23 | you're too late
An diesem Abend schien die Sonne nicht. Den ganzen Tag über war die Luft schon schwül und elektrisch aufgeladen gewesen, als würde das Wetter nur auf den Wolkenbruch hinarbeiten. Während des Abendessens war es dann soweit.
Hoseok war beim ersten Donnern schon unmerklich zusammengezuckt, hatte es allerdings galant überspielt. Als es jedoch auch dann nicht aufhörte, als wir vom Abendessen über die Wiese durch den Regen zu den Wohnblöcken liefen, fing ich langsam an mir Sorgen zu machen.
Mittlerweile wusste ich zwar, wo die Bibliothek lag. Wenn ich allerdings jeden einzelnen Moment noch einmal durchlebte, den ich mit Taehyung hatte, war die Vorstellung einen Abend mit ihm dort zu verbringen nicht sonderlich reizvoll. Zumal das Gewitter sich von Sekunde zu Sekunde zuzuspitzen schien. Und Hoseok von Minute zu Minute unruhiger wurde. Ihn darauf anzusprechen allerdings, wäre zwecklos gewesen.
Ich benutzte die Ausrede, mir Bücher aus der Bibliothek ausleihen zu wollen und überließ ihn sich selbst.
Die Bibliothek lag ihm rechten Flügel des zweiten Unterrichtsgebäudes. Einfach zu finden, wenn man wusste wo es war.
Die Regale stapelten sich gefühlt bis unter die Decke und der Boden war mit einem blauen Teppich ausgelegt, der meine Schritte etwas abdämpfte. Gleich im Vorraum, neben dem Tresen und der Rückgabe standen ein paar Tische, allerdings entdeckte ich nur ein Mädchen, dass in ihre Hausaufgaben vertieft war.
Wie zu erwarten.
Es war Samstagabend.
Es roch nach Staub und alten Büchern und irgendwie hatte ich das Gefühl, würde jemand hinter dem Tresen stehen, würde der mit pingeliger Genauigkeit darauf achten, dass ich keinen Mucks von mir gab. Als wäre hier irgendetwas besonderes, außer eine ganze Menge Papier.
Taehyung saß nicht im Vorraum und ich fand ihn auch nur durch Zufall. Abends war keine genaue Zeitangabe, also beschloss ich mich ein wenig in der Bibliothek umzusehen, in der Hoffnung auf etwas interessantes zu stoßen (haha). Alles was ich wissen musste, fand man im Internet und der Mensch, der sich durch Bücher fraß, als würde es um Leben und Tod gehen, war ich nun wirklich nicht.
Taehyung jedenfalls entdeckte ich schon in der dritten Reihe, am Ende. Ein weiterer Tisch war dort hingestellt worden und ein hohes Fenster sollte am Tag wohl Sonnenlicht schenken. Jetzt konnte man dadurch nur regnerische Dunkelheit erkennen und die Bäume an den Seiten des Gebäudes, die vom Wind hin und her gerissen wurden, als würde dieser versuchen sie zu entwurzeln. Regentropfen peitschten gegen die Windscheibe und Blitze zuckten am Himmel. Er saß auf dem Fensterbrett und starrte hinaus.
Ich räusperte mich, die Chemiesachen dicht an mich gepresst. Irgendwie sah er nicht so aus, als würde er meine Anwesenheit gerade gebrauchen. Vielleicht hatte er es nicht einmal ernst gemeint.
Taehyungs Blick war leer, als er sich zu mir drehte und ich war gerade versucht wieder umzudrehen und zurückzulaufen, als er den Mund öffnete und in gedämpfter Tonlage anfing zu sprechen.
„Du bist zu spät."
„Wir hatten keine Zeit ausge-..."
Er schüttelte den Kopf und ich verstummte sofort, bereute es jedoch augenblicklich. Was ließ ich mich eigentlich immer so herumkommandieren? Erst Hoseok und jetzt ein Kerl, der nicht verhindert hatte, dass ich - dank Hoseoks Pillen nur bis Donnerstag - aussah, wie ein entstellter Frosch?
Mit finsterem Blick knallte ich meinen Block und Hefter auf den Tisch, zog einen Stuhl nach vorne und ließ mich darauf fallen. Taehyung saß zwar noch immer auf der Fensterbank und somit etwa fünfzig Zentimeter über mir, aber ich hoffte, dass mein trotziger Blick ausreichte, um mir genügend Respekt zu verschaffen.
„Wobei genau soll ich dir eigentlich helfen?", fragte er und betrachtete seine Finger.
„Bei so ziemlich allem?"
„Reicht es auch, wenn ich einfach deine Hausaufgaben mache?"
„Kommt drauf an. Hast du Bock mir das einmal zu erklären oder das ganze Jahr über Extraarbeiten zu machen?"
Taehyung verstummte, sah noch ein letztes Mal aus dem Fenster und ließ sich anschließend von seinem Sitzplatz heruntergleiten.
„Du bist nicht so hirnverbrannt, wie du aussiehst", murmelte er und zog einen Stuhl neben mich. Ich wollte wegrutschten, aber mein Stolz verhinderte es.
„Was weißt du denn noch aus deinem letzten Schuljahr?"
Taehyung war gut im Erklären. Er hatte einen Kugelschreiber mit fünf verschiedenen Farben und benutzte sie alle, um mir den Sinn hinter Strukturformeln und Reaktionsgleichungen zu erklären. Ab und zu erwischte ich ihn sogar dabei, wie er zufrieden nickte, wenn ich etwas zufälligerweise richtig gemacht hatte, die meiste Zeit allerdings, sah er mich so verständnislos an, dass ich selbst an meinen Fähigkeiten zu zweifeln begann.
Irgendwann schrieb er mir mehrere Reaktionsgleichungen auf, mit Stoffen von denen ich noch nie ein Wort gehört hatte, die ich lösen sollte.
Die Ersten waren noch relativ einfach, aber als ich bei der fünften angekommen war und seit gefühlten drei Minuten darüber saß und so tat, als würde ich versuchen sie zu lösen, beugte Taehyung sich wieder vor und sah auf meine kläglichen Bleistiftkritzeleien am Rand des Blattes. Der neutrale Geruch eines Parfüms stieg mir in die Nase.
Für einen Moment besah er sich meine Notizen und mein Herz verkrampfte sich schon, bei der nächsten Beleidigung, die ich vermutlich gleich einstecken würde. Doch da kam nichts.
Taehyung lehnte sich nur entspannt wieder zurück und holte tief Luft.
„Wissen deine Freunde eigentlich davon?"
„Von was?"
„Dass ich dir Nachhilfe gebe..."
Ich schluckte schwer und schüttelte den Kopf. Ich wusste zwar nicht warum, aber irgendetwas sagte mir, dass es keine kluge Idee war Hoseok Bescheid zu geben, dass ich mir von dem Jungen helfen ließ, der mich verprügeln würde, würde jemand anderes mit dem Finger schnipsen. Später kam er noch auf irgendwelche Schnapsideen, die dann erneut auf meine Kosten gehen würden.
Taehyung nickte nur. Auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Kein Schönes.
„Du hast noch eine Menge zu lernen, Jeon. Lügen steht an erster Stelle."
„Ich lüge nicht."
„Du musst mir nichts vormachen. Ich rieche einen Frischling zweihundert Meter gegen den Wind."
In meinem Bauch verkrampfte sich etwas.
„Ich lüge nicht. Ich will nur Nachhilfe nehmen, damit mein Vater nicht endgültig denkt, ich wäre ein hoffnungsloser Fall."
Vor meinem inneren Augen blitzte sein Gesichtsausdruck auf, als ich ihm erklärt hatte, dass keiner meiner Freunde zu meinem Geburtstag kommen würde und das nicht daran lag, dass sie schon etwas besseres zu tun hatten.
Taehyung hatte innegehalten.
„Würdest du es Hoseok sagen?"
„Was?"
„Dass ich dir Nachhilfe gebe..."
Die Frage warf mich aus dem Konzept. Irgendetwas lag in seinem Unterton.
„Oder hast du Schiss vor ihm? Vor seiner Reaktion, wenn er rausfindet, dass du dich für Chemie mit jemandem zusammentust, der ihn fast von der Schule geworfen hätte."
„Hast du?"
„Nicht ich persönlich. Ich mach mir doch nicht die Hände schmutzig für so einen Dreckskerl", lachte Taehyung und schüttelte den Kopf, als würde er in schönen Erinnerungen schwelgen. „Anderes Thema. Du weichst meiner Frage aus."
Ich wusste, er wollte mich provozieren. Der Zynismus in seinem Unterton, das anstachelnde Funkeln in seinen Augen.
„Ich hab keine Angst vor Hoseok. Er ist mein Freund." Meine Stimme klang nicht so fest, wie ich es gerne hätte und obwohl ich wusste, dass ich es besser hätte lassen sollen, redete ich weiter. „Und wo wir schon dabei sind, ich hab auch keine Angst vor dir. Egal, wie sehr du dieses Gesicht ziehst, das... vermutlich überheblich wirken soll."
Für einen Moment war es still in der Bibliothek. Ich erinnerte mich an das Mädchen, dass zwei Reihen weiter womöglich noch immer an ihrem Tisch saß und alles mitbekam.
Dann brach Taehyung in Lachen aus. Von weiter weg könnte man meinen, es wäre herzlich, doch je näher man herankam, desto besser konnte man den Spott in seiner tiefen Stimme hören. Und uns trennten nicht einmal fünfzig Zentimeter voneinander.
„Du bist lustig. Fest entschlossen, weil du denkst, der Weg hinein führt nie wieder heraus." Er zog mir das Blatt mit seinen Aufgaben weg und stand wieder auf, um zurück zu seinem Platz am Fenster zu gehen. „Wir sind fertig. Nächste Woche hier um die selbe Zeit."
„Aber ich bin nicht einmal bei der Hälfte-..."
„Wir sehen uns, Jeon."
Ich wollte etwas erwidern. Etwas Freches, Patziges, das diesem Jungen bewies, wie sehr mich seine Überheblichkeit ankotzte. Anfangs war ich noch überzeugt von dieser Idee, aber Taehyung war und blieb einfacher zu durchschauen, als ich es erwartet hätte; er dachte, ich wäre schwach und hätte keine Ahnung, von dem, was sich hier abspielte. Er dachte, ich wüsste nicht, dass er diese Maschen aufzog, um mich zu provozieren. Und er dachte, er würde genug Menschenkenntnisse besitzen, um die Tiefen meiner Gedanken umgraben zu können.
Vermutlich war es das, warum ich mir nur wortlos meine Sachen schnappte und aus der Bibliothek stürmte. Weil er mit diesem letzten Punkt sauberer ins Schwarze getroffen hatte, als er vermutlich ahnte.
Januar ist fast vorbei und ich merke, dass der gute Start ins Jahr vorbei ist...
♡
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