Kapitel 6
Güstrow
Mittwoch
Eine zu lange Nacht
Eine gewisse Enttäuschung über die aktuelle Entwicklung der Lage und die bestehende Situation hielt sich bei Frank Hartung in Grenzen. Es war mittlerweile kurz vor 22:00 Uhr, der Schneefall hatte nachgelassen, es war nur eine Strecke von gut einem Kilometer bis zur Schule und Unterkunft. Und er befand sich in sehr attraktiver, wenn auch enttäuschter und sehr wortkarger weiblicher Gesellschaft. Nach Beurteilung der aktuellen Gesamtlage noch gute, erträgliche Bedingungen.
Wenn sich Frank Hartung als normaler und bei diesen Witterungsbedingungen vorsichtiger Fußgänger jetzt gleich auf die Socken machte, konnte er in spätestens einer halben Stunde zurück in seinem Zimmer sein, konnte seine Maileingänge dort prüfen, konnte die Kälte und Unannehmlichkeiten der Außenwelt durch eine warme Dusche in seiner Unterkunft abweisen.
Wohin sein Gegenüber- die junge Frau Ina- noch musste, um auch nach Hause zu kommen, dass wusste Frank zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
„Also ich mache mich jetzt auf den Weg zurück zur Schule. Ich weiß ja nicht genau, wo Du so wohnst, aber wenn es die gleiche Richtung ist ....?"
Mit einer als höflich gedachten Handbewegung deute Frank an Ina gerichtet an, dass Beide den Weg gemeinsam gehen könnten.
Ina begann zu realisieren, dass ihr 'Fröschli' mit den zwei Insassen nicht mehr zurück kommen würde. Sie setzte sich mit den ersten Schritten in Richtung Stadtmitte in Bewegung. Dennoch hielt sie nach einigen gelaufenen Metern noch einmal kurz inne, um in Richtung der verschwundenen Rücklichter des Fahrzeuges zu schauen. Dann ging sie weiter. Ina bedachte Frank Hartung mit einem abschätzenden Blick.
Vielleicht fragte sie sich selbst grade, wie ein hübsches, junges Mädchen wie sie, sich mit einem alten Knacker wie Frank auf einer nächtlichen Straße wiederfinden konnte. Vielleicht fragte sie sich selbst grade, ob sie nunmehr Frank als Begleiter durch die Nacht akzeptieren konnte. Vielleicht gab ihm die Blondine durch den abschätzenden Blick zu verstehen, dass auch Frank Hartung wohl Schuld an der aktuellen Situation sein könnte. Vielleicht? Vielleicht?
„Schau mich bitte nicht an, als sei ich an der Situation nun Schuld. Ich bin –wie Du- Opfer der Umstände. OK?" Frank hatte die Absicht, durch diesen Einwand gleich ein Zeichen zu setzen. Ein Zeichen dahin, dass er als Randfigur des soeben Geschehenen wohl am wenigsten für die Ereignisabläufe konnte. Er hatte zwar aus Höflichkeit oder unerklärbarem Grund dem Kreis von Torsten Lobmann und den zwei jungen Frauen in der Gaststube beigewohnt, aber hoffte auch nur auf eine Rückfahrgelegenheit zur Schule. Auch Frank fand diese Entwicklung der Ereignisse unangenehm, fast schon peinlich für sich selbst.
Inas Blick senkte sich auf den Fußweg.
„So etwas ist mir ja echt noch nie passiert!"
Frank glaubte ihr. Niemand würde ein so attraktives Mädchen- Frank schätzte das Alter von Ina auf Anfang bis Mitte zwanzig- einfach so stehen lassen.
Bei ihm selbst war das eventuell schon anders.
Sie, diese Ina, war bestimmt ein Mensch, welche sehr leicht Kontakt und Anschluss fand, natürlich nur, so sie dies zuließ. Sie war bestimmt ein wesentlicher Eckpfeiler der sogenannten Spaß- Generation. Bestimmt war sie oft unterwegs, wollte Leute kennen lernen, so viel als möglich Freundschaften zum Kommunizieren haben und sie würde diese Kontakte auch mit festen Willen pflegen. Ihre Freunde würden dann auch sicherlich dieser Spaß- Generation angehören, alle würden stetig umherkreisen auf der Suche nach Ablenkungen vom Alltag, auf der Suche nach Ereignissen, welche die Langeweile vertrieben. Und auf dieser Suche würden sie wieder neue Menschen kennen lernen, und so weiter. Inas Leben würde sich sicherlich überall dort abspielen, wo eine Party ist, Spaß oder Tanz, keinesfalls in den langweiligen Familienstrukturen.
Frank Hartung hingegen war nicht mehr so freizügig und ungezwungen. Er war schon skeptischer zu seiner Umwelt und ließ es nur unter Vorbehalten und argwöhnischen Prüfungen zu, dass neue Personen in seinen begrenzten Dunstkreis von Freunden kamen. Seine Freunde beschränkten sich zum Großteil auf Arbeitskollegen, Sportfreunde vom Volleyball oder andere Eltern, deren Kinder sich im gleichen Alter, wie seine Kinder befanden und denen man immer wieder auf Kindersachenbörsen, auf Elternversammlungen, in der Musikschule oder dem Babyschwimmen begegnet war und welche man seither in verschiedener Kontakttiefe und Kontaktbeständigkeit kannte. Sein Leben ist dort, wo seine Familie, seine Arbeit oder seine wenigen Hobbys sind, also zum Großteil zu Hause, in der Arbeitswelt, beim Volleyball und im Garten oder Wohnumfeld.
„Wollen wir schauen, ob wir ein Taxi bekommen? Oder wollen wir laufen?" Frank Hartung wollte eine Alternative anbieten.
„Ach wer weiß, wie lange es hier dauert, ein Taxi zu finden." antwortete Ina. „Es ist nicht so weit- dafür wäre ein Taxi auch zu teuer."
Ja, dass mit den hohen Taxi- Kosten hatte sich Frank auch schon so gedacht, jedoch aus Höflichkeit nicht ausgesprochen. Diese hätte man auch teilen können. Nun ja, also zurück laufen.
„Ist mir recht." sagte Frank daher.
Sie gingen also weiter.
„Ich wohne in der Nähe der Schule, gute 300 Meter entfernt in der 'Straße der DSF'." sagte Ina.
Frank Hartung hatte keine Ahnung, wo diese 'Straße der DSF' in dieser Stadt ist.
Möglicherweise ging Ina dieser Fakt auch auf, denn sie fügte nach kurzer Zeit des Weges hinzu: „Das ist so ein gebogener Straßenzug mit einer Menge von Altneubauten. Plattenbau also. Kann man von der Schule sehen."
„Alles klar." Sagte Frank, jedoch wusste er immer noch nicht genau, wo sie da hinmusste.
Nach mehreren Straßenbiegungen drängte Ina den wortkargen Mann im Gehen in Richtung Straße vom Gehweg ab.
„Dort geht es am Dom vorbei. Ist etwas kürzer." sagte Sie.
„Kürzer ist gut."
Sie wechselten die Straßenseite, gingen dann nach rechts in eine weitere Straße hinein.
Die Beleuchtung war hier nicht so gut, wie bis eben. Jedoch der Schnee hellte die Dunkelheit auch hier ausreichend auf. Im Schnee ließen sich Spuren und zum Teil bereits frei geräumte Wege erkennen.
Um die Stille der Nacht zu unterbrechen, wollte nun Frank Hartung einen kommunikativen Vorstoß wagen, in der Hoffnung, dass Ina darauf einging. Aber was wählt man für ein Thema, um mit der jungen Frau zu reden?
„Und? Du bist im Studium? Wie weit bist DU da schon?" fragte Frank.
„Abschlussstudium. Wir sind jetzt mit den schriftlichen Klausuren durch. Wir haben es bald geschafft."
„Ist Manuela in deiner Studiengruppe?"
Ina blickte kurz über den Kragen ihrer schwarzen Thermojacke hinweg. Sie war fest entschlossen, ihre Lippen hinter dem nun hochgestellten kleinen Kragenansatz zu verbergen, versuchte auch ihre Nase dort mit unter zu bringen. Frank schaute zu ihr, so dass ihre Blicke sich trafen. Ina hatte die spärlich vorhandenen Augenbrauen grimmig hochgezogen. Hatte er etwas Falsches gefragt?
„Na was denn? Sie ist doch bestimmt deine Freundin?"
Offenbar überlegte Ina. Vielleicht, ob sie den ihr fremden Mann so viel aus ihrem Leben preisgeben wollte.
Nach kurzer Zeit des Schweigens hatte sie diese Überlegungen beendet, antwortete dann nach mehreren Schritten gemeinsamen Weges.
„Ja, Manu ist bei mir in der Studiengruppe. Meine Freundin ist sie auch." sagte sie nun.
„Zumindest bis sie eben mit 'Fröschli' wegfuhr?" Frank liebte es, sarkastische Bemerkungen passend zu platzieren.
„Ha, ha. Wie witzig."
Dann ging es schweigend weiter.
Frank stellte nur für sich fest, dass Ina leider nicht für ironisch oder sarkastisch gestrickte Späße zu haben war. Naja- dachte er weiter- wen wundert es in Anbetracht des Geschehenen.
Beide passierten nun zu Fuß eine Kirche, die wohl den 'Dom' darstellen sollte.
Ina stellte hinter dem Kragen versteckt eine Frage in Franks Richtung. Obwohl er ihre Frage in Kühle und Stille der Nacht hätte hören müssen, war Frank jedoch irgendwie in Gedanken verloren und beantwortete die verlorene Frage suchend mit einer Gegenfrage.
„Was?"
„Oh, Mann. Ich habe gefragt, was der Torsten für ein Typ ist? Woher kennst Du den Torsten denn?"
„Das ist eine gute Frage." entgegnete Frank.
„Na? Und?"
Ina erwartete wohl eine Antwort. Frank entschied sich für den parlamentarischen Weg einer Gegenfrage.
„Soll ich ehrlich sein, oder soll ich ihm schmeicheln?"
Frank schmunzelte als er dies sagte.
Ina sah ihn hierfür über den Kragen hinweg an. Diese Nachfrage hatte ihr wohl gefallen. Auf keinen Fall hatte sie mit einer solchen Rückfrage von Frank gerechnet. Wahrscheinlich dachte sie, Frank würde dem Torsten Lobmann sofort ein Pracht- Zeugnis geben und stellt Torsten sofort als schillernde Lichtgestalt dar.
„Ehrlich wäre schon nicht schlecht. Der Typ hat meiner besten Freundin im Affenzahn den Kopf verdreht und ist grade mit ihr auf und davon. Und dies in meinem Auto!" sagte Sie dann nach kurzem Überlegen.
„Tja, wo fange ich da an?"
Frank Hartung machte es spannend, überlegte, ob er ihr die ganze Wahrheit zumuten sollte. Aber diese Rückweg- Gemeinschaft mit Ina bewegte Frank auch dazu, offener sein zu wollen.
„Naja, Torsten war seinerzeit in meiner Studiengruppe. Daher kennen wir uns."
„Ach echt?"
„Ja. Und in Anbetracht der jetzigen Situation ist es wohl auch Zeit, dass ich klarstelle, dass Torsten kein Kumpel von mir war oder ist. Torsten hat eigentlich nur einen Freund- sich selbst eben. Naja, zumindest war es seinerzeit so."
„Oh, Mann. Mir schwant nichts Gutes."
Ina sah besorgt aus. Wenn sie sich jetzt um Manuela Sorgen machte, dann schien dies sicherlich irgendwo begründet. Frank dachte an Torsten Lobmann und dessen Gebaren als Schürzenjäger, welches er heute gezeigt hatte
„Die ..." Frank war gleich klar, dass Ina nun Manuela meinte, „... fällt immer auf solche Typen rein. Die Kerle schmieren ihr Honig ums Maul, zirpen wie die Kanarienvögel, reden in den schönsten Tönen und Manu ist gleich hin und weg."
„Ja?"
„Na klar. Da war mal so ein Typ wie dein Kumpel, sorry- dein Bekannter, der war zwei Studienjahrgänge über uns und ist auch jetzt schon fertig, der hat Manu so den Kopf verdreht, dass Manuela alles für ihn getan hätte. Ende vom Lied- er ging raus auf irgendeine Dienststelle, Manu flennt und irgendwann hört sie dann, dass der Typ schon verlobt ist und schon im Studium Vater geworden war mit seiner Ischen daheim. Oh, Gott." Ina wirkte wütend über diese Rückblende in Manuelas Gefühlsleben.
„Wann war denn das?"
„Letzter Frühling."
Ina kramte in ihrer Jackentasche und holte eine Packung Kaubonbon hervor, zeigte Frank die Packung.
„Willst Du?"
„Nein danke."
Gekonnt angelte sich Ina einen Bonbon heraus, wickelte ihn aus und schob den Bonbon hinter den hochgestellten Kragen.
Beide gingen weiter, waren nun auf Höhe des Schloss Güstrow. Das Schloss war spärlich angeleuchtet, es gefiel Frank. In den letzten Besuchen mit Georg in der Stadt war er schon einmal daran vorbei gefahren und eigentlich hatte Frank sich schon vor dem Lehrgang selbst das Ziel gesetzt, es einmal zu besuchen. Leider war er bislang nicht dazu gekommen. Nun sah Frank Hartung an Ina vorbei zum Schloss hinüber. Rechts am Schloss zeichnete sich ein schöner Schlossgarten in nächtlichen und verschneiten Umrissen ab.
Ina hatte wohl das Interesse von Frank Hartung am Schloss wahrgenommen.
Nun war für Frank jedoch wichtiger, schnell nach Hause in die Unterkunft zu kommen und wenn es die Uhrzeit noch zu lies, Ellen noch einmal vom Zimmer anzurufen. Jetzt hätte er dies auch machen können, aber Frank dachte sich, wenn seine Frau Ellen eine weibliche Stimme im Hintergrund gehört hätte, wären die weiteren Dialoge nicht so lustig geworden.
Und nun meldete sich auch schon wieder diese weibliche Stimme von Ina.
„Im Sommer ist es hier viel schöner. Da kann man sich in den Park setzen, lesen, Eis essen. Die Güstrower pflegen das alles richtig gut, wegen der Touristen und so. Ist dann echt gemütlich hier." sagte sie.
„Glaub ich gern."
„Ja, jetzt sieht es ja durch den vielen Schnee nicht so sonderlich einladend aus, oder?"
„Doch, irgendwie schon."
„Da willst du aber jetzt nicht hin, oder?"
„Nein."
Beide schwiegen wieder, gingen weiter.
Nach Passieren des 'Schlossgarten' meldete sich Ina wieder.
„Die Hälfte der Strecke haben wir."
„Bergfest?"
„Ja, so zu sagen."
Frank war dieser Rückweg mit der jungen Ina irgendwie peinlich. Alles wirkte so gezwungen, weil dieser Rückweg durch das 'Intermezzo' am Wagen sowohl Ina als auch ihm selbst auf diktiert worden war.
„Wo kommst Du eigentlich her?" fragte Ina.
Oh, dachte Frank. Interesse an persönlichen Informationen? Ist sicherlich der peinlichen Lage geschuldet.
„Aus Stralsund. Und Du?"
„Prenzlau."
„Auch nicht grade der nächste Weg!"
„Stimmt. Manu ist aus einem Nest bei Oranienburg. Das ist nördlich von Berlin."
Ja- dachte sich Frank Hartung- ich weiß schon wo Oranienburg liegt. Daher antwortete er also erstmal nicht auf diese geografische Einordnung.
Ina schien sich gern mitteilen zu wollen, sie redete weiter.
„Sie hat es wohl dort auch versucht, aber irgendwie hat es in Berlin und Brandenburg für sie nicht geklappt bei der Polizei."
„Ach so? Ich dachte, die können dort in Berlin jede Menge Leute gebrauchen?"
„Brauchen sie auch, aber wohl keine Manu."
Ina blickte Frank Hartung vielsagend an, vielleicht lächelte sie auch grade ein wenig, weil sie über ihre Blondinen- Schwester etwas Dampf ablassen konnte.
Frank beließ es dabei, wenn Ina sich mit Manu auseinandersetzte. Wenn er jetzt etwas Ehrliches zum Thema Manu oder Blondine aus einem Dorf bei Oranienbaum gesagt hätte, hätte es ihm Ina vielleicht schon im nächsten Moment des Rückweges vorgehalten oder mit barer Münze heimgezahlt. Also verhielt er sich taktisch klug, wog kurz die Alternativen der Konversation mit der fremden jungen Frau ab, ließ das Thema Manuela und Blondinen lieber außen vor.
„Und Du?" fragte er dann.
„Was soll mit mir sein?"
Anhand der Reaktion wurde Frank Hartung klar, dass Ina ihm nichts Persönliches von sich sagen wollte. Daher lenkte er das Thema zurück auf das Studium.
„Wie waren die Klausuren?"
„Lief alles einiger Maßen. Ich denke, ich bin ganz gut durchgekommen."
Jetzt im Nachhinein stellte Frank für sich fest, dass er sicherlich mit seiner Frage so geklungen haben muss, wie Inas Vater. Naja, zwischen Ina und ihm lagen auch bestimmt gute 15 Jahre Altersunterschied.
Frank Hartung hatte sich ganz gut gehalten für seine 38 Jahre. Aber solche Fragen stellen nur die richtigen Erwachsenen- oder eben Eltern. Die Themen des Dialoges schienen damit aus der Sicht von Frank vorerst ausgereizt zu sein.
Eigentlich ja schade, denn Ina schien ganz nett zu sein.
Beide bahnten sich weiter den Weg durch die eiskalte Nacht, den Schnee.
Frank nahm kurz seine Hände aus den Taschen, um sich die Bommelmütze tiefer in die Stirn zu ziehen. Irgendwie gelang ihm dies nicht. Er stoppte deshalb seine Fortbewegung, nahm die Mütze ab, schlug sie einige Male gegen die Hose um den Schnee und die Nässe loszuwerden.
Auch Ina hielt kurz an und beobachtete Frank bei diesem Prozedere. Kurz wiegte sich ihr Kopf im Kragen hin und her, als wenn sie ein Knacken der Nackenknochen provozieren wollte oder solch ein Knacken erwartete.
Frank indessen krempelte den Rand der Mütze neu, setzte die Mütze wieder auf und justierte die Mütze durch Drehungen hin und her, bis er wieder mit dem Sitz seiner Mütze zufrieden war.
Dann nahm er wieder Schritt auf. Ina gesellte sich neben ihn straßenseitig.
„Du bist verheiratet?" fragte sie. „ Hab ich da grad einen Ring gesehen?"
„Ja, seit 4 Jahren."
Oberpeinliche Situation.
„Und?"
„Was und?" jetzt war es wohl an Frank, diese Gegenfrage zu stellen, um weitere Nachfragen abzublocken. Er fühlte eine unangenehme Schwere in der Luft schweben.
„Naja, bist du glücklich verheiratet?"
Frank Hartung fragte sich, warum Ina dies wissen wollte- oder wissen musste.
Zudem grub er grade jetzt in seinen Erinnerungen, wann er das letzte Mal mit einer jungen, hübschen Frau ein persönliches Gespräch- also ohne Bezug zur Arbeit oder andere Inhalte- geführt hatte. Damit schied dann auch die eine Praktikantin bei Frank auf Arbeit aus, die vor 3 Jahren einmal -als sein Zimmerkollege Manfred im Urlaub war- dessen Platz belegte. Es war also schon lange her und auch nicht mehr kognitiv nachvollziehbar.
Um Ina nun nicht noch länger durch sein Grübeln zu verunsichern, schob er alle Gedanken hinfort.
„Ja, ich denke doch, dass wir glücklich verheiratet sind."
„Und Kinder?"
„Ja, zwei."
Frank empfand diese Nachfragerei als immer peinlicher. Bestimmt wurde er sogar rot. Sicherlich würde es Ina auffallen. Fast hätte er rausgeplatzt 'Warum fragst Du, willst du eines abhaben?', aber diesen Spaß schenkte er sich lieber. Er ging für sich eigentlich sofort davon aus, dass Inas Kinderplanung noch in weiter Ferne stand. So entschied Frank, die Gegenfrage zu stellen, um Ina nunmehr in Bedrängnis zu bringen und ihr den Stafettenstab der Peinlichkeit zurück zu geben.
„Und Du? Verheiratet? Kinder?"
Insgeheim kannte Frank die Antwort, war jedoch verwundert, in welcher Art sie ihm offeriert wurde.
„Nöööh."
Ina lächelte- zwar durch den Jackenkragen nicht zu sehen- aber von der Mimik zu schließen. Ihre Augen strahlten Frank dabei an. Eine nasse, blonde Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht.
'Hallo? Welche Wendung könnte denn unser Gespräch jetzt erhalten? Kokettierst Du grade mit mir?', dachte Frank so bei sich.
Als kleiner Analytiker versuchte er aus den gewonnenen Informationen den Bestand zu erfassen, machte seine Bestandsaufnahme dessen, was tatsächlich vorhanden war. Quasi eine kleine, klassisch erforderliche Inventur. Mit den Händen in den Manteltaschen zählte Frank durch, was tatsächlich als Informationen da war. Also, wir hatten eine junge, sehr hübsche Frau. Wir hatten zudem einen bodenständigen- gefühlt im Moment auch jungen- Mann. Dazwischen war ein Draht gespannt, der wohl Beide im Moment verband- dieser Draht war wohl sehr dünn, aber offenbar vorhanden und wurde mit in die 'Ur- Inventarliste' aufgenommen. Dazu kam ein Frustfaktor- schwer zu bewerten, aber auf jeden Fall vorhanden. Eine Heimweg- Gemeinschaft rundete das Inventar ab. Zack, gedanklich unsere beiden Unterschriften am heutigen Tag darunter gesetzt- das erste Erfassungsprotokoll der Inventur war fertig. Aber was nun?
Während Frank so in der Tasche die Einzelposten durchzählte, hatte er erneut zu Ina hinübergesehen.
Und erneut sah Ina zu ihm zurück, in der gleichen, lächelnden Art und Weise hinter dem Kragen ihrer dicken Winterjacke.
Aus unerfindlichen Gründen gefiel Frank dies. Er fühlte sich als Mann in diesem Moment sehr stark beachtet und sehr geschmeichelt.
Ina blickte nun nach kurzem Blick auf den verschneiten Weg zum Dritten Mal zu Frank herüber, lächelte dem Anschein nach erneut. Und Frank lächelte von ihrer Art angesteckt zurück, senkte seinen Blick dann auf den Fußweg.
Wäre Ellen- seine Frau, oder schlimmer noch seine Schwiegermutter- Zeuge der Situation geworden, hätte es sicherlich einen Klaps auf den Hinterkopf gegeben, denn so etwas soll ja volksmundartlich das Denkvermögen erhöhen.
Im Moment jedoch war niemand mehr hier auf den Straßen unterwegs.
Zudem schien sein Denkvermögen sich langsam auch verabschieden zu wollen und nur noch primitive, animalisch strukturierte Gehirnwindungen schienen zu arbeiten – nach langer Zeit wieder einmal.
Frank Hartung empfand Inas Verhalten irgendwie wirklich schon fast als kokett. Ja, die liebe Einbildung ist halt auch eine Bildung, dachte er dann wieder.
Es war an der Zeit, zurück in einen geistigen und verbalen Dialog zu finden, die Sache etwas auszubremsen.
„Aber du hast doch sicherlich einen Freund?"
„Nöööh."
Ach, Mist. Das war eine Sackgasse.
„Aber ich hatte schon einmal eine feste Beziehung, hat 4 Jahre gehalten. Wurde dann eine Fernbeziehung- ja und dann war es irgendwann aus." sagte Ina.
Aha, am Ende der Sackgasse ist eine Tür. Es wunderte Frank, dass Ina von sich diese doch persönlichen Sachen ihm nun einfach preis gab. Er hob seinen Blick vom Gehweg, sah zu Ina hinüber. Sie lächelte wieder.
Beide kamen einer größeren Kreuzung sehr nahe. Rechts ging es zur Schule und auch zu seiner Unterkunft.
„Wenn wir gleich bei der Ampel hinüber gehen könnten, wäre es kürzer- nur für den Fall, Du bist ein besserer Gentleman als dein Kumpel und bringst mich wenigstens noch zur Tür nach Hause." Sagte Ina. „Ist auch wirklich nur ein kleiner Umweg." Sie lächelte wieder.
„Naja, nach den Pleiten, Pech und Pannen die wir schon hatten, werde ich Dich -nur des Anstandes halber- bringen."
Frank lächelte zurück.
Es gibt so Momente, wo man sich wirklich fragt, warum man nicht mehr rational handelt. So ein Moment war grade jetzt für Frank Hartung gekommen. Ihm schossen Gedankenläufe durch den Kopf: Warum sollte er Ina eigentlich bis zur Tür bringen, fragte er sich. Nur um bei der ihm eigentlich völlig fremden Ina als Gentlemen zu gelten oder als ein besserer Mensch als Torsten angesehen zu werden? Dafür gab es keinen rationalen Grund. Morgen kennen wir uns nicht mehr, spätestens ab Freitag bin ich weg- ab nach Hause zu Ellen und Familie.
Ina ging beschwingt – fast schon hüpfend- schneller, um an der Fußgängerampel den Knopf zu drücken. Frank trottete hinterher. Die Ampel zeigte 'grün', beide gingen hinüber auf die andere Straßenseite, dann nach rechts auf dem Gehweg.
Frank dachte an seine Sturm- und Drangzeit zurück. Eine solche Gelegenheit mit so schöner, ansehnlicher, weiblicher Begleitung hätte auch er bestimmt früher schamlos ausgenutzt- hätte versucht, wenigstens ihre Hand zu erfassen, oder sie sogar zu umarmen. Aber heute? Keine Versuche von dem alten Mann. Zu viele 'Wenn und Aber'! Zu viele Hemmnisse des Lebens, die so etwas Ungezwungenes auch nur im Ansatz befürwortet hätten.
Schweigend gingen beide weiter.
Frank sah ab und an von der Straße auf- zu Ina hinüber. Irgendwie trafen sich dann auch die Blicke der beiden Nachtwanderer mehrmalig, Ina lächelte jedes Mal hinter ihrem Kragen hervor, ihre Augen lachten und Frank lächelte jedes Mal zurück. Der Schnee fiel weiter- leicht beschwingt.
Irgendwann bog Ina nach links in einen Straßenzug ein. Die Straße wurde links und rechts von Neubaublöcken und Altneubauten flankiert. Diese Straße führte wieder von Unterkunft und Schule weg- Frank war klar, dass dies wohl der angekündigte 'kleine Umweg' sein musste. Er sah kurz auf die Uhr. Es war 22:30 Uhr. Noch eine christliche Zeit, er würde diesen kleinen Umweg noch verschmerzen können- zumal er sich auch in netter Gesellschaft befand.
Naja, also dann. Gleich ist diese peinliche Situation vorbei- das Leben- sein Leben- würde ihn zurück gewinnen und er würde morgen über alles lachen, außer über Torsten Lobmann. Ihn würde Frank in einer ruhigen Sekunde noch einmal Beiseite nehmen wollen, um ihm einige Worte des Unverständnisses über sein Betragen zu sagen. In welcher Art und Weise dies geschehen würde, wusste Frank jetzt noch nicht. Jedoch würde Frank dazu schon etwas einfallen. Auf keinen Fall würde er sich dazu bringen lassen wollen, über die Kumpelschiene Verständnis zu zeigen- dafür hatte Frank nach der heutigen Begebenheit einfach zuviel Schnee in den Nacken bekommen und hatte zu kalte Füße.
Frank sah zeitgleich mit Ina gemeinsam auf den Weg zurück. Irgendwo etwas weiter hinten parkte ein Auto in die Parkreihen ein, ein Lichtkegel erstarb mit einem Abstellen eines Motors.
Beide gingen weiter durch die nächtliche Kälte.
„Da vorn muss ich hin. Dort wohne ich mit Manu."
Die Straße zog sich im weiten Bogen weiter nach rechts herum und Ina deutete mit Händen in den Jackentaschen in eine wage Richtung und weit voraus.
„Ihr wohnt zusammen?"
„Ja, hat sich so ergeben. Finanziell ist das auch eine prima Lösung, denn wir teilen uns die Kosten. Es ist auch nur eine kleine Zwei- Zimmer- Wohnung."
„Und ist gemütlich." Fügte Frank nun Inas Beschreibung hinzu.
„Na, eigentlich
nicht so sonderlich, aber es geht so für uns."
„Also ist es weniger gemütlich?"
„Ich würde eher zweckorientiert dazu sagen.", erklärte Ina. „ Das Wohnzimmer ist mehr ein Kleinbüro, besonders jetzt, wo wir vor dem Abschluss stehen. Da sieht es schon ziemlich durcheinander aus. Außerdem müssen wir ja auch bald packen."
„Ach ja." Ich wagte nicht weiter zu fragen.
„So. Wir sind da."
Beide standen nun vor einem sanierten Altneubau an einem kurzen Weg zu einem Hauseingang.
Ina blickte Frank in diesem Moment kurz und freundlich an, danach wanderte ihr Blick zum Haus. Und ihr Blick war auf einmal nicht mehr so fröhlich, er verfinsterte sich schlagartig wieder.
„Oh, diese Schlange!" brach es aus Ina hervor.
„Was ist?"
„Na, sieh doch selbst! Die sind nirgendwohin gefahren. Von wegen- Kino. Nix mit 'pünktlich zu Beginn da sein wollen'? Die Zwei sind hierher gefahren!"
Ina zeigte auf das Haus.
Jetzt schon malte sich Frank Hartung in Angesicht der neuen Situation bildlich aus, dass dort im Haus irgendetwas vor sich ging, was Ina nun langsam ebenfalls zu erfassen schien.
Offenbar waren ihre Freundin und Mitbewohnerin Manuela und Torsten Lobmann wohl doch nicht so sehr darauf aus gewesen, eine Kinovorstellung zu sehen. Sie hatten sich wohl von Anfang an dazu abgesprochen, lieber hierher zu fahren. Dadurch hatten sie sich natürlich erheblichen Vorlauf für eine Vorstellung anderer Natur zu verschaffen. Sie wollten wohl Zeit für sich haben- Manuela und Torsten halt nur unter sich- Gäste und Zuschauer sicherlich unerwünscht und nicht gewollt.
Ina war sauer.
Sie klapperte mit dem Schlüsselbund an der Haustür.
Noch im Aufschließen begriffen, drehte sie sich kurz zu Frank Hartung herum und bat: „Bleibst Du bitte noch einen Moment? Nur falls es vielleicht unschön wird?"
„Ja, kann ich machen."
Ina verschwand im Hauseingang.
Obwohl Frank ein Flurlicht wahrnahm, konnte er sonst nicht viel sehen oder hören. Frank hoffte nur, dass die Angelegenheit sich jetzt doch noch klärt und nicht unschön- wie Ina es ausdrückte- endet. Falls es doch einen Eklat geben könnte, so hoffte er, dass jetzt nicht das große Geschrei losgehen würde, so mit Gebrüll auf dem Flur, mit lautem Gekeife und Haare ziehen.
Frank ging in Ruhe etwas vom Hauseingang zurück, blickte auf verschiedene Wohneinheiten. Wo sich jetzt ein Drama abspielen könnte, erschloss sich ihm jedoch von hier nicht. Auch blieb alles im Flur halbwegs ruhig. Das Flurlicht ging aus, wurde kurz darauf wieder angeschaltet.
Nach kurzer Zeit kam Ina aus der Haustür heraus.
Sie schaute kurz zu Frank herüber, machte eine Handbewegung, als wollte sie dadurch sagen: ,Einen kleinen Moment noch!'.
Dann blickte sie an der Außenwand des Hauses rechts hinauf.
Im zweiten Obergeschoss rechts öffnete sich ein kleines Fenster- Frank vermutete dort ein Badezimmer, wie es in der Einheitsbauweise dieser Gebäude üblich war. Nun wusste auch Frank, wo der 'Hort des Bösen' aus Inas Sicht war.
Manuela erschien mit durchwuschelter, blonder Haarpracht an dem sich öffneten Fenster.
Ina flüsterte deutlich wahrnehmbar: „Sag mal- habt ihr sie noch alle? Was soll Das denn?"
Die Antwort lag doch wohl auf der Hand!- dachte Frank Hartung bei sich- Torsten und Manuela allein in eurer gemeinsamen Wohnung- eine frisch verliebte Manuela und der liebe Torsten- zu dem Frank seine eigene Meinung hatte- bei ihr. Mehr braucht man da nicht sagen, liebe Ina. Rechne einfach eins und eins zusammen.
Frank selbst war dies alles hochpeinlich und dies schon wegen der ungewollten Situation.
Es konnte jetzt nur noch schlimmer werden.
„Mausi?" sagte Manuela leise, aber vernehmbar.
„Ja, wen hast Du denn erwartet?" fragte Ina. „Es wäre schon schön, wenn Du deinen Schlüssel drinnen abziehen würdest, dass ich rein kann in meine Wohnung!"
„Mausi? Bitte?"
„Was- Bitte. Könntest Du das mit dem Schlüssel mal schnell machen?"
Ina flüsterte immer noch.
Manuela macht „Pssst."
„Ja, und?"
Ina versuchte nachdrücklich zu sein.
Frank hingegen übte sich in der Rolle des passiven Beobachter der Situation, nahm jedoch war, dass Ina bildlich gesprochen vor Wut zu schäumen schien.
„Kannst du bitte noch einmal eine kleine Sekunde warten? Vielleicht geht ihr Zwei noch einmal eine kleine Runde? Ja? Bitte?" bat Manuela.
„Du spinnst wohl! Wir sind halb erfroren! Mach gefälligst auf!"
„Bitte Inchen. Nur eine kleine Runde- vielleicht eine Stunde, oder so?"
„Nein, mach jetzt auf!"
„Biiiitttteee! Du bist die Beste. Ich hab Dich lieb!" Mit diesen in die finstere und kalte Nacht hinaus gehauchten leisen Worten schloss sich das Fenster wieder.
Ina stand fassungslos vor dem Hauseingang. Ihr war grade die Hoffnung auf Zugang zur gemeinsamen Wohnung geraubt worden.
Das Fenster dort oben öffnete sich dann doch noch einmal kurz.
„Danke schön!" wurde von Manuela fast singend in die Kälte der Nacht hinaus gehaucht.
Dann schloss sich das Fenster erneut- dieses Mal wohl endgültig.
„Ich glaube das jetzt nicht!" sagte Ina und klingelte noch einmal an der Klingelleiste des Hauseinganges. Dann sah sieh wieder hinauf.
Nichts passierte mehr dort oben.
Von seinem Standort konnte Frank Hartung auch kein Licht in der Wohnung wahrnehmen.
„Oh Mann." Sagte Ina, blickte hilfesuchend zu anderen Wohnungen- wohl auch in Sorge, das dort vielleicht jemand Zeuge des kurzen Disputs geworden sein könnte.
Nun kam Ina nach diesem kurzem Wutausbruch zurück zu Franks Standort an der Straße- fort vom Eingang des Hauses.
„Tja, es gibt hier offensichtlich ein kleines Problem." sagte sie. „ Beide sind in der Wohnung- Manu hat ihren Schlüssel von Innen im Türschloss stecken gelassen – wahrscheinlich absichtlich, wie ich das hier sehe. Und ich komme dadurch nicht rein. Wie du leider erleben konntest, wurden wir wieder einmal in die Kälte geschickt. Zum zweiten Mal heute!"
„Und nun?", fragte Frank.
„Ja, ich weiß im Moment noch nicht so richtig, was ich machen soll."
„Ja." Frank konnte Ina keinen Tipp geben.
„Ich habe auch überlegt, ob ich mich drinnen auf die Treppe setzen soll und warten- habe aber Angst, dass ich nachher ausraste, wenn ich diesen Vogel Torsten oder Manu sehe- ich weiß auch nicht, wie lange Die sich dort 'verabschieden'!"
„Tja, Ina. Ich will dir ja nicht die Illusion rauben, aber wie 'Verabschiedung' sah Das nicht aus. Das sah für mich aus, wie... naja, du weißt schon, was ich sagen will." Dabei legte Frank eine ernste Mine auf und rollte mit den Augen, so als hätte er damit alles gesagt, was es zu wissen gilt.
Eigentlich wollte Frank noch hinzufügen: 'Willkommen im Klub der Ungewollten!', aber diesen Kommentarzusatz schenkte er sich, angesichts der vorliegenden Umstände und Inas deutlich anzusehender Rage.
Und Ina schien nun auch zu realisieren, dass es mit der 'Verabschiedung' noch dauern konnte- ein paar kleine Sekunden, eine halbe Stunde oder gar länger.
„Kannst du bitte so freundlich sein und mit mir noch eine Runde drehen? Ich hoffe ja, die Zwei dort oben beenden das bald!" fragte sie.
Schnee fiel weiter herab.
Frank sah kurz zurück zu der Wohnung im zweiten Geschoss rechts.
Dort tat sich nichts Erfassbares.
Frank Hartung war kalt- Ina war sicherlich genau so kalt.
Mädchen frieren ja soundso viel schneller als Jungs.
Seine Füße waren schon eiskalt und alles, was der Kälte ausgesetzt war ebenfalls. Frank dachte noch an die Wettervorhersage und das man dort Minus Sieben bis Minus zehn Grad geweissagt hatte.
Also in den Flur wollte Ina nicht- weder allein, noch mit Frank gemeinsam. Insgeheim verfluchte Frank den Torsten Lobmann. Seine Notgeilheit und Manuelas Naivität hatten ihm nun eine Suppe eingebrockt, welche ihm nicht schmeckte.
Ina sah erwartungsvoll und bittend in Frank Hartungs Augen.
Ach ja, ich musste ihr ja noch eine Antwort geben-dachte Frank.
Er nahm seine Hände aus den Jackentaschen und rieb sein Gesicht an den Wangen warm. Dann zog er seine durchnässte und schneebedeckte Bommelmütze herunter und klopfte diese wieder an der Hose ab. Erneut setzte Frank sie wieder auf und sagte dann- eingebunden in das finstere Gesamtgeschehen: „Naja, in der Hoffnung, dass sich bald ein Ende abzeichnet. Eine Runde! OK?"
„Ja. Super. Ist wirklich ganz toll lieb von dir." Ina schien deutlich erleichtert, nicht allein bleiben zu müssen.
Sie blickte noch einmal hinauf in Richtung der Wohnung.
Ob sie hoffte, dass Manuela noch hinter dem Fenster stand? Frank wusste es nicht.
Dennoch ballte Ina eine Faust in Richtung des Wohnhauses, machte vernehmbar: „Grrrrr!".
So gingen die Beiden die Straße weiter. Nach gut 30 Metern fand Ina dann auch ihr 'Fröschli' abgeparkt in der Reihe- ohne Kratzer. Wenigstens brauchte Ina nicht auch noch Zuspruch, weil Manuela ihr ein Autowrack hingestellt hatte.
Torsten Lobmann würde sicherlich mit der Entwicklung der Dinge im höchsten Maße zufrieden sein. Angebaggert- abgeschleppt- im Bett gelandet- Juhu. Ideale Ereignisverkettung für ihn.
Das ist schon genial, wenn man sich selbst nur der Nächste zu sein braucht, einem die Anderen so richtig egal sind.
Ina und Frank hingegen marschierten weiter- auf einem Abstellgleis- eine Runde herum um die Wohnung mit dem 'jungen Glück'.
Ina fand sich wieder: „Das ist doch echt das aller, aller Letzte!"
„Ja, ist es."
„Richtig schofelig."
„Ja." Frank konnte nur zustimmen.
„Ich bin schon völlig erfroren. So eine Ziege- da schiebt sie mich einfach ab. 'Bitteeee?', sagt sie. Das 'Inchen' und 'Mausi' kann sie sich echt schenken."
„Was denkst du? Wie lange könnte denn Das dort oben dauern?" fragte Frank nach.
„Keine Ahnung."
Erneut sah Frank auf die Uhr- 23:15 Uhr.
Oh Mann,- dachte er- ich bekomme wohl weniger Schlaf diese Nacht, als der Normalmensch so braucht. Morgen würde ich mit Sicherheit in den Seilen hängen und hoffen, dass der Tag schnell vorbei geht. Furchtbar. Alles nur, weil man mal eben in die Stadt geht, um einen Happen zu essen.
Aber wenn es ihm schon schlecht ging- Ina ging es noch elender.
Verraten von der Freundin.
Hinausgeworfen in die Kälte- egal, wie lange dies dauern würde. Sie hatte es hinnehmen müssen.
„Du kommst dir jetzt sicher vollkommen verraten und verkauft vor, was?" Frank Hartung brachte es gleich auf den Punkt.
„Oh, ja."
„Tut mir leid."
„Du kannst ja nichts dafür. Im Gegenteil- Du bist hier der einzigste Lichtblick für mich."
Ina sah traurig vor sich hin.
Schnee fiel weiter auf die ohnehin schon völlig durchnässten Haare. Obwohl ihr Gesicht hinter dem Kragen war, Stirn und Wangen waren schon rot vor Kälte.
Vielleicht kann ich Hoffnung verbreiten?- überlegte Frank.
„Manuela weiß ja jetzt, dass du hier draußen rumstapfst. Sie wird schon zusehen, dass du schnell ins Warme kannst."
„Wer das glaubt, wird selig."
Ina zückte ein Mobiltelefon aus der Tasche, schrieb in Windeseile eine Nachricht, deren Ausgang durch ein 'Ping' bestätigt wurde.
„Ach, das wird schon. Wirst du schon sehen."
Beide waren wieder an der Hauptstraße angekommen, an der die Schule und die Unterkunft lagen. Offenbar waren Ina und Frank einen größeren Kreis durch das Wohngebiet gegangen.
Wieder gingen sie diesen Kreis nach rechts weiter.
So mit Blick auf die Schule und seine eigene Unterkunft hatte auch Frank sehr schmutzige Gedanken. In Bezug auf Ina und in Bezug auf diese Nacht. Frank Hartung fragte sich, wie Ina wohl reagieren würde, wenn er sie –einfach so und überraschend spontan- einlade, die Nacht bei mir mit zu verbringen. Sie ist eine sehr hübsche, junge Frau. Wild würde es werden- sie würden es Manuela und Torsten gleich tun, besser noch, sie Zwei- Ina und Frank selbst- würden alles bislang Gewesene in den Schatten stellen. Und wo Frank diese Gedanken grade hatte, stelle er für sich fest, dass auch er 'ein Schwein' wie Torsten Lobmann war, wenn er solch lüsterne und lose Gedanken hatte. Er würde damit Ellen verraten, seine Familie, alles. Ich bin wohl doch nicht viel besser, als Torsten- dachte er in sich gekehrt. Nur mit dem Unterschied, dass es Herrn Lobmann wohl egal war, was alle Welt von ihm dachte- Hauptsache, er hat das erreicht, was er so wollte- und für heute Abend war das wohl Manuelas Zuneigung in voller Bandbreite.
So zogen die zwei kalten Nachtschwärmer also weiter ihre Bahn in der verschneiten Nacht.
Franks Schuhe waren nun auch schon langsam durchnässt. Da fragt man sich doch, warum man sich die Mühe macht, die Schuhe stets und ständig zu imprägnieren. Alles umsonst- wenn es darauf ankommt, versagt so etwas leider.
„Ich glaube, mir läuft Wasser in die Schuhe." Sagte Frank leise und mit Blick nach unten zu seinen Schuhen.
„Und ich bin schon halb erfroren!" gab Ina zu.
„Gesetz den Fall- und ich würde dies man einfach annehmen- wir kommen in einer halben Stunde an und die Beiden sind noch zu Gange. Was machen wir dann?" fragte Frank.
„Ich hab keine Ahnung." Sagte Ina.
„Gibt es eine Alternative, wo Du dann hin kannst?"
„Ich weiß nicht. Nein, glaube ich nicht. Es ist schon zu spät, um noch irgendjemanden wach zu klingeln. Die wollen doch alle schon schlafen, damit sie morgen wieder fit sind."
„Ja, so geht es mir auch. Ich möchte auch langsam ins Bett."
„Na, frag mich mal." Ina zog die Augenbrauen hoch.
Ja- dachte Frank- mache ich ja grade. Ich mache e-s jedoch unterschwellig und mit finsteren Hintergedanken.
„Hast du keine Optionen?"
„Nein. Mir fällt nichts ein. Ich dachte ja schon an das Auto, aber Manu hat ja den Schlüssel. Auch irgendwo in der Stadt wird man jetzt kaum noch etwas finden, wo man sich mal aufwärmen kann. Ich sehe mich nachher schon allein im Treppenhaus sitzen und stundenlang an der Tür pochen, bis sich die gnädige Frau irgendwann mal zeigt und Erbarmen hat."
„Gab es so was schon einmal in der Vergangenheit?"
„Nein. Bei uns nicht." Sagte Ina.
„Hmm."
„Ach, malen wir mal nicht den Teufel an die Wand. Die werden doch nachher hoffentlich fertig sein." Ina machte eine kurze Redepause, dann sah sie zu Frank herüber, „Womit auch immer!".
Endlich hatte Ina in diesem Moment ihr Lächeln hinter dem Jackenkragen wieder gezeigt, auch ihre Augen konnten wieder lächeln. Vielsagend zwinkerte sie Frank Hartung nun zu. Er lächelte zurück.
„Naja. Wir werden sehen."
„Mir ist auch schon ganz kalt. Ich spüre meine Stirn schon nicht mehr."
Ja, daran Frank auch schon die ganze Zeit denken müssen.
„Hättest Dir lieber auch eine Mütze mitgenommen, was?"
„Ja, die Mütze liegt auch im Auto. Pech gehabt."
Ina lächelte wieder mit den Augen.
„Oh Mann, dass ist ja ein ewiger Kreis."
„Ja, ist es." sagte Frank.
Jetzt war in Frank Hartungs Auffassung genau der eine Moment, einfach mal so auszutesten, ob der alte Mann dem jungen Fräulein etwas Gutes tun kann. Aber was er Ina sagen wollte, erforderte Überwindung und Mut.
Wie motorisch und mit fast schon jugendlich gewordener Koketterie formulierten seine kalten Lippen den Satz: „Wenn du nichts dagegen hast, könnte ich dich ja ein wenig wärmen?"
Oh mein Gott, dachte Frank im nächsten Moment schon für sich. Wie dumm bist du eigentlich. Was bildest du dir denn hier ein.
Ina sagte nichts auf diese Frage. Ihre Antwort war ein Lächeln hinter dem Mantelkragen und ein Paar lachende Augen. Immer noch schweigend, aber lächelnd, sah sie wieder auf den verschneiten Gehweg. So gingen die Beiden weiter auf dieser nächtlichen Runde.
Nachdem Frank Hartung nun diese Frage aufgeworfen hatte, hatte er sich so richtig bloßgestellt. Lüsterner, alter Knacker- wird sie jetzt denken. Bloß schnell nach Hause- schnell allein in den nächtlichen Flur und weg von diesem doofen Typen.
Hier braucht man keine Gedanken zu lesen- junge Mädchen, wenn sie noch dazu so verdammt super aussehen, werden sich nie und nimmer von einem alten Knacker wärmen lassen- geschweige denn vielleicht mehr, schoss es Frank ein.
Nun musste er sich also weiterhin in einer Rolle des Begleiters durch die Nacht sehen, deshalb überlegte er, wie Sie hier schnell eine Lösung finden könnten, da die 'finstere, unangemessene Option'
wohl ausscheiden würde.
„Ich habe da so eine Idee." Vielsagend wandte Frank sich Ina erneut zu, wie ein erfahrener Lehrer, der aus einem erledigten Forschungsauftrag schon Material für die nächsten Forschungsprojekte saugt.
„Was denn?"
„Naja, ich dachte so bei mir, dass Manuela sicherlich ein Handy hat. So etwas hat sie doch?"
„Aber ja!"
Ina schien seinem Gedanken weiter zu denken, in der Sekunde, als Frank es ansprach.
„Und ich dachte mir so, du schickst ihr eine Nachricht, dass sie Dich bitte sofort informieren soll, wenn Das dort ausgestanden ist. Und vielleicht drückst du noch auf die Tränendrüse- sagst, dass du zu erfrieren drohst und deine Gesellschaft, also ich, super langweilig ist."
Ina kramte schon irgendwo in den Jackentaschen.
Mädchen- so dachte sich Frank- gehen doch bestimmt nicht ohne Handy aus dem Haus. Und Ina hatte vorhin schon eine Nachricht getippt. Kommunizieren ist doch eigentlich eines der wesentlichen Dinge im Leben einer jungen Frau. Schon hatte sie ihr Telefon in der Hand. Das Telefon war ein recht neues Gerät. Sie zog den Finger kreuz und quer, dann hatte Ina wohl das Chat- Portal und begann sofort damit, eine Nachricht zurecht zu klimpern.
„War wohl eine gute Idee?" fragte Frank nun nach.
„Ist es wirklich. Auf das Naheliegende bin ich vor lauter Aufregung jetzt gar nicht gekommen. Ich habe ihr vorhin mitgeteilt, dass ich sie verfluche!"
Sie tippte weiter ihren Text.
Offenbar sind Frauen glücklich, wenn sie ihre Telefone nutzen dürfen, denn Ina lächelte beim Formulieren der Nachricht.
„Soll ich dass mit Dir wirklich so schreiben?"
„Klar, dass suggeriert ihr deine ausweglose Lage noch mehr, verdoppelt quasi deinen Hilferuf. Denn wenn sie sich vielleicht einbildet, du hast Freude mit mir hier in der Kälte, lässt sie dich nur umso länger draußen rumlaufen!"
„Das klingt logisch." Sagte Ina lächelnd und schrieb ihre Nachricht weiter.
Frank nahm diese Anmerkung als kleines Kompliment hin.
„Ja, es ist schon gut, nächtliche Spaziergänge mit einem Analytiker zu machen. Die Frage ist dann nur, worüber unterhält man sich?" setzte Frank nun nach und musste dabei unmerklich grinsen.
Ina lachte hörbar zurück.
Ein Piepsen signalisierte den Ausgang der Mitteilung.
„Tja, jetzt heißt es warten."
„Ich dachte, wenn wir schon beim Thema Handy sind- vielleicht rufen wir beim nächsten Mal, wenn wir vor eurem Haus sind, einfach an und zerreißen das Idyll in der Wohnung einfach- auch schon um zu zeigen: 'Hallo. Das gibt es noch Jemanden!'."
Irgendwie war spätestens jetzt das Eis zwischen Ina und Frank wie weggeschmolzen.
Als der Retter mit mehreren Alternativlösungen hatte Frank für diesen Moment gleich super gepunktet bei dieser jungen Frau. Sie sah ihn musternd und gleichzeitig freundlich an.
„Oh Mann, eigentlich weiß ich gar nichts so richtig über Dich."
„Wieso? Wir sind doch schon 'per DU'?"
Ina musste wieder lachen, ihre Augen strahlten Frank nun einmal mehr freundlich an.
„Naja, wer du so bist, was du so machst- und so?"
„Aber du kennst doch schon meinen Namen?"
„Darf ich ehrlich sein?"
„Ja." bat Frank.
„Ich habe grade überlegen müssen, wie dein Name war. Frank- richtig?"
Oh Gott, völliger Rückschlag.
„Du kennst nicht einmal den Namen deines nächtlichen Begleiters? Lass das nicht deine Eltern wissen, Ina!" hierbei betonte Frank Hartung das 'Ina' so deutlich, dass ihr aufgehen sollte, dass er sich ihren Namen gemerkt hatte. Damit zeigte er ihr, dass sie als Begleiterin ihm schon irgendwie wichtig war und er sie interessant fand. Aber nun wollen wir doch das Dilemma erstmal lösen: „Ja, Frank ist richtig geraten." sagte er.
„Geraten habe ich nicht, ich war mir halt nur nicht so hundert Prozent sicher."
„Na so ein Glück für mich." merkte Frank kurz dazu an.
„Du bist hier aber auf Lehrgang an der Schule, ja? Da bin ich richtig, oder?"
„Ja. BWL und solche Sachen."
„BWL? Wirklich?", fragte Ina überrascht.
Vielleicht war sie verwundert, dass Polizisten in so etwas exotischen Sachen Fortbildung benötigen.
„Ja, wirklich." sagte Frank.
„Wo braucht man denn so was bei der Polizei?"
„Hier und dort."
„Raus mit der Sprache." Ina hackte nach.
„Naja, es gibt da einen Themenbereich in der kriminalpolizeilichen Sachbearbeitung, der sich Wirtschaftskriminalität nennt." Als Frank das Wort Wirtschaftskriminalität sagte, nahm er die Hände aus seinen Jackentaschen und tat so, als würde er selbst das Wort in Anführungsstriche setzen. „Irgendjemand denkt wohl, dass man dort vielleicht BWL und Volkswirtschaftslehre gut gebrauchen könnte." Fügte er noch hinzu.
Frank versuchte dies als ironischen Spaß anzubieten, der durch Ina auch so angenommen wurde, denn sie lächelte auf sein Lächeln zurück.
„Wow."
„Ja, nicht alles ist Verkehrkontrolle oder Laubeneinbruch."
„In den Praktika habe ich auch schon einmal bei der Kripo reingeschnuppert. Aber die meiste Zeit saß ich irgendwo auf einem Funkwagen oder in der Wache."
„Ja, das ist halt so bei uns." Sagte Frank.
Ina holte ihr Handy hervor.
„Noch nichts- keine Antwort."
Zufrieden mit sich dachte Frank, dass es gut von ihm war, Ina diese alternative Informationsquelle mit dem Handy geschaffen zu haben und ihr damit diese Option ins Bewusstsein zurückgeholt zu haben. Das würde Ina sicherer machen- auch, wenn sie noch Berührungsängste hatte, mit ihm- als Fremden- durch die Nacht laufen zu müssen. So hatte er selbst wohl etwas Vertrauenswürdigkeit bei ihr gewonnen. Wenn sie es allerdings nutzt- so dachte Frank auch- suchte auch sie damit nach einem Ende dieser wohl peinlichen gemeinsamen Begebenheit. So mit ihm hier in der Nacht allein aus den Straßen von Güstrow.
Eigentlich schade, denn Frank sonnte sich irgendwie grade in dem wohligen Gefühl, die Aufmerksamkeit der jungen, hübschen Frau zu haben.
Ina strich sich Schnee aus ihrem Haar.
Sie tat ihm leid- so ohne Mütze- mit ihrer nassen, blonden und- wie Frank ja auch noch vom Montag in Erinnerung hatte- sonst so vollen Haarpracht.
„Wenn Du Dich nicht voll und ganz vor fremden Mützen ekelst, oder Bommelmützen- Verneiner oder Allergiker bist, ich würde dir gern meine Mütze borgen wollen." Bot er an.
„Wirklich?"
„Ja, ich garantiere dafür, dass sie den Schnee abhält." Frank zog seine Bommelmütze vom Kopf und hielt die Mütze in Inas Richtung. „Wärmen wird sie dich auch ein wenig."
„Danke. Ausnahmsweise nehme ich das Angebot an."
Mit kurzem Griff wurde ihm die Mütze aus der Hand genommen. Ina machte scheinbar einen kleinen Knicks vor Frank als Geste des Dankes. Dann setzte sie die Mütze auf. Ihren Pferdeschwanz angelte sie mit gekonnten Bewegungen unter der Mütze hervor und strich sich noch einmal über die Stirn.
„Sehr modisch, dieses Schmuckstück, nicht?" fragte Frank nach.
„Naja. Aber schön angewärmt ist sie."
„Ach ja, und wenn es doch noch schneit, dann sind es meine Schuppen, die sich darin verfangen haben." Ergänzte er seinen Satz -von vorhin mit dem Schnee- gewollt spaßig.
Ina hielt kurz an, sah Frank kurz mit einem durchdringenden Blick an, ging dann weiter.
Nach kurzer Gedankenpause- die sie augenscheinlich für die Verarbeitung dieser ironischen Bemerkung benötigte- verfiel sie in ein lautes Lachen.
Sie musste sich vorn über beugen vor Lachen.
Das war auch der Moment, in dem sie Frank Hartung mit ihrer rechten Hand am Arm ergriff, um sich- vor Lachen beugend- festzuhalten.
Es war auch der erste Körperkontakt zwischen Ihnen beiden.
Wenn Frank vorhin noch dachte, dass die Hemmschwellen- Barriere zwischen Ihnen gefallen war, so vermittelte sich nunmehr der Anschein, dass sich zwischen Ina und ihm eine gewisse Vertrautheit aufzubauen schien. Rein freundschaftlich und mit Sicherheit auch distanzierter Art und Natur- aber eine Vertrautheit.
Ina fing sich wieder nach ihrem kurzen Lachanfall.
Ihre Augen strahlten Frank nun wiederholt fröhlich an.
Eben so fröhlich zeigte sich ihr Mund. Sie machte eine Hin- und Herbewegung mit ihren Kopf, sagte dann: „Also die Bommel ist echt süß."- und wackelte mehrmals weiter.
Charmant sagte Frank hierzu: „Also gekostet habe ich sie nicht, aber wenn du denkst, die Bommel ist süß?"
Wieder ein Lacher von Ina auf diesen kleinen Witz.
„Oh, Mann!" sagte sie sich- Ina musste wohl ihre Freudentränen unterdrücken.
Auf einmal sah Ina Frank anders und etwas ernster an als jemals vorher. Es muss Ina in diesem Moment auch aufgefallen sein, dass sich freundschaftliche Vertrautheit zwischen Ihnen aufgebaut hatte und ihr dieser alte Knacker, also Frank- doch auch sympathisch war.
Während sie ihn so anschaute, schien sie für einen Moment zu überlegen- zumindest wirkte es so, als wenn sie ihren eigenen inneren Stimmen lauschte und nachdenklich war. Dann lächelte sie wieder sehr entwaffnend.
„Du, sag mal. Steht das Angebot noch mit dem Wärmen? Wenn ja, würde ich mich jetzt gern irgendwie bei dir unterhaken?"
Jetzt war es also um sie geschehen, dachte Frank noch so. Jetzt ist sie wohl dem Charme erlegen.
Während Frank Hartung noch überlegte, was er nun schlagfertig auf die Frage von Ina antworten könnte, wurde er schon am linken Arm durch zwei sanfte Hände ergriffen und sie klammerte sich an seinen linken Arm.
Ja, so hat sie also meinen Arm genommen, dachte Frank, und nun?
Wie soll es weitergehen?
Eine Gedankenwelt, seine Gedankenwelt, spielte grade wieder ein wenig verrückt.
Die Situation war gefühlt auch sehr, sehr angenehm.
Sanft und nicht ruppig, irgendwie wärmend und sehr vertraut.
Diese Entwicklung war ein Schritt in eine seltsame Welt. Irgendwie vertraut und doch auch befremdlich. Wenn sie sich weiter so sanft an seinen Arm heranzog und Frank weiter in dieser Weise festhielt, könnten sie auf unbeteiligte Dritte wie ein Liebespaar beim nächtlichen Spaziergang wirken.
Diese Art und Weise von Vertraulichkeit zuzulassen- war, da Frank dies sonst nur seiner Frau Ellen jemals erlaubt hatte,- diese Vertrautheit war- irgendwie sehr schön und beschützend, ja auch irgendwie unerforschlich Besitz ergreifend. Frank hatte irgendwie Besitz über Ina und ihr Vertrauen, und umgekehrt war es sicherlich auch so bei Ina.
Diese Situation war gefühlt sehr angenehm und unbeschreiblich schön.
Frank sah schon die Tageblatt- Schlagzeile: Alter Knacker zieht mit junger, hübscher Blondine umher- ein Skandal.
Ina hatte sich aber noch mit keiner Frage nach seinem Alter erkundigt.
Musste er hierüber noch Klarheit schaffen? Eigentlich sicherlich nicht, denn auch Ina hat Augen im Kopf und kann sicherlich auch Schätzen. Sollte er eventuell doch als Spaßkanone und Animateur in dieser verfahrenen Vorstellung des 'Theater des Lebens' einen Zugang zu ihrem Geist gefunden haben? Irgendwie schien es so zu sein.
In der Vorstellung, die in diesem Theater Manuela und Torsten gaben war Frank zumindest kein Claqueur, also ein bezahlter Applaus- Spender. Auch war er kein Mitweiner, für Inas verlassene und traurige Rolle in diesem Rollen- Stück. Vielleicht war er selbst nun für Ina irgendwo wie ein rettender, stabiler Punkt, ein Fels in der Brandung, etwas im wahrsten Sinn des Wortes Greifbares, das ihr Halt in dieser Situation gab.
Da offenbar Humor ein Schlüssel war, um mit dieser Situation nunmehr gemeinsam besser umzugehen, setzte Frank noch einen Spaß drauf:
„Ich glaube, wir könnten hierfür Überstunden anmelden."
„Wie das?"
„Naja, so als Fußstreife?"
Auch dies kam an, Ina blickte zu ihm auf, lächelte ihn an und er lächelte zurück.
Und sie klammerte dabei immer noch sanft an seinem Arm, dachte nicht an ein 'Loslassen'. Es schien auch ihr wohl langsam immer mehr zu gefallen.
Frank Hartung zumindest gefiel diese Nähe, ihre Nähe.
Er blickte in ihre lachenden Augen- wunderschöne Augen.
Dann schmunzelnde er- auch über sich und die Situation- wieder auf den verschneiten Weg blickend.
„Danke." Sagte Ina.
„Wofür?"
„Für alles heute. Die schöne,
warme Mütze, den Heimweg, deine Ausdauer hier –mit mir- irgendwie alles so. Weißt du?"
Frank erwiderte nichts darauf. Er genoss einfach diese sanften Worte der an seinem linken Arm festgeklammerten wunderschönen Ina. Eigentlich hätte er ihr auch danken können, denn wann war ihm schon einmal so etwas seltsam Schönes und Unerwartetes widerfahren in letzter Zeit. Hätten ihn andere Männer mit dieser wunderschönen, jungen Frau an seiner Seite gesehen, sie wären vor Neid erblasst. Oder sie hätten- auch wenn es rechnerisch mit zirka 13 Jahren Unterschied noch nicht ganz hingehauen hätte- Ina vielleicht für seine Tochter gehalten. Jedenfalls hätten sie ihn- Frank Hartung- bewundert und sich gefragt, wie so etwas sein kann. Denn dies fragte er sich selbst ja auch grade, immer und immer wieder.
Die weitere Runde um die Häuser war fast vorüber.
Von Weitem konnten Beide bereits den Hauseingang sehen.
Nun waren sie schon seit einigen Minuten langsamer geworden mit ihren Schritten durch die Nacht. Für Frank waren auch die durchnässten Schuhe nicht mehr erwähnenswert.
Ina löste sich nun langsam wieder von seinem Arm.
Irgendwie fand er diese Trennung schade.
Ist schon klar, dachte er. Du willst dich ja sicherlich nicht mit mir sehen lassen.
Nur noch wenige Schritte, also.
Ina sah auf ihr Handy- keine Nachricht.
Sie sah Frank sehr sanft an, blickte ihm in die Augen.
„Wartest du noch einen kleinen Moment?" sagte Ina dann genau so sanft, wie sie Frank soeben angesehen hatte.
„Ja." Hauchte er- genauso sanft zurück.
„Ich will nur mal kurz sehen, ob sich hier etwas getan hat. Licht ist ja oben nicht."
„Ja, mach mal in Ruhe."
Ina ging verstohlen an die Tür. Frank folgte, als erwartete er einen Abschiedskuss.
Wieder klapperte ihr Schlüsselbund, aber dann hielt sie inne.
„Ich werde lieber mal klingeln." Sagte sie leise.
„OK."
An der Klingelleiste fand sie ihr Ziel bei 'Fuchs/ Schmidt' im zweiten Stock rechts.
Es klingelte.
Ina und Frank konnten es bis vor das Haus hören. 'Ssssssst.' machte es oberhalb.
Oh weh, wie unangenehm. Nachts hört man ja eh alles irgendwie zehnmal so deutlich, aber hier war es, als würde die Klingel außen am Haus angebracht sein.
Ina schnitt mit den Mundwinkeln eine Grimasse des Erschreckens, als hätte sie mit dem Knopfklingeln Atomraketen abgeschossen, und wollte diese Peinlichkeit damit entschuldigen.
„Sorry!" hauchte sie in die Nacht hinaus und sah Frank dann wieder an.
Er zuckte mit den Schultern.
„Was muss, dass muss- leider."
Erst wollte sie jetzt wohl doch noch aufschließen, sie drehte sich dann aber wieder von der Haustür weg und schien in Franks Schutz zu flüchten.
Ja- dachte er- versteck dich doch gleich hinter meinem Rücken, wie beim Klingelsturm.
Beide sahen erwartungsvoll zu dem Fenster, wo vorhin Manuela kurz und zerzaust zu sehen war.
Dort jedoch tat sich erst einmal nichts.
Die nächtliche Stille wurde von einem Klingelton zerrissen.
Inas Handy klingelte.
Schnell und sehr gewandt angelte Ina das Telefon aus ihrer Jackentasche, drückte irgendeine Taste und lauschte leicht vorgebeugt.
„Ja?"
„ ....." offenbar flüsterte nicht nur Ina, sondern auch Manuela, denn Frank konnte –trotz der Nachthörigkeit- nicht wahrnehmen, was Manuela sagte.
„Ja und?"
„....." wieder Geflüster.
„Oh Mann. Beeilt euch bitte."
„......" längeres Geflüster- dann Ende des Gespräches.
„Und?" fragte Frank.
„Ja, wie es aussieht, werden wir wohl noch ein paar Runden drehen dürfen."
„Ist doch nicht Deren ernst, oder?" Frank versuchte entrüstet zu wirken, hatte es sich aber schon fast gedacht.
„Ich fürchte schon." Flüsterte Ina und schob ihr Telefon zurück in die Jacke.
„Oh Gott." Sagte Frank leicht genervt.
Ina wandte sich wieder zum Gehen- auf in die zweite nächtliche Runde.
Auffällig war dieses Mal jedoch- und Frank empfand es durchaus als angenehm- dass sie nicht so einen Zirkus machte, wie vorhin, als das Techtelmechtel von Manuela und Torsten und damit der komplette Verrat aufflog. Ina wirkte sogar fast ruhig.
Frank indes täuschte diesmal Entrüstung vor, blieb vor dem Haus stehen, sah zur Klingelleiste, als sei er fest entschlossen, Torsten und Manuela aus dem Geturtel für immer herausreißen.
„Bitte, klingle nicht noch einmal." Sagte Ina sanft, die seinen Blick auf die Klingel wahrgenommen hatte.
Dabei legte Ina ihre rechte Hand auf seine Schulter, strich dann damit- als wollte sie Frank beruhigen- sanft über seinen Rücken, griff kurz danach erneut nach seinen linken Arm und zog ihn kurz.
Sie wollte nun wohl in der Tat noch eine Runde um den Block laufen und Manuela nicht mehr stören. Noch eine Runde mit Frank– und hoffentlich wieder an seinem Arm gekuschelt.
„Und jetzt? Was jetzt?" fragte er Ina, blickte sie an.
Sie blickte Frank Hartung traurig an, aber so, als wolle sie Verständnis geben und auch selbst haben.
„Lass uns einfach noch mal gehen. Bitte." Sagte sie leise.
Frank ließ sich, von Ina gebeten, mit ihr von der Tür wegtreiben, wieder auf den verschneiten Fußweg.
„Tut mir echt leid." sagte sie nun nach einem kurzen Moment der Stille.
Mit gesenktem Kopf gingen Beide wieder getrennt nebeneinander her.
Frank versuchte jetzt nicht mehr darüber nachzudenken, was sich in der Wohnung abspielen würde. Er wollte eigentlich nur noch, dass auch er langsam selbst ins Bett kam.
Er sah auf seine Armbanduhr.
00:15 Uhr.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro