Die Bestimmung
Der Fürst hatte sie mit den Worten entlassen:
„Ich nehme an, dass ihr euch alle erst einmal von dem Gehörten erholen möchtet. Das ist sicher nicht leicht für euch. Und ich denke, das geht am besten in vertrauter Atmosphäre. Also, Elomir, geh nach Hause. Und Merandil, führe auch du deine Frau in dein Haus. Ich bin mir sicher, dass ihr um eure Verantwortung wisst und ich euch morgen noch dort antreffen werde."
Er hatte sie darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie in den nächsten Tagen und Wochen in der Waffenkunst und in Magiebeherrschung ausgebildet werden würden, um dem Feind wohl gewappnet entgegenzutreten. Landorielle war in einer uralten Chronik des Lichtelfenvolkes auf den Versiegelungszauber für magische Tore gestoßen und Lyberion, der oberste Magier und Mitglied des hohen Rates von Melith, wollte diesen und andere nützliche Zauber mit Merandil und Anais proben.
Elomir hatte bekräftigt, dass er unbedingt mit zum Inrith kommen wolle und Merandil hatte nach Leibeskräften versucht, ihm dies auszureden.
„Wer wird die Werkstatt fortführen, wenn Adahidh einmal nicht mehr ist?", hatte er gefragt und versucht, an Elomirs Ehrgefühl zu appellieren.
Aber dieser war so davon besessen, an der Seite seiner Freunde zu kämpfen, dass Merandil es irgendwann aufgegeben hatte. Er würde zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal versuchen, ihn umzustimmen.
Zum Schluss hatte Adahidh Merandil und Anais noch einmal lange umarmt und dann Abschied für die Nacht genommen. Anais war sichtlich gerührt gewesen. Jetzt war sie ein Mitglied einer kleinen Familie und herzlich in ihr aufgenommen worden. Sie vermisste ihre Mutter, an die sie seit Langem nicht mehr so intensiv gedacht hatte.
Warum hatte Shanaria ihr die Wahrheit verschwiegen? Hatte sie sie vielleicht nur schützen wollen? Aber, wenn es zur Lebensaufgabe der Lichtelfen gehörte, die Dunkelheit jenseits der Grenzen von Melith zu binden, dann konnte sie sich dem nicht entziehen.
Sie verspürte Angst vor dem, was auf sie zukommen würde, doch sie fürchtete noch viel mehr, was kommen mochte, wenn sie den Zauber, der die Grenze aufrechterhielt, nicht beherrschen lernen würde.
War sie stark genug, um dieser Aufgabe gewachsen zu sein?
Und dann dachte sie an Merandil, den es noch viel unvorbereiteter getroffen hatte. Sein ganzes Leben war eine Lüge gewesen. Zwar eine, um ihn zu schützen, aber wovor genau? Was hatte Anduriel dazu getrieben, ihn in die Hände Adahidhs zu übergeben und einfach zu verschwinden? War sie vielleicht noch am Leben und könnte ihnen Antworten auf all diese Fragen geben?
Ihre beiden Mütter mussten sich gekannt haben. Hatten sie vielleicht gemeinsam beschlossen, ihren Kindern eine andere Zukunft zu ermöglichen und ihnen deshalb ihre wahre Natur verschwiegen? Aber wie gedachten sie dann die Schattengrenze zu schützen? Sie mussten doch gewusst haben, dass diese ohne ihre Magie nicht ewig fortbestehen konnte. Fragen über Fragen, auf die Anais keine Antworten fand.
Merandil war ungewöhnlich still. Er führte Anais durch die Straßen von Shanduril und sie schaute sich gedankenversunken um. Die Stadt war schön und außergewöhnlich gelegen. Besonders das Panorama der weißen Lamara-Berge, welche sich rund um die Stadt erhoben, beeindruckte sie und gab ihr das Gefühl, winzig klein zu sein. Nur ein unbedeutend kleiner Teil dieser großen Welt.
Welche Ironie! Alle Hoffnungen ruhten auf Merandil und ihr und gerade jetzt fühlte sie sich unbedeutend.
'Die Magie liegt in den kleinen Dingen', hallte es in ihrem Kopf wider.
Es war einfach, dass zu sagen, so viel einfacher, als daran zu glauben, wenn es um sie selbst ging.
Nach einer Weile sagte Merandil:
„Ich kann es immer noch nicht glauben. Eben waren wir noch ganz normal und nun sollen wir unsere Welt vor einem Feind retten, über den wir so gut wie nichts wissen, außer, dass er Schatten entsendet, die anscheinend ins Bewusstsein eindringen und einen völlig willenlos machen können."
Anais schaute ihn nachdenklich an und antwortete dann:
„Auch mir ist der Gedanke fremd und ich habe keine Ahnung, wie wir das anstellen sollen, aber lass uns die Magielektionen abwarten. Vielleicht offenbaren sich dort Kräfte, von denen wir bisher nichts ahnten."
„Ich habe Angst davor. Ich bin ein Handwerker, ein Künstler, aber kein Magier, Anais", erwiderte Merandil bedrückt.
„Wenn das stimmt, was Landorielle uns erzählte, dann bist du einer, Merandil. Und es ist unser Schicksal, gegen die Schatten zu kämpfen. Dieses Erbe können wir nicht ignorieren. Wir würden sonst alle, auch uns, ins Verderben stürzen. Wir werden das gemeinsam durchstehen", ermutigte sie ihn.
Merandil zu bestärken, ließ auch ihre Zuversicht wachsen.
Sie ließen die Stadt nun hinter sich und liefen auf einem mit Steinen befestigten Weg, der leicht bergauf führte. Zu ihrer Linken plätscherte ein kleiner Bach. Vereinzelt entsprangen blühende Büsche dem grasbewachsenen Boden und es duftete nach Erde und Wiesenblumen. Die Luft war klar und ein sanfter Wind trieb weiße Wolken über den Himmel.
Es war so friedvoll und Anais konnte verstehen, dass Merandil sich hier zu Hause gefühlt hatte. Er musste ein glückliches Leben geführt haben, bevor dieser Alptraum begonnen hatte.
'So wie es Anduriel für ihn wollte', durchfuhr es Anais.
Sie hatte ihm durch ihre Tat viele schöne unbeschwerte Jahre geschenkt. Wie sie wohl gewesen war? Waren sie und ihre Mutter Shanaria sich ähnlich gewesen?
„Wir sind gleich am Ziel", sagte Merandil und deutete voraus.
Anais erkannte ein paar vereinzelte kleine Häuser, die sich harmonisch in die Landschaft einfügten. Ein Stück weiter standen sie dichter beieinander und ragten etwas höher auf. Das musste das Zentrum der Siedlung sein.
„Mein Haus befindet sich im äußeren Ring des Siedlungskerns", sprach Merandil. „Ehrlich gesagt, hätte ich nicht damit gerechnet, dich je dorthin zu führen", fügte er leise hinzu. „Ich hatte schon mit all dem hier abgeschlossen."
Anais hob Merandils Hand, die sie die ganze Zeit über gehalten hatte, an ihre Lippen und küsste sie sanft.
„Du hast meine Welt kennengelernt und jetzt zeigst du mir die deine. Ich freue mich darauf", versicherte sie ihm lächelnd.
„Ich wünschte nur, es wäre unter anderen Umständen", erwiderte er betrübt.
Er führte sie den gewundenen Weg zu seinem Haus und als er schließlich vor dem kleinen weißen Bau mit blauen Fensterrahmen und einer kunstvoll geschnitzten, nach oben hin spitz zulaufenden Tür anhielt, atmete er tief durch. Er kehrte zurück in sein altes Leben, aber er war nicht mehr der Elf, der in Obleth gelebt und dies für die Erfüllung seiner Träume gehalten hatte. Nun brachte er seine Frau in ein Zuhause, das sich in diesem Moment völlig fremd für ihn anfühlte.
Anais spürte seine Unsicherheit und streichelte seine Hand.
„Dinge verändern sich. Das muss nichts Schlechtes sein", sagte sie liebevoll.
Merandil nickte, drückte die Türklinke herunter und zog Anais hinter sich ins Haus.
Anais erblickte einen Raum, dessen Boden mit Natursteinen in warmen Sand- und Brauntönen gepflastert war. Auf einem runden Tisch in der linken Ecke des Raumes lagen Schnitzmesser, Hobel, Hämmer, Spaltkeile und Sägen. Daneben stapelten sich Holzklötze, kleine Stämme und Baumscheiben in verschiedenen Größen.
Anais musste unwillkürlich schmunzeln.
„Sind wir in deiner Werkstatt oder bei dir zu Hause?", fragte sie lachend.
„Es ist wohl ein bisschen von beidem", meinte Merandil entschuldigend, da er fürchtete sie habe mit etwas Besserem gerechnet.
„Nichts Anderes hätte ich von dir erwartet", entgegnete Anais und küsste ihn auf die Wange.
Ihr Blick wanderte weiter durch den Raum. Einige geschnitzte Stuhlbeine und die halb fertige Holzstatue eines energisch dreinblickenden Elfen auf einem steigenden Pferd, standen im hinteren Teil des Zimmers.
Es gab noch eine kleine Sitzbank nahe einem der Fenster und daneben einen winzigen Tisch, auf dem ein Becher und ein Teller mit den verschimmelten Resten eines nicht mehr definierbaren Essens standen. Der Teller zeugte davon, dass Merandil lange abwesend gewesen war.
Die Mitte der Rückwand zierte ein Kamin mit einer Kochstelle und auf der rechten Seite des Raumes standen ein Bücherregal und ein Kleiderschrank, die ausgesprochen gut miteinander harmonierten. Außerdem befand sich dort eine Tür, die in ein anderes Zimmer führen musste.
Merandil wirkte verloren, so als ob es nicht sein, sondern irgendein fremdes Heim wäre. Einzig der Blick, den er dem runden Werktisch zuwarf, zeigte seine Verbundenheit mit dem Haus.
Anais tat sein offensichtliches Unwohlsein im Herzen weh, weshalb sie sagte:
„Das ist dein Zuhause, egal wer du bist und von wem du abstammst. Und es wird durch dich auch zu meinem. Erinnerst du dich? Ich habe dir geschworen, alles mit dir zu teilen."
Merandil nahm sie in den Arm und sagte leise:
„Was würde ich nur tun, ohne meine weise Frau, die meine Zweifel erkennt, ohne dass ich sie ausspreche und sie mit wenigen Worten zu zerschlagen weiß?"
Anais lächelte ihn stumm an, blickte dann wieder zu der kleinen Tür und erkundigte sich interessiert:
„Was ist hinter dieser Tür?"
„Das ist mein...unser Schlafzimmer", antwortete er, sich selbst schnell verbessernd.
Anais öffnete die Tür und spähte hinein. Der Raum war vielleicht vier mal fünf Schritt groß und beherbergte ein schmales Bett und eine Kommode mit einer Waschschüssel darauf. Am Bettende stand noch eine kleine Sitztruhe und ein schmales Fenster ließ die letzten Strahlen der Abendsonne ein.
Sie musterte das Bett genauer und bemerkte dann vergnügt:
„Wir werden uns heute Nacht sehr nah sein."
Und auch Merandil sagte nun verschmitzt:
„Ja, da bleibt uns wohl gar keine andere Wahl."
Sie wurden von einem energischen Klopfen an der Haustür geweckt. Anais setzte sich verschlafen auf und Merandil brummte nur:
„Ignoriere es einfach. Bleib bei mir liegen."
Er zog sie sanft zurück in seine Arme und die Decke über sie beide. Es klopfte erneut, diesmal noch lauter und drängender. Merandil seufzte und schwang sich widerwillig aus dem Bett, um zu sehen, wer ihre Idylle störte.
„Nicht weggehen", sagte er zu Anais, die sich auf den Bauch gerollt hatte und küsste sanft ihre Schulter.
Dann ging er zur Tür und öffnete sie schwungvoll. Er blickte direkt in die Augen des Fürsten.
„Euer Majestät", stieß Merandil überrascht hervor.
„Es freut mich zu sehen, dass ich mich nicht in euch getäuscht habe", sagte er ruhig. „Ich nehme an, dass Anais auch da ist", fügte er hinzu.
Merandil nickte, unfähig einen weiteren Ton aus sich herauszubekommen.
Anais' Gestalt erschien im Türrahmen des Schlafzimmers. Sie hatte sich schnell die Decke umgeschlungen und hielt diese mit einer Hand zusammen, während sie mit der anderen versuchte, ihre Haare zu ordnen.
Fürst Mandelion nickte ihr freundlich lächelnd, aber so knapp wie möglich zu und wandte sich dann respektvoll ab.
„Ich bedauere sehr, euer junges Glück so früh am Morgen stören zu müssen, aber euer Unterricht duldet keinen Aufschub. Lyberion erwartet euch in zwei Stunden zu eurer ersten Magielektion in der Halle der Stürme. Seid bitte pünktlich!", forderte Mandelion und wandte sich um zum Gehen.
Sein Pferd scharrte unruhig mit den Hufen, nachdem er sich in den Sattel geschwungen hatte.
„Merandil!"
„Ja, mein Fürst?"
Mandelion sah ihn mit einer Intensität an, die ihn fesselte.
„Ich danke euch Beiden von ganzem Herzen für dieses Opfer", sagte er und deutete eine Verbeugung an, bevor er sein Pferd davonsprengen ließ.
Anais, die sich inzwischen angekleidet hatte, trat von hinten an Merandil heran, der immer noch im Türrahmen verharrte.
Sie schlang ihre Arme um ihn und flüsterte:
„Jetzt wird es ernst. Lass uns herausfinden, wie viel Lichtelfenmagie in uns steckt!"
Merandil wusste, dass sich die Halle der Stürme im Westflügel des Palastes befand und warum sie diesen Namen trug. Hier wurden die hohen Magier ausgebildet und auf dem Weg zur Perfektion verwüsteten sie diesen Ort so manches Mal so sehr, dass es aussah, als ob ein Sturm hindurchgefegt wäre. Es erfüllte ihn nicht gerade mit Hoffnung, dass selbst die größten Meister der Magie, diese anfangs nicht zu beherrschen vermochten, denn er wusste auch, dass deren Ausbildung oft Jahrzehnte, wenn nicht länger dauerte. Zeit, die sie nicht hatten. Das erhöhte den Druck, der auf ihnen lastete um ein Vielfaches.
Im Palast wurden sie von niemandem aufgehalten. Alle schienen bescheid zu wissen und ließen sie ohne Fragen passieren. Anais war einerseits angespannt, freute sich jedoch andererseits auf die Lektion. Sie war begierig darauf, ihre Kräfte beherrschen zu lernen und sie gegen die Macht zu wenden, die Nimiel zur Mörderin ihrer eigenen Mutter gemacht hatte. Das Bild der kleinen Elfe hatte sich in ihr Bewusstsein eingebrannt und flammte immer wieder auf, wenn sie an die Schatten dachte.
Vor der Halle der Stürme erwartete sie ein hagerer Elf in einer silbergrauen Robe, dessen Haare fast weiß waren. Sein Gesicht verriet keine Gefühlsregung, als er sie mit den Worten empfing:
„Seid gegrüßt. Nun lasst uns keine Zeit verlieren."
Anais und Merandil folgten ihm in die Halle, welche diese Bezeichnung wahrlich verdiente. Sie schien sich in der Höhe über den gesamten Palast zu erstrecken, so hoch, dass man die Decke kaum mehr erkennen konnte. Die Halle war rund und beherbergte mehrere Tische mit Büchern, Artefakten und Phiolen.
Die Wände zierten Mosaike aus weißen Kristallen, Onyx und Rubinen. Mit den Kristallen waren strahlende Elfengestalten dargestellt worden, die gegen Dämonen kämpften, welche ihres Zeichens in tiefschwarzem Onyx verewigt worden waren. Die Rubine schwebten wie ausgesandtes Feuer zwischen ihnen.
Viel Zeit sich in der Halle umzusehen, hatten Merandil und Anais nicht. Lyberion führte sie gleich zu einem Tisch mit einem hochaufragenden Bücherstapel.
„Das ist eine besondere Situation", hob er an zu sprechen. „Noch nie zuvor habe ich Elfen unterrichtet, die nicht um ihre Kräfte wussten."
Er schaute Merandil an, der am liebsten im Boden versunken wäre.
„Lasst mich erst einmal erfühlen, wie es um eure Kräfte steht", sagte Lyberion und legte ihnen jeweils eine Hand auf die Brust.
Er schloss die Augen und ließ ein monotones Summen erklingen. Merandil fühlte sich, als zöge jemand Teile seines Inneren in einem Strudel aus Licht aus seiner Brust. Ob es Anais ähnlich erging? Wenn sie das Gleiche fühlte wie er, dann war sie um Vieles stärker, denn Merandil hätte am liebsten aufgeschrien. Er musste an seine Träume denken, an das Gefühl, wenn die Schatten seine Seele verzehrten und Eins mit ihm wurden. Auch sie zogen das Licht aus ihm heraus und hinterließen Eiseskälte. Lyberion hingegen versengte ihn beinahe, als er nun seinerseits in ihn drang. Ansonsten aber, war es genau das gleiche Gefühl.
Lyberions rechte Hand, die auf Anais ruhte, leuchtete golden auf. Seine Linke jedoch, die auf Merandils Brust lag, glühte feuerrot und zitterte. Was hatte das zu bedeuten?
Der Magier keuchte auf und löste sich von den Beiden. Er taumelte ein paar Schritte rückwärts und sah sie ungläubig an.
Anais, die nichts von alledem mitbekommen hatte, blickte verwundert zu ihm.
„Meister, geht es euch nicht gut?"
„Ich weiß es nicht", sagte er verwirrt. „In dir habe ich eine starke Lichtmagie gespürt, so wie einst in meinem Mentor", wandte er sich an Anais. „Aber in dir habe ich eine völlig fremde Art der Magie gefühlt."
Er sah Merandil mit einer Mischung aus Neugier und Besorgnis an.
„Unglaublich stark und intensiv, unbändig und widersprüchlich."
'Ja, wie anscheinend mein ganzes Leben', dachte Merandil bitter.
Was hätte er darum gegeben, alles über seine Abstammung zu wissen, die wohl der Schlüssel zu all den ungeklärten Fragen sein musste!
„Aber ihr habt starke Magie in uns Beiden gespürt, Meister. Heißt das, dass wir in der Lage sein werden, den Zauber zu wirken, der die Schattengrenze wieder stärken wird?", fragte Anais.
„Ja, sicher. Das werdet ihr", versicherte Lyberion und straffte sich. „Und genau daran werden wir nun arbeiten. Stellt euch vor, dass eure Lebenskraft aus allen Winkeln eures Körpers in eure Hände fließt und ballt sie dort!", forderte Lyberion sie auf.
„Unsere Lebenskraft?", fragte Merandil entsetzt.
„Ja, denn nichts Anderes ist Magie", erklärte der Meister.
'Kein Wunder, dass alle anderen Lichtelfen daran umgekommen waren', dachte er beunruhigt.
Anais schien keine Angst zu haben. Sie war bereits in einer Art Trance und schien plötzlich von innen heraus zu erstrahlen. Das Licht durchlief ihre Gestalt und floss ihren Händen entgegen, wo es in einem gleißenden Ball verharrte. Merandil war fasziniert und entsetzt gleichermaßen. Wie hatte sie solche Kräfte in sich tragen und nicht darum wissen können?
Lyberion nickte zufrieden. Dann schaute er Merandil auffordernd an.
Dieser tat es Anais gleich und schloss seine Augen. Er suchte nach irgendeiner Kraft in sich, die er bündeln konnte und fand einen kleinen Lichtfunken in seinem Herzen, auf den er sich konzentrierte. Der Funke wuchs und stob auseinander. Er suchte nach anderen Lichtern in ihm und fand sie weit verstreut, wie kleine Inseln in einem Meer aus Leere. Merandil war es, als ob sie von irgendetwas festgehalten wurden, doch er zerrte weiter an den kleinen Inseln aus Licht, stellte sich vor, wie diese in seine Hände wandern und sich dort zu einem großen Licht verbünden würden.
Es kostete ihn unglaublich viel Kraft und kurzzeitig war er versucht aufzugeben. Aber dann dachte er an Anais und strengte sich noch mehr an. Schließlich fühlte er, wie seine Fingerspitzen kribbelten, ähnlich wie damals, als er sie durch das Wasser der Quelle gleiten lassen hatte, nur viel stärker, fast schon wie ein Brennen.
Und dann brach es mit ungeheurer Macht aus ihm heraus, ein gewaltiger Lichtstrahl, welcher der Decke entgegen strebte und die Luft mit einem knisternden Geräusch durchschnitt. Die Magie rollte wie eine Welle durch ihn und breitete sich außerhalb seines Körpers aus.
Er riss die Augen auf und sah, dass Anais und Lyberion ihn mit offenen Mündern anstarrten. Er selbst konnte kaum fassen, was mit ihm passierte. Ein paar Augenblicke nur und der Strahl brach in sich zusammen und verschwand wieder zwischen seinen Fingern.
Merandil fiel zu Boden und atmete schwer. Das hatte die ganze Zeit über in ihm geschlummert? Anais ließ sich neben ihn sinken und stützte ihn.
„So etwas habe ich noch nie gesehen", murmelte Lyberion überwältigt.
Merandil fühlte sich ausgelaugt und schwach.
'Wie sollte es auch anders sein, wenn ich meine ganze Lebenskraft aus mir heraus katapultiere', dachte er mit einer gewissen Ironie.
„Das ist gut, oder?", fragte Anais den Magier hoffnungsvoll.
„Es ist auf jeden Fall außergewöhnlich", gab dieser ausweichend zur Antwort.
Und wieder beschlich Merandil das Gefühl der inneren Zerrissenheit.
Nachdem er sich etwas erholt hatte, setzte Lyberion seinen Unterricht fort. Er lehrte sie kleine Schutz- und Abwehrzauber und ließ sie erste Barrieren erschaffen, die tatsächlich nicht durchdringbar schienen. Erst als der Tag sich bereits dem Ende zuneigte, entließ er seine völlig erschöpften Schüler mit der Aufforderung, morgen zur selben Stunde wieder zu erscheinen. Dann stattete er Fürst Mandelion einen Besuch ab, um ihn über die Fortschritte der Beiden in Kenntnis zu setzen. Das Gefühl, welches ihn bei der Berührung mit Merandils Magie durchdrungen hatte, verschwieg er ihm jedoch.
Was auch immer das Geheimnis der sonderbaren magischen Energie sein mochte, die ihn fast verbrannt hatte, sie würde auch jeden anderen Gegner verbrennen und das wiederum würde ihnen zum Sieg gereichen können. Also wollte er keine Ängste in Mandelion schüren, sondern ihn mit den guten Neuigkeiten erfreuen, dass Anais und Merandil ungewöhnlich stark waren und rasend schnell die Kontrolle über ihre Kräfte gewannen.
Die nachfolgenden Tage verliefen nach dem immer gleichen Schema. Die Lichtelfen lernten täglich mehrere Zauber und konnten diese bald intuitiv anwenden. Am zehnten Tag ihrer Ausbildung entschied Lyberion, dass es an der Zeit wäre, den großen Torversiegelungszauber, auf den alles abgezielt hatte, anzugehen. Er erschuf eine brüchige Grenze und versah diese mit einem Tor aus gleißendem Licht, durch das nur Leere zu erblicken war. Der Raum, der dahinter lag, war gänzlich verschwunden.
„Jetzt zeigt mir was ihr gelernt habt und repariert erst einmal die Brüche in der magischen Mauer!", forderte er seine Schüler auf.
Anais und Merandil stellten sich dicht beieinander auf und visualisierten die Risse im magischen Gebilde und wie sie diese, kraft ihrer Gedanken, schlossen. Wenig später war kein Riss mehr zu sehen. Die Mauer stand, einer Festung gleich, durchscheinend, aber lückenlos vor ihnen.
„Sehr gut", lobte Lyberion sie. „Nun kommen wir zu dem Tor. Stellt euch vor, wie es in sich zusammenschrumpft und lenkt eure Magie auf die Außenränder. Dann zwingt ihr diese, nach innen zu rücken, bis sie miteinander verschmelzen und nur noch die Mauer bleibt."
Das hörte sich in Merandils Ohren verblüffend einfach an, doch er ahnte, dass dem nicht so war.
Anais und er stellten sich alles so vor, wie Lyberion es ihnen beschrieben hatte. Und dann ließen sie vereint ihre Magie dem Tor entgegenfließen. Die Ränder knisterten, als ob sie elektrisiert wären und auch ihren Händen entsprangen Ladungen, die wie kleine Blitze zuckten. Anais keuchte auf und verzog ihr Gesicht vor Schmerz, aber sie hielt stand. Merandil entsandte noch mehr Energie, um seine Liebste zu entlasten. Dass sich dadurch bereits Brandblasen auf seinen Handinnenflächen bildeten, nahm er regungslos in Kauf. Stück für Stück zwangen sie das Portal zusammen, bis es sich, von einem Lichtblitz begleitet, vollends schloss.
Anais standen Tränen in den Augen und Merandil schloss sie behutsam in die Arme und flüsterte:
„Wir haben es gemeinsam geschafft."
Lyberion lächelte stolz. An diese Schüler würde er sich bis ans Ende seiner Tage erinnern. Auch der Fürst lobte die Beiden in den höchsten Tönen, doch er gönnte ihnen keine Pause. Schon am nächsten Tag sollte ihre Waffenausbildung folgen. Er wollte sich nicht alleine auf die Magie der Beiden verlassen. Sollte diese zu geschwächt sein, so würden sie sich wenigstens noch körperlich verteidigen können.
Die Ausbildung übernahm Baradir persönlich. Er hatte ein leichtes Kettenhemd für Anais und einen Metallbrustpanzer für Merandil ausgesucht, um sie beim Training zu schützen. Nun reichte er ihnen gut ausbalancierte Kurzschwerter fürs erste Training.
Anais sträubte sich dagegen.
„Ich kann keine Waffe gegen jemanden führen", sagte sie entschieden zu Baradir.
„Was ist an der Waffe anders als an deiner Magie?", fragte er sie. „Diese führst du doch auch gegen jemanden oder bewahrst Leben durch sie. Genauso ist es mit diesem Schwert. Es wird verletzen oder töten, wenn es nötig ist und Leben bewahren, wo dies möglich ist."
Sie schluckte. Der Gedanke, jemandem eine Wunde oder Schlimmeres zuzufügen, indem sie blanken Stahl durch ihn trieb, verursachte ihr Übelkeit. Merandil ging es ähnlich, aber er dachte an Anais und wie er sie gegen jeden und alles beschützen würde, notfalls auch mit dem Schwert.
„Also gut. Schaut zu wie Daeron und ich es machen", sagte Baradir und brachte sich gegen seinen Gardisten in Stellung.
Dieser griff seinen Hauptmann in einer schnellen, nach vorne stoßenden Bewegung an. Baradir parierte den Stoß mit der Breitseite seines Schwertes und drängte Daerons Klinge dadurch zur Seite. Mit einer schnellen Drehung fuhr dieser herum und griff erneut, diesmal mit einem seitlichen Hieb, an. Wieder blockte Baradir ihn geschickt ab.
Sie lieferten sich einen unerbittlichen Kampf, in dem bald der Eine, bald der Andere, die Oberhand zu haben schien, bis Baradir sich endlich mit einer Drehung in den Rücken Daerons brachte und diesem sein Schwert an die Kehle setzte.
Schwer atmend trennten sich die Kämpfer voneinander und Baradir forderte seine Schüler auf:
„Nun zu euch. Ich hoffe, ihr habt gut zugesehen. Daeron, nimm dich Anais' an! Ich werde Merandil unterrichten."
Anais folgte Daeron zögernd in einigem Abstand. Die Krieger teilten die Halle gedanklich in zwei Hälften, um sich nicht in die Quere zu kommen und ihren Schülern Platz zu verschaffen.
„Ich glaube wirklich nicht, dass ich das kann", jammerte Anais, als sich Daeron ihr gegenüber in Stellung brachte.
Er lächelte sie aufmunternd an:
„Doch, da bin ich mir ganz sicher. Denk nur immer daran, dass du es nicht aus Boshaftigkeit tust, sondern um dich oder jene, die du liebst, zu schützen."
Sie fühlte sich fehl am Platz. Das war ganz sicher nicht ihre Welt. Doch dann blickte sie sich um und sah Merandil, der seine Klinge verbissen mit Baradir kreuzte. Er hielt sich erstaunlich gut, auch wenn Baradir ihn bereits nach kurzer Zeit zu Boden stieß und ihm symbolisch das Schwert auf die Brust setzte.
„Nicht schlecht für das erste Mal", lobte er Merandil und half ihm auf.
Anais blickte wieder zu Daeron, der ihr ermutigend zunickte und hob ihr Schwert an. Sie sendete ein stummes Gebet an ihre Mutter, sprang dann mit einem Schrei auf ihren Gegner zu und stieß ihm das Schwert entgegen. Von der Wucht überrascht, taumelte Daeron einen Schritt zurück, bevor er ihre Klinge parierte.
„Von wegen du könntest das nicht", stieß er hervor, während sie ihre Schwerter kreuzten.
„Ich bin ein Licht in der Dunkelheit", keuchte Anais, „und wenn ich sie vielleicht mit einer Klinge zerschlagen muss, dann werde ich das tun!"
Daeron lachte auf:
„Dann will ich dieses eine Mal Dunkelheit sein, wenn dich das motiviert."
Anais hieb und stach nach ihm, duckte sich unter seinen Schlägen hindurch und wirbelte herum, um eine ungeschützte Stelle zu finden. Daeron schenkte ihr nichts, denn er wusste, dass es in einem richtigen Kampf auch keine Gnade geben würde. Nach einer gefühlten Ewigkeit beförderte er sie mit einem gezielten Tritt zu Boden und richtete sein Schwert gegen sie. Sie schrie vor Schreck auf und beinahe im selben Moment fuhr eine Klinge an Daerons Hals.
„Halt", rief Baradir. „Es ist nur eine Übung. Er wird ihr nichts tun."
Daeron schaute in Merandils lodernde Augen und schob dessen Schwert langsam beiseite.
„Ganz ruhig", sagte er beschwichtigend. „Ich will Anais lehren, sich zu verteidigen. Dazu gehört es auch, zu erkennen, was eine Niederlage herbeiführen kann. Ich würde ihr nie etwas zuleide tun."
Merandil ließ beschämt das Schwert sinken und sackte in sich zusammen.
„Bitte verzeih. Das war ein Reflex. Anais' Schrei hat...", er verstummte und schaute entsetzt auf seine Hände.
Er war wirklich dazu bereit gewesen, zu töten. Die Erkenntnis überrollte ihn wie eine Lawine.
Daeron trat einen Schritt zurück und wandte sich an Baradir:
„Ich denke, die Beiden werden gut aufeinander acht geben. Ihre Liebe verleiht ihnen Kräfte und weckt Instinkte, die die fehlende Waffenroutine ausgleichen werden."
Sie beschlossen, die Lektion in getrennten Räumen fortzuführen. Das schien sicherer für das Leben Daerons.
Die nächsten zwei Wochen verbrachten Anais und Merandil mit schweißtreibenden Kampfübungen. Sie lernten, sich mit Schwertern, Dolchen, Speeren und bloßen Händen zu verteidigen und Angriffe zu führen. Baradir und Daeron ruhten nicht eher, als bis sie ein ums andere Mal von ihren Schülern dominiert wurden und deren Waffen in tödlicher Position auf sich spürten. Sie waren äußerst zufrieden mit ihnen und Baradir teilte Fürst Mandelion mit, dass er die Ausbildung für die erstrebten Zwecke, als abgeschlossen betrachtete.
Der Fürst berief eine kleine Versammlung ein, zu der Merandil, Anais, Baradir und Lyberion geladen waren und verkündete seinen Plan.
„Ich bin sehr stolz auf euch alle", wandte er sich an die Anwesenden. „Ihr habt in nicht einmal einem Monat vollbracht, wozu andere Jahrzehnte benötigen. Das lässt mich hoffen, dass ihr stark genug seid, um die Dunkelheit wieder in ihre Grenzen zu verweisen, ohne dass euch dabei etwas zustößt. Ich möchte euch eine kleine Armee und Späher mit auf den Weg geben, die über euch wachen und euch warnen sollen, wenn Gefahr in Verzug ist."
An Baradir gewandt gab er diesem den Auftrag:
„Such jeweils dreißig Bogenschützen und Schwertkämpfer aus und erwähle fünf Späher. Ich hoffe, die Schar ist groß genug gewählt, um ihnen beizustehen und klein genug, um nicht sofort bemerkt zu werden. Bewegt euch fernab der Straßen und Wege, soweit dies möglich ist und haltet euch im Hintergrund verborgen, wenn ihr in die Nähe des Inrith kommt. Was immer dort wartet, soll die Krieger nicht sofort sehen, sondern sich auf Merandil und Anais konzentrieren. Sollten sie in Bedrängnis geraten, schlagt zu", trug er ihm auf. „Du hast drei Tage, um alles vorzubereiten."
„Sehr wohl, Majestät", verkündete Baradir und verbeugte sich.
„Und ihr", wandte er sich Anais und Merandil zu, „nutzt die Zeit, um in euch zu gehen und eure Stärke zu sammeln...und um euch von denen zu verabschieden, die ihr liebt, falls die Mission doch fehlschlagen sollte und ihr nicht zurückkehrt", endete er leise.
„Dies ist unsere Bestimmung", erwiderte Merandil mit fester Stimme. „Wir werden siegen und wir werden heimkehren."
Der Fürst schaute ihn anerkennend an und sprach dann voll Inbrunst:
„Deine Worte in der Ahnen Ohren, auf dass sie über euch wachen mögen."
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