Kapitel 2
Die Nachmittagssonne brannte auf die staubige Straße und der Junge schritt gedankenverloren durch die kleinen, engen Gassen der Stadt, die ihm inzwischen vertraut waren wie sein eigenes Spiegelbild. Es war ein Tag wie jeder andere. Bis dieser plötzlich einen Mann sah, der ihm sofort ins Auge fiel.
Der Fremde war größer als die meisten anderen in der Menge und bewegte sich ruhig und fast lautlos durch die Menschen. Gerade als er an ihm vorbeigehen wollte, entdeckte er es. Ein Symbol am Nacken des Fremden, halb verdeckt von seinem Kragen. Es schimmerte in der Sonne, eine seltsam geschwungene Form, und obwohl er sie nur kurz gesehen hatte, hatte er das Gefühl, sie irgendwoher zu kennen. Sein Herz schlug schneller, sein Atem stockte, und er konnte den Blick nicht mehr abwenden.
Das konnte nicht sein... oder? Er hatte sein ganzes Leben allein verbracht, ohne jemals jemanden getroffen zu haben, der war wie er. Das Symbol, das der Mann trug, erinnerte ihn an etwas, das er selbst jeden Morgen im Spiegel sah. Es sah aus wie seine eigene Markierung. Doch es war anders geformt, eine Variation desselben Geheimnisses.
Er folgte dem Fremden, kaum in der Lage zu glauben, was er da sah. Er bewegte sich vorsichtig, darauf bedacht, unbemerkt zu bleiben und behielt dabei immer das Nackensymbol des Mannes im Auge, das bei jedem Schritt leicht hervor schimmerte. Ein seltsames Gefühl wuchs in ihm. Eine Mischung aus Neugier, Nervosität und dem starken Drang, Antworten auf Fragen zu finden, die ihn seit langem beschäftigten.
Die beiden bogen in eine ruhigere Straße ein, wo die Geräusche der Stadt gedämpfter wurden. Hier schien der Fremde langsamer zu gehen, als ob er auf etwas warten würde. Er blieb im Schatten der Gebäude, versuchte, seinen eigenen Herzschlag zu beruhigen und kämpfte mit dem Bedürfnis, den Fremden einfach anzusprechen. Doch die Angst vor dem Unbekannten hielt ihn zurück.
Sein ganzes Leben lang hatte er sich mit seiner zweiten Gestalt allein gefühlt. Und plötzlich begegnete er jemandem, der genauso zu sein schien wie er. War dieser Fremde ihm überhaupt ähnlich? Konnte es wirklich sein, dass er nicht der Einzige war? Er wagte es kaum, sich das vorzustellen und doch konnte er nicht aufhören, den Mann zu beobachten, seine Schritte zu folgen, als hätte er endlich eine Spur gefunden, die ihn zu den Antworten bringen könnten.
Als der Fremde plötzlich anhielt und sich ruckartig umdrehte, ging ihm ein Schauder über den Rücken. Der Mann starrte ihn an, die Augen schmal und entschlossen, wie ein Raubtier, das seine Beute fixierte. Er wollte sich zurückziehen, doch der Gedanke kam zu spät. Bevor er überhaupt einen Schritt machen konnte, sprang der Mann auf ihn zu, mit einer solchen Wucht und Zielstrebigkeit, dass er kaum Zeit hatte zu reagieren.
Doch dann setzte ein Reflex ein, der tief in ihm verwurzelt und rein instinktiv war. Er ließ seine menschliche Gestalt hinter sich, die Welt verzerrte sich, als seine Haut zu Schuppen wurde, die Muskeln sich dehnten und sich seine Sinne schärften. Im nächsten Augenblick erhob er sich in seiner Tiergestalt, das breite Schild seines Nackens gespreizt, seine Augen grün und gefährlich blitzend. Er zischte drohend, seine gespaltene Zunge züngelte in der schwülen Luft, bereit, sich zu verteidigen.
Der Fremde, der ihn noch eben festhalten wollte, wich zurück. Aber es war kein Rückzug aus Furcht. Stattdessen hielt der Mann inne, die Hände hob er ruhig und in einer beschwichtigenden Geste, wie jemand, der mit wilden Tieren vertraut war. Doch das war noch nicht alles. Ehe er sich versah, veränderte sich auch der Fremde. Sein Körper begann, die vertrauten Züge eines Menschen zu verlieren. Er verwandelte sich, ohne Hast und fast mühelos, und nun stand dort ein Gepard, seine Muskeln schlank und gespannt, das Fell schimmernd im goldenen Sonnenlicht, die dunklen Flecken auf der Haut wie Schatten.
Der Gepard legte die Ohren an und hob eine Pranke leicht, als wollte er ihn zum Bleiben bewegen, aber seine Augen blieben ruhig. Eine seltsame Aura umströmte ihn, in der er die Gefühle lesen konnte. Doch diese war nicht geprägt von Feindseligkeit, sondern eher eine sanfte und beruhigende Präsenz.
„Beruhige dich", erklang eine Stimme in seinem Kopf, ruhig und warm. Der Ton war tief und fast hypnotisch. „Ich bin nicht hier, um dir zu schaden."
Er verharrte, regungslos und misstrauisch, seine Muskeln noch immer angespannt, bereit, bei der geringsten Bewegung zuzuschlagen. Sein Instinkt sagte ihm, wachsam zu bleiben. Niemand, wirklich niemand sonst in seinem Leben hatte jemals verstanden, was in ihm vorging und hier war dieser Fremde, der ihm in seiner wahren Gestalt gegenüberstand, ohne den geringsten Funken von Angst.
„Ich habe dich gefunden", fuhr der Gepard fort, seine Stimme warm wie eine Brise im Frühjahr. „Weil du einer von uns bist. Du trägst dasselbe Zeichen wie wir alle."
Das ließ ihn innehalten. Er wusste nichts über sein Wesen, nichts über irgendeine Gemeinschaft, die seine Fähigkeiten teilte. Bisher hatte er nur sich selbst gekannt und das Gefühl, verloren zu sein, sowie die Furcht, etwas Unverzeihliches in sich zu tragen, das ihn von allen anderen Menschen trennte. Dass der Mann ihn gefunden hatte und sogar von einem Zeichen wusste, warf ihn aus der Bahn.
„Ich weiß, wie du dich fühlst", sagte der Gepard, seine Augen sanft und voller Verständnis. „Allein. Anders. Verloren. Ich war einst genauso."
Er hatte so lange geglaubt, er sei der einzige seiner Art. Alle seine Fähigkeiten, all die Anstrengungen, seine zweite Gestalt zu kontrollieren, hatte er in Einsamkeit erlernt und doch wusste dieser Fremde von seiner Existenz. Er wusste, was er war.
Der Gepard senkte langsam den Kopf, in einer Geste des Vertrauens, die gleichzeitig seine totale Gelassenheit und Stärke verriet. „Ich kann dir helfen zu verstehen, was du bist. Du bist nicht allein. Es gibt mehr von uns, und wir lernen, unsere Kräfte gemeinsam zu nutzen."
Sein Herz schlug schneller, und in seinem Inneren erwachte etwas, das ihm bisher fremd gewesen war. Die Hoffnung, vielleicht, zum ersten Mal wirklich verstanden zu werden.
Er spürte das Prickeln im Nacken und die warnende Anspannung in seinen Muskeln. Der Mann, der sich im Moment noch als Gepard in Angriffshaltung vor ihm hielt, ließ nicht von ihm ab. Doch so misstrauisch und aufgewühlt Luis auch war, sein Fluchtinstinkt gewann die Oberhand. Ohne eine weitere Sekunde zu zögern, nahm er die Gelegenheit wahr, sich in menschlicher Gestalt in Sicherheit zu bringen.
In einem schnellen Augenblick der Konzentration ließ er die Verwandlung geschehen. Seine langen, geschmeidigen Schuppen formten sich zurück zu Haut, Muskeln und Knochen, und innerhalb von Augenblicken stand er wieder auf zwei Beinen. Auch der Mann vor ihm verwandelte sich zurück und richtete sich zu voller Höhe auf. Sein ernster, durchdringender Blick hielt ihn einen Moment lang fest.
„Warte, ich kann dir helfen", sagte der Fremde, diesmal mit einer festen, aber beinahe beschwichtigenden Stimme. Doch für den Jungen klangen die Worte wie eine Gefahr. Wie eine Falle, die ihm nur ein weiteres Leben in Angst und Misstrauen versprach.
Ohne zu antworten, drehte er sich um und spurtete los. Er rannte durch die engen Gassen, die er kannte wie seine Westentasche und schlängelte sich zwischen den Markständen hindurch, während er versuchte, den Menschen und Besuchern der Stadt auszuweichen. Schon bald tauchten die ersten alten Häuser auf und er erreichte die Randgebiete der kleinen Stadt. Von den alten Häusern umgeben fühlte er sich in seinem Element. Hier konnte er sich verstecken, hier verschwand er in der Menge, wenn auch in einem Ort, wo jeder jeden kannte.
Mit schnellen Schritten und dem instinktiven Wissen, wie man sich aus dem Blickfeld der anderen hält, schob er sich durch schmale, staubige Gassen, duckte sich unter Holzbalken und huschte hinter niedrige Mauern. Ab und zu hielt er inne, horchte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Ein Zittern ging durch ihn, und seine Gedanken rasten.
Die Begegnung hatte ihm mehr Fragen hinterlassen als Antworten. Dass er wirklich auf einen anderen Wandler getroffen war, das allein war überwältigend. Er hatte sein ganzes Leben lang geglaubt, einzigartig zu sein, allein mit seinen Fähigkeiten und in der Furcht, jemanden zu verletzen, der ihm zu nah kam. Und doch gab es da draußen noch mehr von ihnen. Vielleicht sogar einen ganzen Kreis, der von dieser geheimnisvollen Fähigkeit wusste. Vielleicht einen Kreis, dem er sich hätte anschließen können, wenn er nicht so darauf bedacht wäre, seine eigene Einsamkeit als Schutz zu wahren.
Er schüttelte den Gedanken ab und wandte sich durch eine noch engere Gasse. Hier in den Hinterhöfen der Stadt herrschte eine beständige Ruhe. Der junge passte sich dem Geräuschpegel an, verschmolz mit der Umgebung und huschte an einem aufgeschichteten Stapel von alten Obstkisten vorbei. Die Bewohner warfen ihm kaum einen Blick zu, denn für sie war er nur ein weiteres junges Gesicht unter vielen.
Doch er spürte die Blicke des Fremden immer noch in seinem Nacken, als hätte dieser Mann, dieser Wandler, sich in seine Gedanken eingebrannt und würde ihn weiterhin verfolgen. Es war eine Sache, die ihm Angst machte und eine andere, die ihn tief berührte. So tief, dass er nicht sagen konnte, ob er jemals wieder dieselbe Ruhe empfinden würde.
In einer kleinen Seitenstraße blieb er schließlich stehen, schwer atmend, die Hände auf die Knie gestützt, während er versuchte, sein Herz zu beruhigen. Der Gedanke an die Möglichkeit einer Gemeinschaft war wie ein leises Flüstern, das in seinem Kopf nachhallte, ein Flüstern, das er weder ganz verwerfen noch akzeptieren konnte.
Doch was auch immer dieser Fremde gewollt hatte, er war noch nicht bereit, sich auf das Unbekannte einzulassen.
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Jetzt durftet ihr auch meinen Lieblingscharakter kennenlernen auch wenn er nicht der Hauptcharakter ist :)
Achja wenn jemand Ideen für Kapitelüberschriften hat immer her damit :)
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