren Hand.
„Du wirst mich daran hindern wollen, aber es ist zwecklos. Ich muss wieder zurück nach Morlith. Merandil ist dem dunklen Herrn nicht erlegen und ich muss ihn so schnell wie möglich finden", sagte sie.
Kalea seufzte und wollte etwas erwidern, doch wie schon Merandil und Mandelion zuvor, spürte auch sie, dass nichts und niemand an dieser Entscheidung rühren können würde. Und so waren ihre einzigen Antworten ein trauriges Lächeln und eine innige Umarmung.
„Merandil kann sich glücklich schätzen, eine Frau wie dich zu haben. Und ich sehe, dass dein Sehnen wahrhaftig war und ich mich nicht in dir getäuscht habe. Diesmal werden wir aber alles genau planen und jede mögliche Wendung in Betracht ziehen, damit du nicht wieder Hals über Kopf in dein Verderben rennst. Du kannst von Glück sagen, dass der Dunkle dich nur mit Trugbildern geflutet und nicht angegriffen hat", ließ Kalea sich vernehmen, nachdem sie sich aus der Umarmung gelöst hatte.
„Ich werde in meiner Traumhülle bleiben und mich nicht zu erkennen geben bis ich direkt vor Dimion stehe. Dann werde ich ihn sofort blenden und einen Zauber sprechen, der ihn von innen heraus in Brand stecken wird", teilte Anais ihrer Lehrmeisterin ihren Plan mit.
„Er wird mit deiner Rückkehr rechnen. Ihm musste klar gewesen sein, dass du es nicht zulassen würdest, dass er deine Heimat unterjochen würde. Irgendetwas führt er im Schilde. Er hätte dich sicher an Ort und Stelle töten können, wenn er dies gewollt hätte", stellte Kalea fest.
„Er braucht mich noch. Wenn Merandil sich ihm nicht so unterwirft, wie er es plante, dann will er durch mich an eine weitere Seele aus Licht und Schatten gelangen. Ein Kind von mir könnte ihn befreien und all das Grauen auf unsere Welt loslassen, welches er um sich gescharrt hat. Ich habe Drachen gesehen und so viele Schatten, dass die ganze Luft von ihnen erfüllt war. Nur die Krieger, von denen Merandil mir berichtete, habe ich nirgends gesehen. Vielleicht hat er sie an einem Ort versammelt, zu dem ich noch nicht vorgedrungen war. Doch ich zweifle nicht an den Worten meines Liebsten und ich vermag mir nicht vorzustellen, welche zerstörerische Kraft entfesselt werden würde, wenn die magische Grenze tatsächlich fiele."
Kalea blickte sie nickend an.
„Ja, nur diejenigen, die die Grenze schufen, vermögen sie auch wieder einzureißen. So hieß es in einer Prophezeiung der Lichtelfen, nachdem diese den Herrn der Schatten gebannt hatten", sagte sie nachdenklich. „Pass nur gut auf dich auf und handle mit Bedacht. Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas zustieße", hauchte Kalea und küsste Anais zärtlich auf die Stirn.
Es war ihm noch immer ein Rätsel, wie Anais es fertig gebracht hatte, sich in Morlith einzuschleichen. Er war die gesamte Grenze abgelaufen und hatte nach jedem noch so winzigen Anzeichen gesucht, dass dort vor kurzem Magie angewendet worden war. Doch das magische Gefüge der Bannzone war unverändert. Es gab nicht den kleinsten Spalt in der unsichtbaren Mauer und kein Hauch fremder Schwingungen lag in der Luft.
Und doch war sie ganz in seiner Nähe gewesen. Nicht nur ihr Geist, auch ihr Körper hatte nur wenige Schritt von ihm entfernt geweilt. Und auf einmal war sie wieder verschwunden gewesen, wie vom Erdboden verschluckt.
Sie hatte eine Aura kristallklaren Lichts verströmt, welche ihn durch die geschlossene Tür hindurch geblendet hatte. Ein Licht, wie es wohl nur reinblütige Lichtelfen in sich trugen. Und Dimion hatte sich wieder an Nächte mit Anduriel erinnert, in denen er sich, von Wärme durchflutet, in deren sanftem Glanz verlor. Sie war so zart und zerbrechlich gewesen und dennoch das stärkste Wesen, dem er je begegnet war, bis zu dem Zeitpunkt, da er Anais' Seele gewahr wurde. Sie überstrahlte die Anduriels noch um ein Vielfaches.
Dimion versuchte sich vorzustellen, was Merandil empfunden haben musste, wenn sie beieinander lagen. Kein Wunder, dass die Visionen, welche er ihm gesendet hatte, ihn nicht mehr zu erreichen vermochten, solange er in ihrer Nähe gewesen war!
Dimion musste versuchen, seinen Sohn an sich zu binden, bevor Anais ihn finden und seine helle Seite wieder so zum Strahlen bringen würde, dass er die Kraft fände, sich von den Ketten zu befreien und sich gegen ihn zu wenden. Aber wie nur? Was hatte er noch nicht probiert?
Er hatte ihm seine Vergangenheit offenbart, ihm geschmeichelt, ihm Visionen geschickt, ihm gedroht, ihn gepeinigt, ihn geschwächt und ihm große Teile seiner hellen Magie geraubt.
Dimion stolperte über einen Gedanken. Was, wenn er ihm nichts nahm, sondern ihm etwas gab? Er wusste, dass kleine Prisen seiner dunklen Magie in ihm verblieben, wann immer er die Kräfte seines Sohns anzapfte. Aber er hatte ihm noch nie willentlich große Mengen davon zugespielt, da sie ihm kostbar war und er sie für seine Verwandlungszauber und seine Verbindung zu den Schatten außerhalb der Grenzen von Morlith benötigte. Wenn er Merandil nun regelrecht damit fluten würde, würde dieser ihm dann so ähnlich werden, dass sie tatsächlich wie Vater und Sohn sein konnten? Was hatte er noch zu verlieren?
Anais würde wiederkehren und dann würde sie ihn geschwächt, aber im Geiste so vorfinden, wie er von ihr gegangen war. Oder sie würde genau das Bild zu sehen bekommen, welches er ihr gezeigt hatte. Entweder sein Sohn würde für ihn einstehen und ihn über kurz oder lang erlösen, oder er könnte Anais mit dem Leben ihres Liebsten erpressen. Wie er es auch drehte und wendete, er war im Vorteil und das ließ ihn gewinnend lächeln.
Eine Eskorte von Schatten begleitete ihn, als er den Kerkern zustrebte. Sie waren genauestens instruiert, wie sie sich zu verhalten hatten, sollte Anais sich ihnen nähern. Dimion war bester Laune. Es war Zeit, neue Familienbande zu knüpfen.
Merandil summte leise die Melodie, die seine Mutter in ihm erklingen lassen hatte, um ihn zu beruhigen und ihm Kraft zu spenden. Er sehnte sich nach ihrer warmen klaren Stimme. Die Erinnerungen daran vertrieben die Kälte in ihm ein wenig und ließen ihn wieder aus seiner Starre erwachen.
Wo war sie? Warum war ihre geisterhafte Präsenz auf einmal verschwunden? Ob Dimion gespürt hatte, dass sie ihren Sohn in dessen Seele besuchte und er sie kraft seiner manipulativen Gedanken gebannt hatte?
‚Zuzutrauen wäre es ihm allemal', dachte Merandil.
Dimion war lange nicht mehr bei ihm gewesen. Zwar schätzte er dessen Besuche nicht sonderlich, doch nun fragte er sich, was ihn davon abhielt wieder einmal Magie einzufordern. War er mittlerweile so von ihr durchdrungen, dass es keiner weiteren Reserven mehr bedurfte, oder war er am Ziel angelangt, frei und über Melith gebietend und ließ ihn hier zurück? Hatte er seinen Zweck erfüllt und war nun nicht mehr von Belang?
Merandil war hungrig und durstig. Auch wenn seine Mahlzeiten nie üppig und schmackhaft gewesen waren, so hatte er doch in regelmäßigen Abständen Rationen erhalten, die ihn bei Kräften hielten. Nun jedoch wurde ihm langsam schwarz vor Augen und seine Kehle war so trocken, dass sich das Summen zusehends in ein Krächzen verwandelte.
Das Geräusch des an der Wand heruntertropfenden Wassers verhöhnte ihn. Es war nah genug, um es zu hören und doch so weit entfernt, dass das kostbare Nass unerreichbar für ihn blieb. Merandil hätte ohne zu zögern die Wand abgeleckt, wenn sie nur etwas näher gewesen wäre.
Hallten dort Schritte in der Ferne, oder bildete er sich das nur ein? Nein, ein matter Lichtschein bewegte sich auf ihn zu. Merandil richtete sich auf und straffte seinen Körper soweit es ihm möglich war. Dimion sollte ihn nicht am Ende seiner Kräfte vorfinden. Diese Genugtuung würde er ihm nicht verschaffen!
„Ich habe dir etwas mitgebracht. Iss und trink", sagte Dimion sanft.
Die Stimme passte überhaupt nicht zu dem Elf, der seinen Sohn monatelang ausgesaugt hatte, wie eine Spinne ihre wehrlos eingesponnene Beute. Aber Merandil nahm den Wasserkrug und das Brot gieriger entgegen als er es beabsichtigt hatte.
Dimion lächelte und ging vor ihm in die Hocke. Er sah ihn still und durchdringend an und als sein Sohn den Krug bis auf den letzten Tropfen geleert hatte und ihm ein leises Seufzen entwich, sagte er säuselnd:
„Ich habe noch mehr für dich."
Bevor Merandil sich auch nur ein Stück zur Seite bewegen konnte, drängte Dimion ihn gegen die Wand und presste seine Hände an dessen Kopf.
Merandils erster Gedanke war:
‚Er wird mir wieder Licht aus dem Körper ziehen.'
Aber anstatt ihn zu berauben, ließ er ihm Magie zukommen. Die Schübe waren so gewaltig, dass sie Merandil erzittern ließen. Sie durchliefen ihn heiß, brannten sich in seine Seele und füllten die schwarze Leere zwischen den immer kleiner werdenden Inseln aus Licht in ihm. Er hatte das Gefühl, von glühender Lava durchdrungen zu werden und schrie schmerzerfüllt auf. Dimion jedoch sandte nur noch mehr dunkle Kräfte in ihn, bis er in dem Strom des hasserfüllten Zaubers zu ertrinken drohte.
Merandils Puls raste und sein Atem ging stoßweise und brannte bei jedem Zug. Wollte Dimion ihn umbringen? Merandil stemmte sich verzweifelt gegen ihn, doch er war dem Herrn der Schatten nicht gewachsen. Schließlich gab er es auf und versuchte, in sich zu versinken und sich auf eine der kleinen Inseln im Meer aus Lava zu retten. Seine Seele strebte der nächstgelegenen zu und mit letzter Kraft landete sie im Zentrum des Lichts und schloss sich darin ein. Die flammenden Wogen brachen über ihm zusammen, doch sie durchdrangen sein Refugium nicht.
„Merandil, komm zu dir!", rief der dunkle Herr.
Merandil hörte seine Stimme aus weiter Ferne, obwohl er wusste, dass Dimion direkt vor ihm stehen musste. Er lächelte in sich hinein und ließ sich weiter in die gnädige Ohnmacht gleiten.
Der goldene Schein, welcher den beseelten Baum umgab, schien heute noch heller zu leuchten. Es war, als ob er Anais all seine Kraft und seine Weisheit mit auf den Weg geben wollte. Und sie nahm es dankend an. Kalea und sie hielten sich fest an den Händen und schauten sich tief in die Augen.
„Denk an alles, was wir besprochen haben. Verschließ dich vor dem Flüstern der Schatten und wappne dich gegen die Blicke und die Stimme des dunklen Herrn. Hat er dich erst einmal in seinen Bann geschlagen, wirst du ihm wehrlos ausgeliefert sein. Bleib so lange wie möglich verborgen in der Hülle der Träume und zögere nicht, wenn du diese verlassen hast", schärfte Kalea ihr ein.
„Ich werde es beherzigen und an deine Worte denken", versicherte Anais und fragte dann leise:
„Aber ich werde nie wieder hierher zurückkehren, oder?"
„Nein, das wirst du nicht. Du kannst Merandil nicht mitbringen, denn der Fluss der Träume trägt nur den zurück, der bereits auf ihm reiste. Und ich weiß, dass du Morlith nicht ohne ihn verlassen wirst. Du wirst einen anderen Weg finden müssen, doch ich bin mir gewiss, dass dir etwas einfallen wird."
Kalea umarmte sie ein letztes Mal. Dann ließ sich Anais erneut unter dem Baum nieder und lehnte sich gegen dessen starken Stamm. Sie glitt schnell in die nötige Trance und war schon auf halbem Wege ins Reich der Schatten, als Kalea ihre Tränen nicht mehr zurückhielt. Sie hatte die letzte freie Lichtelfe dieser Welt ins Dunkel entschwinden lassen und hoffte inständig, dass Anais dieses erhellen möge und nicht davon verschlungen werden würde.
Die Hitze war aus Merandils Geist und Körper gewichen. Stattdessen war ihm nun kälter als zuvor. Die Magie Dimions, die wie glühende Lava in ihn geschossen war, strömte nicht mehr, sie war erkaltet und umschloss sein Inneres wie eisiger Stein, der ihn zu Boden zog.
Das Licht in ihm glomm nur noch schwach und bot ihm keine Zuflucht mehr. Im Geiste wandelte er über das Ödland seiner Seele, das dem von Morlith glich. Sah es so in Dimion aus? War das die Welt, in der er lebte? Wenn ja, dann war es kein Wunder, dass er so kalt und herzlos geworden war. Merandil musste etwas finden, an das er sich klammern konnte, sonst würde er genauso werden wie sein Vater.
„Anais, wo bist du? Ich brauche dich", flüsterte er erstickt.
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