Kapitel 35
Warnemünde
Freitag
Praxisräume
Frau Dr. Sylvia Freiliggrath aus Warnemünde war eine junge Ärztin- Psychologin und Psychotherapeutin. Obwohl sie Ihre Praxis erst vor 2 Jahren begründet hatte, hatte sie bereits regen Zulauf.
Auch an diesem Morgen hatte sie im Stundentakt mit Patienten gesprochen und das Gefühl, wieder einigen Personen Schritt- für – Schritt geholfen zu haben. Das Wochenende war schon in greifbarer Nähe, als Ihre Sprechstundenhilfe gegen 11:30 Uhr noch eintrat und ihr signalisierte, dass der Herr aus Stralsund, welcher nachdrücklich einen Gesprächstermin erbat, nun doch noch erschienen sei.
„Zumindest hat Herr Hartung die seelische Stärke, so lange zu uns zu fahren. Dann bitten sie ihn herein."
Die Sprechstundenhilfe tat, wie ihr geheißen, schloss nachdem der Mann mittleren Alters eingetreten war die Tür, um sich danach den Abrechnungen am Einlassbereich zu widmen, denn es würde nun wohl niemand mehr in die Praxis kommen. Zumindest für heute waren Termine danach nicht mehr vorgesehen und ab 12:00 Uhr Schluss.
„Schönen guten Tag, Herr Hartung. Was kann ich für sie tun- vielmehr, wie kann ich Ihnen behilflich sein?"
Frank Hartung betritt langsam und mit gemischten Gefühlen das Zimmer der Ärztin. Ein leichtes Unbehagen beschleicht ihn. Er hält sich mit beiden Händen an einer geschlossenen Dokumentenmappe fest.
„Nun ja. Sie sehen vor sich einen Mann, der Hilfe sucht- und auch Hilfe von Ihnen annehmen möchte! Mit einigem, was ich abladen muss , oder besser abladen möchte- denke ich!" Frank Hartung versucht sich auf den Holzstuhl am Arzttisch zu setzen, aber die junge Ärztin platziert ihn gleich einmal um.
„Zum Zuhören, Herr Hartung, scheint die Couch besser geeignet."- sie deutet in Richtung einer mintfarbenen, bequem wirkenden Ledercouch neben einem lichtdurchfluteten Bereich des Raumes. „Ich geselle mich zu Ihnen- mit meinem Tablett und offenen Ohren."
Frank Hartung versinkt fast in der weichen, angenehmen Couch. Er lehnt sich bequem mit einem Arm über den weichen Seitenrand der Couch, erfühlt mit der linken Hand die abstrahlende Wärme des angenehmen Leders. Die Dokumentenmappe legt er rechts neben sich.
„ Ich habe Probleme- im Moment jede Menge Probleme- und ich habe das Gefühl, dass mich diese Probleme überfordern, mich einschnüren und mein Leben, so wie ich es kenne und schätzen gelernt habe, nachhaltig und momentan nicht positiv beeinflussen."
„Wir nehmen uns Zeit. Ich höre Ihnen zu. Zuerst werde ich mir all ihre Sorgen und Nöte darstellen lassen- sie werden mir einige Fragen gestatten müssen- und dann, vielleicht schon in den nächsten Sitzungen beginnend, greifen wir uns ein Problem nach dem anderen heraus- versuchen gemeinsam Wege zu finden. Machbare Wege für Sie. Vielleicht auch, wenn erforderlich, mit medikamentöser Unterstützung, wenn Sie dafür aufgeschlossen wären. Doch nun möchte ich sie Bitten, einfach einmal darzustellen, welcher Natur ihre Probleme sind."
Und Frank beginnt damit, von seiner Arbeit zu erzählen- eine erfüllende Arbeit, teilweise komplex und anspruchsvoll. Frank Hartung erzählt von Entscheidungsspielräumen und gewissen Freiheiten im Rahmen der Arbeit, von Vorgesetzten, von Beurteilungen.
Dann, als Frank Hartung zu seiner Familie berichten möchte- merkt Frank Hartung, wie ein Damokles- Schwert über der Thematik schwebt. Und er merkt auch, dass es wohl richtig war, hierher zu kommen.
„Ich bin gestalkt worden!" platzt es heraus. „Oder besser noch, meine Familie und ich sind gestalkt worden!"
Frau Dr. Sylvia Freiliggrath möchte unvoreingenommen sein- offen für diese Mitteilung ihres neuen Patienten, gleichwohl beschleicht sie ein Gefühl der Ungläubigkeit. Normalerweise sind Frauen es, die zu ihr kommen, und eine derartige Behauptung in den Raum stellen. Oftmals haben sich die Stalking Mutmaßungen nach mehreren Sitzungsterminen als haltlos erwiesen- Zufallsbeobachtungen durch Dritte, in den ihr bekannten Fällen zumeist Frauen nach der Scheidung oder der Trennung von einem Intimpartner. Die forensische Psychiatrie geht davon aus, dass die Zeit nach der Trennung die gefährlichste Zeit ist, gestalkt zu werden- sogar, dass sich in dieser Trennungsphase Stalking mit Opfergefährdungen einhergehen.
Aber ein Mann? Eine Familie komplett gar? Das wirkt offen gestanden weit hergeholt. Sollte sie nun den Patienten Hartung unter einem anderen Licht bewerten? Spinner vielleicht?
„Wie erlebten sie dieses Stalking? Wie fand es seinen Ausdruck in Ihren Augen?" fragt die junge Ärztin nach.
„Bis vor 3 Wochen wusste ich nichts davon, auch nicht über Art, Umfang und Ausmaß dieser Stalking- Handlungen. Ich lebte bis vor 3 Wochen mein ganz normales Leben!" erläutert Frank Hartung ruhig- die angenehme Couch auf sich wirken lassend, auch die angenehme Ausspracheform der jungen Ärztin.
„Sie werden verzeihen, aber als Polizist werden sie es mir nachsehen, wenn ich nachfrage: Gab es eine sogenannte Täter- Opfer- Beziehung zwischen Ihnen und der Stalkerin – ich nehme an, dass es eine Frau war?" Frau Dr. Freiliggrath vermutet, dass Frank Hartung vielleicht fremdgegangen war, die Vergangenheit nun Frank Hartung eingeholt hatte- oder eine neidische Nachbarin? Anderes scheint kaum möglich.
„Es gab keinerlei für mich erkennbare Täter- Opfer- Beziehungen!" erklärt Frank Hartung wahrheitsgemäß. „Und bevor sie mich für verrückt halten oder gestört, will ich Ihnen etwas zeigen!"
Frank öffnet die hellblaue Dokumentenmappe.
„Es war vor 3 Wochen, als ich von Kollegen gebeten wurde, zu einem Durchsuchungsobjekt zu kommen. Mir erschloss sich damals erst nicht, wieso und weshalb- mein Chef begleitete mich sogar dorthin. Bei der Durchsuchung ging es darum, Waffen nach einer Vergewaltigungshandlung in Ribnitz zu finden, welche dort noch vermutet worden sind. Gefunden hat man ganz andere Sachen."
Frank Hartung zieht einen Zeitungsartikel hervor. Der Artikel über eine Frau, welche den Freitod gewählt hatte. Er erzählt von den Räumlichkeiten, den vorgefundenen Situationen- davon wie es ihm die Luft abschnürte und er brechen musste. Er erzählt von der Leiche hoch oben im Schuppen. Von der Verwirrtheit, welche ihn seither einnahm. Frank erzählt von den polizeilichen Erkenntnissen über diese Gruppierung- von den wiedererkannten persönlichen Sachen im Hause der Dreier- Gemeinschaft. Er erzählt von Dänemark und den dort gefühlten Sorgen und Ängsten, von der Offenbarung gegenüber seiner Frau. Die Ängste bei der Rückkehr spricht er aus, auch darüber, in Angst vor Andreas Konzius nach der Begegnung mit der Streife an seinem Haus, gleich wieder alles unbewohnt aussehen lassen zu müssen. Frank Hartung holt die Artikel zur Verfolgungsjagd aus der Dokumententasche.
Andreas Konzius ist derjenige, der hier auf der Verfolgung getötet wurde. Alle Fragen blieben offen. Frank Hartung bittet erinnert an die ärztliche Verschwiegenheit um diese Umstände, gibt dann ihm bekannte Details der jungen Ärztin preis. Frank Hartung benennt den Fachbegriff des Scanning- einen Begriff, welchen er bis vor 3 Wochen nicht einmal kannte, außer in Verbindung mit einem elektrischen Gerät. Als er am Mittwoch selbst zur Sachlage vernommen worden war, hatte er allen Gefühlseinwendungen und dienstlichen Maßgaben zum Trotz in die PC- Ablagen Einblick genommen und sich mehrere Seiten von Tatortberichten und Vermerken über einen beratend hinzugezogenen Profiler- Besuch des BKA ausgedruckt und – nachdrücklich weißt Frank Hartung darauf hin- nur für sich ausgedruckt mit nach Hause genommen. Frank Hartung suchte Antworten auf Fragen. Auch diese Ausdrucke von Berichten legt der Patient seiner Ärztin nur zur Kenntnisnahme vor. Seitenweise Fakten, welche die Angaben des Frank Hartung in jedweder Weise stützen- Frau Dr. Sylvia Freiliggrath fühlt sich erschlagen von der Fülle an wirren, jedoch tatsächlichen und sich überschneidenden Fakten. Frank Hartung, welchen sie bis vor einigen Minuten nicht kannte und der ihr nun diese Abläufe berichtet ist entweder ein genialer Verschwörungstheoretiker oder aber- und danach sah es anhand der Vielzahl von vorgelegten Unterlagen eher aus- in der Tat das Opfer oder eines von mehreren Opfern einer perfiden Stalking- Gemeinschaft von 3 Tätern. Davon waren einer in Haft und zwei Mitglieder dieser Gemeinschaft tot. Frau Dr. Freiliggrath saugt den Vermerk über die Gedankengänge des Bundeskriminalamt- Analytikers Seite um Seite auf.
Als es klopft und die Sprechstundenhilfe kurz in den Behandlungsraum blickt und sagt: „Frau Doktor, benötigen Sie mich heute noch?" wird Frau Dr. Freiliggrath aus ihrer Konzentriertheit heraus gerissen. Sie blickt seit dem Gesprächsbeginn das erste Mal wieder zur Uhr über der Tür. Halb 3 Uhr? Seit 3 Stunden sitzen sie schon hier?
„Ich würde mich sonst verabschieden wollen, es sei denn ..."
„Nein, alles gut Schwester! Wir sehen uns am Montag. Schönes Wochenende!"
Frank Hartung ist auch herausgerissen- aus dem Redeschwall, in den er vertieft war. Aber es war absolut befreiend darüber reden zu dürfen- reden zu können- alles einmal offen zu legen.
Die Sprechstundenhilfe möchte schon gehen als Frau Dr. Freiliggrath noch zu ihr sagt: „Ach und dieser Termin heute- berechnen Sie es als Eröffnungsgespräch- nur eine Einheit!"- dann blinzelt sie freundlich zu Frank Hartung. „Der Rest ist heute Bonus!"
Dann wieder zur Sprechstundenhilfe: „Ach ja, bereiten sie bitte eine Krankschreibung für Herrn Hartung vor zur Unterschrift- drei Wochen erstmal. Und bitte gleich für nächsten Freitag einen Neutermin- zwei Einheiten bitte blockieren! Bitte als letzten Tagestermin für nächsten Freitag festhalten! Ja? Den Rest mach ich dann. Schönes Wochenende!"
Ungläubig- aber froh ins Wochenende entlassen zu sein geht die Schwester wieder aus dem Raum, schließt die Tür zum Behandlungsraum.
„Herr Hartung, das ist wirklich ganz schön viel Ballast, den sie mit sich herum schleppten, die letzten Wochen. Das war doch für sie sicherlich persönlich sehr belastend. Wie haben sie dass alles mit ihrer Familie durchgestanden?" fragt die junge Ärztin.
„Meine Familie hat mich gestern Abend verlassen." Frank Hartung übermannen die Gefühle. Tränen schießen ihm in die Augen. Er kramt sich schnell ein Taschentuch aus der Gesäßtasche. „Ich stehe jetzt allein da. Meine Frau kam damit nicht zurecht. Ich- wenn ich ehrlich sein soll- auch nicht...sie ist gestern mit den Kindern zu ihrer Mutter ..." Sein Sprechen erstirbt in einem Schluchzen.
„Oh Gott, bis dahin waren wir ja noch gar nicht gekommen!" fällt es nun auch der jungen Ärztin auf- die Geschichte hatte sie bislang so in den Bann gezogen, dass die private Ebene des Patienten völlig außen vor geblieben war. Ignorieren durfte sie jedoch nicht, dass der Patient nun zu seinen Gefühlen offen stand- aber was soll man in solcher Situation sagen?
„Herr Hartung, ich werde sicherlich nicht die richtigen Worte finden im Moment, aber ich kann in Etwa erahnen, was sie durchmachen- dann noch all das Drumherum für sie selbst und ihre Familie- wenn sie es zulassen, und ich würde sie dahin gern begleiten, wenn sie es zulassen, würde ich mich gern weiterhin mit ihnen unterhalten und nach Lösungswegen suchen wollen." Instinktiv hatte die junge Ärztin nach der die Mappe umklammernden Hand gegriffen. Frau Dr. Sylvia Freiliggrath merkte, dass Frank Hartung Hilfe annehmen würde- sie würden aber erst in den nächsten Sitzungen weitere Gespräche führen können.
„Wollen sie, dass wir da weitermachen- an dem Punkt, wo wir grade angekommen sind? Ich finde es sehr mutig von Ihnen, hierhergekommen zu sein- in die Praxis!" Frau Dr. Freiliggrath merkte, dass Frank Hartung wieder an Fassung gewann.
„Ja! Ich will das durchstehen!" sagte Frank, wischte sich die Tränen weg.
„Und das werden wir! Gemeinsam! Ich werde sie nicht allein lassen- hören sie? Aber sie müssen weiterhin stark sein- für Sich selbst!"- Sylvia Freiliggrath hatte das untrügerische Gefühl, dass dies vielleicht abgedroschen klang- etwas, was schon vielen Patienten gesagt wurde, um sie zurück ins Leben zu führen. Aber auch auf den Patienten Hartung hatte es Wirkung.
„Ja!" sagte Frank Hartung. „Ich stehe das durch! Mit Ihnen!"
„Danke!" sagte die Ärztin ehrlich.
Das Leben ist kein Ponyhof, dachte sich Frau Dr. Sylvia Freiliggrath. Dieses eine Mal- dieses Gespräch heute hatte ihr dies wieder einmal gezeigt- so etwas kann es in einem normalen Leben doch nicht geben? Oder doch? Sie war auf die nächsten Termine gespannt.
Eine halbe Stunde danach hatte das Gespräch für heute geendet.
Frank Hartung war nun offiziell wegen Depression krankgeschrieben.
Aber er sah ein hoffnungsvolles Licht am Ende des Tunnels.
Und er musste dorthin nicht allein gehen.
Das war gut.
Doch Frank Hartung beschlich soeben, als er all die Schilderungen der Ereignisse der jungen Ärztin preisgab, ein weiteres und nicht greifbares Gefühl.
Es war plötzlich da, jedoch im Moment für ihn noch nicht genau beschreibbar.
Es war das Gefühl, dass all die eingesetzten Polizeibeamten, all die Analytiker, all die mit der Sachlage bekannten Leute etwas sehr Wesentliches übersehen hatten- und er hatte für sich auch beschlossen, diesem Gefühl nachzugehen und das bislang nicht Erkannte an das Tageslicht zu bringen.
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