Kapitel 26
Stralsund
Räume der Arbeit aufnehmenden Ermittlungsgruppe
Besuch aus hohem Hause
Jan Holscher könnte zufrieden sein.
Noch nicht wegen den Ermittlungen- hier war fast ein Stillstand eingetreten, aber die Ermittlungsgruppe „Auge" hatte ihre Arbeit schleppend aufgenommen. Erste Spurenakten waren angelegt worden und erste Arbeitsaufträge waren vergeben worden. Die Maschinerie kam träge ins Rollen. Das Wichtigste jedoch war momentan erst einmal die Erfassung der Lage, denn diese war im höchsten Maße undurchsichtig. Doch auch hier könnte Hilfe in Aussicht stehen, denn auf die vielen gesteuerten Fernschreiben und Mails ins Land gab es ein unerwartetes Feedback.
Über Kollegen der Abteilung Operative Fallanalyse beim Landeskriminalamt in Schwerin wurde die Sachlage jemanden im Bundeskriminalamt vorgetragen. Dieser Kollege, ein Hauptkommissar Heckert, hatte sich telefonisch schon mit Jan Holscher in Verbindung gesetzt und wollte für die Ermittlungen beraten. Wie genau dies aussehen soll, wusste Jan Holscher momentan noch nicht, aber dies würde sich heute ändern. Herr Heckert war gestern schon zum Landeskriminalamt nach Schwerin angereist und hat sich dort wohl stundenlang mit der Aktenkopie beschäftigt. Der Arno Olbrich als regionaler Fallanalytiker in Mecklenburg- Vorpommern hat sich gleich nach seiner Stippvisite veranlasst gesehen, den Kollegen Heckert vom BKA über den Abend in Schwerin zu betreuen und Fach zu simpeln und heute wollten beide hier in Stralsund vorbeikommen.
Für Jan Holscher war diese Hilfe sehr willkommen, um das nebulös erscheinende Drumherum ein wenig aufzuhellen und vielleicht etwas zur Motivlage der drei oder vier Täter zu erhalten.
Grade dieser Punkt war noch zu klären, denn die bislang geführten Auswertungen der Technik gingen nur schleppend voran und wenn Jan Holscher erst einmal wusste, mit wem er es auf der Gegenüberseite zu tun hat, konnte man die gewonnenen Informationen daraus auch richtig werten.
Mittlerweile stand fest, dass die Tote in der Scheune, Jana Woitig, sich selbst erhangen hatte. Aber warum? Diese Jana Woitig hatte über Jahre hinweg eine Liane Wolf gestalkt, aber irgendwie in passiver Art und Weise- völlig untypisch zu sonst bekannten Stalker- Typen.
Marcel Deulert weiß mit Sicherheit mehr, würde sich aber auch weiterhin gegen Vernehmungen streuben und kein Licht in das Dunkel der Vorgänge auf dem Gehöft bringen wollen. Jan konnte zufrieden sein, dass er dem Marcel Deulert wenigstens Kleinigkeiten in der Vernehmung entlocken konnte. Die Auswertung der Asservate belegt, dass Marcel Deulert in der Gehöft- Kommune wohl der Techniker gewesen ist. Seinem Stalking- Opfer Beatrix Schlüffner war auch er über Jahre einfach passiv gefolgt, bis die Geschichte irgendwie eine fatale, aktive Wendung bekam. Und was bei Marcel Deulert auffällt ist dieses hohe Maß an Unverständnis gegenüber dem Opfer, denn in Deulerts seltsam anmutender Vorstellungswelt macht die Beatrix Schlüffner alles in dem Bewusstsein, ihm etwas von sich geben zu wollen. Das die Geschädigte ihn, den Marcel Deulert, überhaupt nicht kennt- diese Tatsache blendet Deulert vollens aus.
Und der Andreas Konzius? Aktuell ist dieser Mensch immer noch ein Buch mit sieben Siegeln- eine große Unbekannte. Aber Konzius ist auch ein gefährlicher und intelligenter Gegner, der nicht unterschätzt werden sollte. Diesem Andreas Konzius gelang es über Jahre nicht erkannt zu werden. Er verfügt über einen materiellen Background und ist ein Meister der Anonymität. Warum war er nur so sehr auf das Leben des Kollegen Frank Hartung fixiert? Wie soll Jan Holscher diese Schattenperson fangen?
Ja, der heutige Termin muss Verständnis zu den Täterpersönlichkeiten schaffen und nicht nur um die Personenakten der Täter zu füttern.
Arno Olbrich vom Landeskriminalamt hat auch den Begriff 'Scanning' benutzt, dass war auch Jan Holschers erste Idee. Wenn Jan Holscher diesen Begriff in den letzten Wochen bei Besprechungen einwarf, wurde er immer ungläubig und fragend angeschaut, denn alle Gesprächspartner bringen offenbar mit diesem Begriff nur das technische Gerät in Verbindung und können sich nicht vorstellen, dass Stalking- Täter auch als 'Scanner' auftreten können. Grade bei der materiell rechtlichen Bewertung von Scanning- Taten in der Staatsanwaltschaft tat man sich auch schon sehr schwer und hat nunmehr alles über Stalking- Paragraphen abgefedert. Jan Holscher ist hierbei nicht ganz wohl, denn Scanning ist aktuell noch eine undefinierte Grauzonentathandlung.
Technische Scanner- Geräte sind Abtaster und Datenerfassungsgeräte. Scanning ist deshalb in den Augen der meisten Kollegen nur als ein optomechanischer Vorgang bekannt, wobei ein Objekt systematisch und regelmäßig abgetastet und vermessen wird, dann analysiert das Gerät und visualisiert die erfassten Daten zur weiteren Verwendung.
Wie soll man Dritten hierüber ein Täterhandeln nachvollziehbar erklären?
Abtasten ist ja noch belegbar durch die passiven Stalkinghandlungen, auch für das Analysieren der Objekte, also hier der geschädigten Opfer, könnte man hinsichtlich der Datenerfassungen abstellen. Aber wie soll Jan Holscher ein Visualisieren zur eigenen Verwendung begründen? Wenn die Opfer Sachen in den Müll werfen und die Täter den Mist für sich sammeln? Das wird rechtlich alles noch sehr problematisch werden und ob über diese Brücke ein Staatsanwalt gehen wird, ist dann auch noch sehr fraglich. Vielleicht kann man die Tathandlungen des Stalking nach der Auswertung noch um Ausspähen von Daten erweitern, man wird sehen.
Eines ist auch Fakt, hätte diese Jana Woitig nicht den Freitod gewählt und hätte der Marcel Deulert nicht mit der Waffe rumgefuchtelt, wären diese Tathandlungen ganz schnell eingestellt worden. So gilt es nun Licht im Dunkel zu schaffen.
Jan Holscher ist gespannt, was der Herr Hauptkommissar Heckert so zur Situation und den Persönlichkeiten der Täter zu sagen hat.
Zaghaftes klopfen an der Bürotür.
„Herein!"
„Da sind wir endlich!" Arno Olbrich betritt das Büro. In seiner Begleitung ein älterer, kleiner Herr im Anzug.
Kurze formale Vorstellungsrunde. Herr Heckert vom Bundeskriminalamt ist ein überaus sympathisch wirkender Mensch, braunes, gescheiteltes Haar mit grauen Strähnchen, gepflegter Ziegenbart, grauer Anzug und weißes Hemd.
„Darf ich mich hier drüben einmal breit machen?" fragt Herr Heckert und stellt einen großen Pilotenkoffer auf den Besprechungstisch.
„Aber ja. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?" Jan Holscher zeigt mit einer Geste auf die Kaffeemaschine.
„Oh, das ist nett, aber nicht erforderlich." Sagt Herr Heckert.
„Ich nehme eine Tasse." Wirft Arno Olbrich ein. „Bitte schwarz- wie meine Seele."
„Ja, ich weiß." Scherzt Jan Holscher zurück.
Hauptkommissar Heckert breitet wortlos mehrere Stapel mit Papieren auf dem Besprechungstisch aus.
„Wenn meine Kollegen nichts dagegen haben, bleiben wir bitte beim Du- ich bin Klaus. Und ich möchte auch gleich zur Sache kommen wollen, denn ich muss heute noch mit dem Zug zurück nach Wiesbaden und danach noch weiter von dort zu meinen Wohnort im Taunus."
„Ja, Klaus, ich bin der Jan und von mir aus- leg mal los!" Jan Holscher legt sich seinen Schreibblock zurecht und greift einen Stift aus dem Schreibtisch.
„Sehr gern, aber da ich nur wenig Zeit habe und ich mich nur ungern gegenüber Dritten wenig wiederholen möchte, will ich eine Frage voranstellen: Wo sind die Kollegen, die die Sache bearbeiten sollen? Man hat mir gesagt, sie haben eine Ermittlungsgruppe gegründet- also: Wo sind diese Kollegen?"
Jan Holscher war etwas verwundert über den Mann vom Bundeskriminalamt. Warum wollte er alle Kollegen der Ermittlungsgruppe hier haben?
„Ja, ich habe zwei Kollegen mit Ermittlungen draußen und ... ."
Die Augen von Hauptkommissar Heckert öffneten sich weit und fragend. Jan merkte an der Reaktion des Herrn Heckert, dass er keine Begründungen über Abwesenheiten vorzubringen brauchte.
„Naja, Jan- das habe ich mir doch richtig gemerkt oder?"
„Ja."
„Gut, die Ermittlungsgruppe wird doch nicht nur aus dir und den beiden Kollegen auf Ermittlungen bestehen, richtig?"
„Ja schon, aber ich dachte ... ." Jan Holscher war verdutzt.
„Na sicherlich dachten sie, es wäre doch jetzt klug, diese anderen Kollegen auch her zu bestellen und wo wir dabei sind, es könnte ja auch ihren Vorgesetzten interessieren, was ich zu sagen habe, richtig?" Herr Heckert wirkte höflich und dominant. „Und letztlich sollten wir versuchen, den Staatsanwalt auch noch –telefonisch zumindest- mit zuhören zu lassen, denn es wird sicherlich alle interessieren, welcher Art von Problem sich hier stellt, richtig?"
Jan Holscher sah Arno Olbrich fragend an. Arno nippte am schwarzen Kaffee und zuckte fragend mit den Schultern und seinen Augenbrauen.
Immer noch stand Herr Heckert fragenden Blickes und mit fordernder Geste- die Hände in die Hüften gesteckt- auf der anderen Seite der Tische.
„Ja." Sagte Jan Holscher, „Dann werde ich einmal die Jungs holen und versuche danach mal den Chef zu erwischen, OK?"
Für Herrn Heckert war dies wohl in Ordnung, denn er gab seine fordernde Gestik auf, nickte kurz wohlwollend und lehnte sich wieder über den Tisch, um die Unterlagen der Akten zu ordnen.
In den nächsten zwei Minuten wurde es eng im Raum von Jan Holscher. Zuerst drängten Siegfried Müller und Karsten Berg in den kleinen Raum. Zu guter letzt kam Jan Holscher wieder zurück in den Raum, drängte sich zu seinem Sitzplatz. Gefolgt wurde er von Hubert Willinger, seinem Chef.
Arno Olbrich sprang auf, als er Hubert Willinger wahrnahm.
„Oh, Herr Kriminaloberrat. Schönen guten Tag. Darf ich ihnen meinen Sitzplatz anbieten?"
„Ja gern, aber viel mehr interessiert es mich, was der Kollege vom BKA zu erzählen hat."
Herr Willinger nahm den Sitzplatz von Arno Olbrich angesichts des Platzmangels im Raum gerne an.
„Jan? Was machst Du jetzt?" fragte Herbert Willinger in Richtung Jan Holscher.
„Ich versuche noch den Staatsanwalt mit Lautsprecher mit hinzuzuschalten. Ja, einen Moment bitte noch- Ja, Herr Staatsanwalt, ich habe ja heute den Termin mit dem Kollegen der Operativen Fallanalyse vom Bundeskriminalamt- ja, ich kann mir denken, dass es zeitlich für sie nicht so gut ist, aber ich stelle sie mal auf Lautsprecher, denn es könnte interessant werden- Moment bitte..." Jan Holscher drückte einige Tasten, legte dann den Hörer neben den Telefonapparat. „So, Herr Heckert, wir könnten jetzt- mehr werden wir wohl dann nicht werden."
„Meine Herren, guten Tag. Mein Name ist Klaus Heckert, ich bin vom BKA- Organisationsabschnitt operative Fallanalyse. Wir sind schon 'Per Du' und ich habe sie alle zusammen rufen lassen. Sie werden sich fragen: Warum? Meine kurze Antwort: Weil ihr alle hier ein Problem habt, ein gewaltiges Problem!"
Herr Heckert stützt sich auf seinem Tisch auf.
Herbert Willinger wollte es genauer wissen. „Ein Problem welcher Art und Natur?"
Klaus Heckert zog die die Stirn in Falten, sah in die Runde.
„Ihr Problem ist eine Gruppe von Scannern, die in ihrem Zuständigkeitsbereich still und heimlich, von Gott und der Welt als auch von ihren Opfern unerkannt und vermutlich auf Grund der vorliegenden Indizien über mehrere Jahre agierte. Scanning ist eigentlich ein Einzelphänomen, bei welchem ein Täter sehr akribisch sein Opfer ausspäht und in eine Gedankenwelt flieht, in der er seinem Opfer gleich in dessen Realwelt lebt oder zumindest großen Wert darauf legt, Bestandteil dieser Opfer- Realwelt zu werden. Sie haben hier verschiedenste Tätertypen. Jana Woitig – vollens passiv gegenüber ihrem Opfer, nimmt nur Informationen, die diese Passivität in keinster Weise gefährden. Auch im Leben vermutlich völlig harmlos und eine graue Maus mit wenig Kontakten zu anderen Personen. Keiner kennt Einzelheiten ihres Lebens oder legt Wert auf ihre Anwesenheit bei Partys. Ihr Opfer: Liane Wolf- Inbegriff von Kommunikationstalent, Kontaktfreudigkeit und Sympathiebekundungen Dritter, mit beiden Beinen im Leben stehend, dominant und gleichsam freundlich im Arbeitsleben, beständig im Privatleben- meistert alle Probleme souverän und mit beneidenswerter Leichtigkeit. Durch die Entdeckung ihrer Neigung fühlte sie sich die Scanning- Täterin Jana Woitig bloßgestellt. Liebe Kollegen, sie müssen sich das so vorstellen: Der Lebensinhalt von Frau Jana Woitig brach mit einem Moment weg- für Frau Woitig keine Fluchtperspektiven und Chancen, mit dieser neuen Situation umzugehen und Angst für ihr Handeln zur Verantwortung gezogen zu werden- das treibt Frau Woitig letztlich zum Freitod. Meines Erachtens eine für Frau Woitig außergewöhnlich entschlossene Handlung, welche sich zu ihrem normalen Entscheidungsbefinden im Widerspruch zu befinden scheint. Aber meines Erachtens ist diese Inhaltsleere bei Frau Woitig der Motivator zum Freitod gewesen. Frau Woitig wäre eine Person- hätten sie sie noch rechtzeitig erwischt- welche in jeder Vernehmung entweder zusammengebrochen wäre und hätte alles erzählt oder sie hätte aus nackter Angst, Falsches zu sagen, lieber Nichts gesagt."
Herbert Heckert widmet sich dem zweiten Stapel von Papier.
Die Runde hört gespannt und fassungslos den Worten des Spezialisten zu.
„Tätertypus Zwei- Marcel Deulert. Komplett anderer Typus. Herrn Deulert hat es gefallen, bei den anderen beiden Personen auf dem Gehöft Anerkennung zu finden. Er hat ein brillantes technisches Sachverständnis, war den anderen Tätern hierin weit voraus. Herr Deulert jedoch hat die Kurve zum harmlosen Scanner nicht bekommen, ich will dies mal anhand der vorliegenden Fakten erläutern: Besessen von einer Person des anderen Geschlechts, also tritt bei ihm noch eine sexuell orientierte Handlungsmotivation hinzu, die Eure beiden anderen Scanning- Täter, Woitig und Konzius, womöglich nicht besitzen. Geht ruhig davon aus, dass Woitig und Konzius auch sexuelle Bedürfnisse haben oder hatten, aber diese beiden Täter würden diese Bedürfnislagen niemals auf ihr Opfer projizieren- ich würde eher annehmen, dass sie Gelegenheitsliebeleien suchen, weit weg von ihren Opfern. Der Täter Marcel Deulert ist da anders, denn Deulert hat seine Phantasien und auch sicherlich die sexuellen Wünsche auf die Geschädigte- ich muss mal kurz nach dem Namen schauen- ach ja, Beatrix Schlüffner- voll und komplett ausgerichtet. Deulert hat- wie gesagt- es nicht geschafft die Kurve zum Scanner zu bekommen, weil er mehr von der Frau Schlüffner wollte- auch sexueller und partnerschaftlicher Art. Das dokumentiert sich auch darin, dass der Deulert austickt, als sich Frau Schlüffner anschickt in eine neue Fremdbeziehung einzutreten. Das demütigt ihn, damit will er nicht leben. Also Marcel Deulert reichte nicht dieser Fetisch- Status aus, sich mit Sachen seines Opfers in dessen Welt zu denken- nein, er will in die außenwirksame Welt des Opfers drängen, fester Bestandteil sein- Partner von Frau Schlüffner intim und auch nach außen erkennbar sein- auch vor allem sexuell. Diese Demütigung einer Ablehnung will er abwenden, indem er brachial aktiv auftritt, auch mit Waffengewalt hier Nachdruck verleiht. Den Herrn Deulert – ohne ein Gutachter zu sein- würde ich selbst hier in diesem kleinen Kreis als potentiellen Sexualtäter einschätzen mit hoher Bereitschaft zur Gewalt, zur Akzeptanz von Gewalt zur Erreichung seiner Wünsche und Phantasien. Deulert gehört meines Erachtens weggesperrt, auch sodann in Sicherheitsverwahrung genommen."
„......"
Die Stille der Zuhörer im Raum wird durch Gemurmel vom Telefon unterbrochen.
Jan Holscher fragt am Hörer nach: „Wie meinen?"
„... nur ein Stalking- Verdacht bei Herrn Deulert. ...bekomme ich den Beschuldigten doch nie in Sicherheitsverwahrung. ... ist unverhältnismäßig." Die Stimme des Staatsanwalt vom Lautsprecher ist nur leise zu hören, jedoch die wichtigsten Nachfragen kommen im Raum an.
„Ja, Herr Staatsanwalt, ich spreche nur meine Empfehlung anhand des vorliegenden Täterprofiles aus. Ich kann ihnen sagen, mit welcher Täterpersönlichkeit sie es zu tun haben- dies anhand der vorliegenden Fakten. Ich komme auch gern zur Verhandlung, um eine Urteilsfindung zu erleichtern, aber anklagen müssen sie Herrn Deulert schon."
„... Ermittlungsergebnisse abwarten, die Herr Holscher vorlegt."
„Das ist richtig, Herr Staatsanwalt. Es muss schon beweissicher werden, aber ich fordere schon einmal nachdrücklich auf, die Ermittlungen gegen Herrn Deulert nicht als Bagatelle abzutun, sondern sehr ernst zu nehmen."
Herr Heckerts Meinung scheint gesessen zu haben, denn der telefonisch zugeschaltete Staatsanwalt bleibt nunmehr still an der Leitung.
„Was noch? Was ist mit dem Beschuldigten Konzius?" fragt Jan Holscher.
„Herr Konzius ist wohl das größte ihrer Probleme."
Klaus Heckert sieht sich im Kreis jeden der Anwesenden einzeln lange und nachdrücklich an.
„Er ist gefährlich. Er ist auf freiem Fuß. Und Sie- meine Herren- haben seinen Lebensinhalt weggenommen für den er wohl schon mindestens –genau konnte es wohl noch niemand benennen- mindestens also zehn Jahre lebte. Zehn Jahre !" Herr Heckert betont dies und blickt nachdrücklich. „Entweder holt es sich diese Lebensinhalte von Ihnen wieder oder aber- was weitaus schlimmer wäre- er beschafft sich Ersatz von seinem Opfer!"
„Wie meinen sie denn das- er beschafft sich seine Lebensinhalte wieder von uns oder seinem Opfer? Denken sie, er könnte gegen den Kollegen Hartung vorgehen?" Herbert Willingers Frage an den Profiler spricht aus, was sich alle Teilnehmer der Besprechungsrunde im Raum sich gerade fragen.
„Ich denke, der einfachste Weg wäre es für Konzius einen erstklassigen Rechtsanwalt hierher zu schicken. Der wird für seinen Mandanten auf Herausgabe der Asservate drängen und sie alle hier zur Verzweiflung bringen. Konzius lebt seine 'Lebenslüge'- sie haben ihm all seine Spielsachen weggenommen, alles was ihm wichtig ist, alles war er benötigt, um seine Lebenslüge fortzuleben. Ihnen mögen manche Gegenstände wie Fotos, ein Sofa, Videos und selbst Hausmüll seines Opfers völlig nebensächlich und bedeutungslos erscheinen. Für Herrn Konzius sind diese Gegenstände so wichtig, wie die Luft zum Atmen. Und Herr Konzius hat rechtlich gesehen durchaus gute Chancen, seine Spielsachen wieder –ich sage mal so- zurück zu erklagen. Weder sie alle, noch der Geschädigte Herr Hartung oder dessen Familie könnten etwas rechtlich dagegen unternehmen. Die Frage ist für mich jedoch: Wird die Täterpersönlichkeit des Herrn Konzius so lange warten wollen oder holt er sich diese Sachen."
Alle Teilnehmer der Besprechung, selbst der erfahrene Profiler des Landeskriminalamtes Arno Olbrich, sehen sich fragend an.
Herr Heckert spürt das fragende Unverständnis.
„Gut, ich bringe es mal auf einen Punkt: Ich halte es für möglich und nicht ausgeschlossen, dass Konzius in dem Fall, dass er sich Sachen seines Opfer zeitnah zu beschaffen gedenkt, entweder hier einbricht bei der Polizei beziehungsweise unter einer Legende versucht Zugang zu bekommen oder bei seinem Opfer Herrn Hartung einsteigt. Oder drittens- falls er dort noch Sachen von sich oder Hartung vermutet- zurück in sein Gehöft geht, um dort die Sachen herauszuholen, die nicht als 'Seine Spielsachen' bislang erkannt oder sichergestellt worden sind."
„Was?" Karsten Berg fällt als erster aus der Rolle, „Sie glauben der kommt mit gezückter Waffe hierein, zeigt uns eine Plastetüte und sagt: Macht mal die Videos und Fotos hier rein! Und verdünnisiert sich dann mit dem Kram? Das ist doch völliger Nonsens!"
Getuschel und Gebrummel sind im engen Raum zu hören.
Jan Holscher legt beruhigend seine Hand auf den Arm seines jungen, impulsiven Kollegen.
„Beruhige Dich mal. Wir wollten Ideen und wollten Beratung- was wir hier nicht brauchen können, ist ein Hitzkopf, der unseren Berater in Frage stellt."
Die Gesten und die Worte von Jan Holscher sorgen zwar für Stille im Raum, jedoch sind alle fassungslos.
„Herr Heckert?" Herbert Willinger versucht das Gespräch in die Sachlichkeit zurück zu führen. Da er als Vorgesetzter das Wort ergreift wird es wieder ruhiger im Raum.
„Herr Heckert, für wie wahrscheinlich halten sie die von Ihnen vorgebrachten Alternativen?"
„Die Rechtsanwaltvariante könnte ich mir zu 60 Prozent vorstellen, da sie am Erfolgversprechenden ist. Seien sie also vorbereitet, vorzugsweise sollten sie sich schon eine gute Argumentation zu Recht basteln oder Beschlagnahmebestätigungen rechtsfest machen. Wenn Herr Konzius jedoch schnell irgendwie Gegenstände haben möchte, ist es wohl bei den restlichen 40 Prozent so, dass ich mir zu gleichen Teilen und wegen des geringen Risiko vorstellen kann, dass er zuerst zu Hause auf seinem Gehöft nachschaut und dann bei dem Opfer Hartung einsteigt. Dort am Gehöft sind die polizeilichen Maßnahmen ja – auch aus Sicht Herr Konzius- gelaufen, für ihn ein minimales Erfolgsrisiko. Anders ist dies beim Lebensumfeld seines Opfers- neugierige Nachbarschaft, Eigentümer kann ihn sehen, Drittpräsenzen die er nicht einschätzen kann- hohes, aber für ihn vielleicht erträgliches Risiko. Der Variante des Überfall auf ihre Dienststelle- wie von dem jungen Kollegen soeben vorgetragen- gebe ich insgesamt so zwei bis drei Prozentpunkte- sehr, sehr hohes Risiko- wenig Erfolgschance, denn Herr Konzius weiß nicht, an wen er herantreten muss und wo sich die Asservate befinden. Es wäre für ihn ein Blindflug mit extrem hohem Eigenrisiko."
Der Profiler nimmt sich nun kurz zurück, setzt sich.
„Meine Herren, hört auf, wie Polizisten zu denken. Herr Konzius hat andere Schwerpunkte und Gewichtungen als wir- er ist schlau, er ist gerissen, dominant und durchaus mit Neigungen, seine Wünsche durch Gewaltdrohung, Nötigung Dritter, offene Gewaltanwendung oder Waffeneinsatz als Nötigungsmittel durchzusetzen. Der Konzius hat auch den Marcel Deulert soweit manipulieren können, dass dieser über ein Jahr unter seiner Knute lebte, obwohl Deulert selbst auch ein hohes Gewaltpotential in sich trägt. Herr Marcel Deulert hatte Angst vor Konzius- dies zumindest kann man auch aus der Vernehmung heraus schon sehen, also unterschätzen sie ihr Gegenüber nicht. Wir – sie und ich- haben zu wenig an Informationen zu Herrn Konzius. Und dies macht es schwierig- aber nicht unmöglich, sein Verhalten abzuschätzen."
Hauptkommissar Heckert hatte sich mit den Ellenbogen auf den Tisch aufgestemmt, sah alle Anwesenden sehr durchdringend an.
Jan Holscher hatte höchste Hochachtung vor diesem Mann. Recht hat Herr Heckert in allen Punkten und gut so, dass auch die anderen der Ermittlungsgruppe und auch der Chef Herr Willinger ein Zeuge dieser Beratung sind.
Jan hoffte, es sollte nun allen Anwesenden transparent sein, wie gefährlich die Sachlage nach wie vor ist und welche Gefahr von den Tätern Deulert und Konzius noch ausgeht.
„Soweit- so gut! Wie sollten wir uns also verhalten? Tips? Anregungen? Vorschläge?"
Jan Holscher wollte damit auch sagen, dass er selbst diese Ideen des BKA- Profiler versteht und annimmt.
„Naja. Als Erstes denken wir mal deeskalierend und nehmen dem Konzius etwas Wind aus dem Segel- um einmal in eurer Nordlichtersprache zu reden. Zuerst eine für Dritte unbedeutende Pressenachricht 'Täter nach versuchtem Sexualdelikt gestellt- Gehöft des Täter durchsucht- umfangreiche Beweise sichergestellt und zur Begutachtung an verschiedene Laborstätten gebracht'. Damit weiß Herr Konzius erstmal nicht, wo seine Gegenstände sind und wir reduzieren die zwei bis drei Prozent- Variante auf ein Null- Komma- Prozent. Als weiteres Präsenswache hier am Einlass- zwei Mann mit Uniform und Waffen- rund um die Uhr sowie zwei Leute hier auf dem Flur. Jeder von ihnen, soweit er es im Büro kann, sollte sich auch seine Waffe zur Sicherheit umschnallen und man sollte auch die Kollegen über eine mögliche Gefahrenlage zumindest in Kenntnis setzen, bis vielleicht ein Anwalt von Herrn Konzius auftaucht, denn zumindest dann hat Herr Konzius sich auf den Rechtsweg fixiert, festgelegt und eingelassen. Dann ist er bereit, abzuwarten. Zudem empfehle ich eine feste, gedeckte Objektpräsens am Gehöft von Herrn Konzius, auch bis zu diesem Punkt- Anwalt. Und ihr Kollege Hartung und dessen Familie braucht auch rund um die Uhr einen Präsensschutz durch Streifenwagen. Also dies wären aus meiner analytischen Sicht Punkte, die umgesetzt werden sollten, um das Schiff auf die harmlose Variante zu steuern. Holen sie alles an Asservaten aus dem Gehöft, was sie tragen können, beschaffen sie sich noch mal Beschlüsse. Werten sie so schnell als möglich alle Asservate aus, um vielleicht Lücken bei der Betrachtung noch zu schließen. Wenn ihr Beschuldigter Konzius mit einem Anwalt kommt, kann man den Anwalt ja hinhalten, aber dann ist es zumindest erstmal in die richtige Bahn gelenkt. Das die Täterpersönlichkeit des Herrn Konzius dann noch Amok zu laufen droht, ist nach meinem aktuellen Kenntnisstand und des Täterprofils eher weniger anzunehmen. Also sofort die offene Präsens an den möglichen Bezugsorten von Herrn Konzius umsetzen."
„Herr Hartung, also unser betroffener Kollege hier, ist aktuell im Urlaub." Gab Jan Holscher als Einwand an Herrn Heckert zurück.
„Na dann finden sie den Mann und informieren sie ihn- dennoch rate ich zur Präsens an dessen Wohnanschrift, um Herrn Konzius zumindest zu verschrecken." Herr Heckert wirkte besorgt.
„Ja, danke bis hierhin erst einmal, Herr Heckert." Kriminaloberrat Willinger stellt sich auf, kehrt den dienstlichen Vorgesetzten nach außen. „Ich denke, dass gibt mir die Gelegenheit im Namen aller Anwesenden und Zuhörer zu reden- ihre Anregungen werden hier auf fruchtbaren Boden fallen und wir werden alles erdenkliche tun, um ihren Ratschlägen zu folgen."
Herbert Willinger versuchte dem BKA- Profiler die Hand zu geben- zum Dank und zur Verabschiedung.
Doch Herr Heckert nimmt diese gestenhaft erfolgte Schluss- Offerte nicht an.
„Ja. Einen Moment noch. Ich habe hier noch einen vierten Stapel- wie sie sicherlich unschwer erkennen können!"
Heckert zeigt auf einen kleinen Haufen mit Notizen, Papieren und Fotos.
„Ihr vierter Mann!" sagt er.
Willinger wird blass im Gesicht. Damit hatte er nicht gerechnet.
Doch ein vierter Täter?
Auch Jan Holscher war schon aufgestanden- setzt sich wieder hin.
Karsten Berg sieht 'Siggi' fragend an. Offenbar hatten auch diese Kollegen nicht diese Information erwartet und sich gedanklich schon in ihren Büro's zurück gesehen.
Ruhe herrscht im Raum und auch am Telefon beim Staatsanwalt.
Fühlbare Anspannung und Ratlosigkeit schien in den Raum einzukehren.
Arno Olbricht beugt sich vor.
„Herr Hauptkommissar Heckert- also der Klaus hier- denkt, dass der Kopf und der Schlüssel der Gruppe ein vierter Mann ist- keine Frau- ein Mann."
Olbricht übergibt das Wort mit einer Handbewegung an Klaus Heckert zurück.
„Ganz recht. Ich habe ja die Übersichtsaufnahmen von diesem Wohn- Gehöft des Konzius vorliegen. Übersichtsaufnahmen, welche Sie am Ort ja gemacht haben. Sehen sie hier."
Herr Heckert zeigt den Anwesenden ein Foto von dem Computerraum in die Runde.
„Hier arbeitet noch ein vierter Computer am Netz!"
Klaus Heckert legt das Foto bei Seite, nimmt zwei Übersichtsaufnahmen des Raumes, der nur durch einen Schrank betreten werden konnte in die linke Hand.
„Und sehen sie hier!"
Herr Heckert zeigt auf die vier bequem aussehenden Sessel mit dem Zeigefinger der rechten Hand.
Solche Momente des Glanzes im Leben eines Analytikers gibt es selten für ihn- Klaus Heckert kostet diesen Moment aus.
Keiner hier im Raum- vielleicht ja noch dieser pfiffige Jan Holscher- hat sich bislang über diese Konstellationen Gedanken gemacht.
Stalking hin oder her, Scanning hin oder her, dies war Profiling der Spitzenklasse des Bundeskriminalamtes Wiesbaden für die Provinz in Stralsund.
Die Analyse der drei anderen Täter war schon anstrengend und für heute schon erstklassig vermittelt- jetzt kam noch das augenscheinlich unerwartete Sahnehäupchen.
Klaus Heckert hat in seiner beruflichen Laufbahn schon viele Sachverhalte erlebt.
Es gab schmutzige, blutrünstige Täterprofile zu erstellen bis hin zum Profiling von Top- Managern, die betrügerisch Millionen bei Seite brachten.
Auch Scanning- Täter hatte er schon oft- es dürften so um die 30 Scanner als Einzeltäter gewesen sein und fünf Mal ein Duo- zumeist Paare. Diesmal im vorliegenden Fall gab es sogar klare Anhaltspunkte und Belege für ein Scanner- Trio, aber eine Quartet- Konstellation von Scannern, damit konnte bislang nicht einmal das FBI glänzen.
Wenn sich durch die Ermittlungen dieser Dienststelle seine Annahme bestätigen könnte, würde Klaus Heckert dies auch in der internationalen Fachpresse viel neue Aufmerksamkeit bescheren.
Klaus Heckert selbst hatte von der vierten Person nicht viele Informationen- zumeist waren es nur dem Profiling innewohnende Mutmaßungen anhand dieser Informationen, die Kollegen hier waren also seine Werkzeuge, um diese vierte Person nachzuweisen.
„Ich bin ja hier, um euch Täterprofile zu liefern und euch zu beraten. Also, ich bin nicht sicher- das will schon etwas heißen- nehme aber aus fester beruflicher Überzeugung an, dass ihr noch einen vierten Täter habt."
Klaus Heckert sah auf das Foto in seiner linken Hand und tippte mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf den etwas höher gestellten Ledersessel.
Alle Polizeibeamten sahen wie gebannt auf die vorgezeigte Aufnahme.
„Diesen Täter hier!"
Weiterhin tippte Klaus Heckert auf den höher gestellten Ledersessel und sah schweigend und sehr lange jeden Einzelnen der erfahrenen Polizeibeamten im Büro an.
Kein Kommentar kam von den Provinzlern- wie erwartet.
Klaus Heckert dachte so bei sich 'Nun horcht, lauscht und staunt!'.
„Wie sie sehen können, wirkt dieser Stuhl höher gestellt als die anderen drei Stühle im 'Dom', wie unser Kollege Holscher diesen seltsamen Raum sehr richtig und treffend benannte. Und wenn sie sich die anderen Fotos des Computerraum ansehen- alle anderen Arbeitsplätze wirken chaotisch, stark belebt- nur ein einziger Platz nicht. Dieser PC- Arbeitsplatz wirkt sauber- fast steril gehalten von den drei anderen Tätern. Warum, fragte ich mich, ist dies so?"
Wieder sah sich Klaus Heckert in der Runde lange und wortlos um.
„Es ist eine Respektbezeichnung für euren vierten Täter!"
„...... nicht sehen, aber ich denke, ich weiß, was sie damit sagen wollen!"- drang die Stimme des Staatsanwaltes aus dem Hörer.
„Sehr richtig. Solchen Respekt- solche Unterwürfigkeitsakzeptanz der Anderen verdient nur eine Person- das Leittier im Rudel!" Klaus Heckert schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, als wollte er den Paukenschlag dieser Information noch durch einen akustischen Knall untermauern. Heckert erschrak fast selbst über die Lautstärke dieser Geste.
Alle schwiegen- ratlos- geschockt.
„Nur ein Chef verdient dieses Maß an fast unterwürfig erscheinenden Respekt- keiner wagt es auch nur- sich an dessen Platz oder Computertisch zu setzen- nicht im Traum würde es einer der bekannten drei Täter trauen oder anmaßen, sich in den schon optisch fixierbaren Thron des Meisters zu setzen."
Der rechte Zeigefinger tippte wieder auf das Foto und den höhergestellten Ledersessel.
„Ohne jeden Zweifel meinerseits- all ihre anderen drei Täter können dem Chef hier oben nicht im Entferntesten das Wasser reichen- sie haben es akzeptiert- alle durch die Bank, egal wie durchtrieben, bösartig und schlau sie alle Drei zusammen sind- ihr Rudelleittier hebt sich deutlich ab von allem, was wir bislang über diese Truppe erfahren haben. Er ist wahrscheinlich ein Mensch hoher Intelligenz- steht meines Erachtens auch im Realleben in besserer und gesellschaftlich akzeptierter Stellung, löst knifflige kognitive Sachlagen mit Links. Dieser vierten Person ist es gelungen, euer Scanner- Trio bis in die kleinste Gehirnwindung zu manipulieren und zu kontrollieren, er manipuliert vielleicht auch grade uns- ein geistiges Übergenie, dass viele Alternativen erwägt und anschiebt, um seine Ziele letztlich zu erreichen. Hierbei denkt und plant dieser vierte Täter zeitlich langfristiger und – nennen wir es einfach einmal- globaler, um es plastisch anschaulicher zu machen."
Jan Holscher gruselte bei dieser reifen, schauspielerischen Vorstellung des BKA- Profiler hinsichtlich des absoluten, kriminellen Geistes auf der Gegenseite. Wau- der Herr Heckert ist auch ein Genie- aber redet mit hoher Erfurcht von Jemanden- einem großen Unbekannten.
Karsten Berg lässt sich im jugendlicheren Leichtsinn zuerst zu einem Kommentar hinreißen: „Das ist ja echt schauerlich, wie der Imperator aus diesen coolen amerikanischen Science- Fiction- Filmen, der jahrelang als dunkler Lord alles vorausplante und indirekt alles steuerte. Oder wie dieser Lord, dessen Namen man nicht nennen darf! Ein Hannibal Lector von Stralsund- das macht mir Angst!"
Damit hatte er ausgesprochen, was viele Zuhörer der Profiler- Tätereinschätzung insgeheim dachten.
„Ein Professor Moriati!" ergänzte jemand anderer im Raum.
„Wie können wir diesem Mann begegnen?" Herr Willinger versuchte durch diese Rückfrage sachliche Lösungsansätze zu erfahren.
„Gute Frage- DNA und vielleicht über Vernehmungsstrategien bei dem Deulert?" Jan Holscher versucht seinem Chef diese Lösungsansätze zu bieten.
„Ich denke, dieser Ansatz ist gut- wie gesagt, wenn sie Spuren suchen, dann auf dem Gehöft oder in Auswertung ihrer Asservate, die sie haben. Übersehen sie nichts. Suchen sie Gemeinsamkeiten im Leben ihrer drei anderen Täter. Ich denke, sie – oder besser wir- suchen hier einen Mann mittleren Alters, vielleicht in einem technischen oder sozialen Beruf tätig, ein Beruf mit hoher Außenakzeptanz. Die Suche nach Gemeinsamkeiten oder Lebensbereichsüberschneidungen sollte zumindest über vier oder fünf Jahre in die Vergangenheit zurück reichen. Fangen sie bei dem neuesten Mitglied im Scanner- Trio, diesem Herrn Deulert an. Lesen sie alle Rechner und Handydaten aus. Gehen sie auf jeden Fall noch mal zum Gehöft des Herrn Konzius und dokumentieren sie dort alles- auch die kleinste Nebensächlichkeit. Ich kenne Fälle, die wurden wegen Nichtigkeiten gelöst und bewiesen."
Klaus Heckert wusste nicht, was er noch für Anregungen geben könnte. Seine weit aufgerissenen Augen ruhten noch kurz auf den Polizeibeamten im Raum.
Wie erstarrt saßen alle da. Jan Holscher machte sich Notizen.
Klaus Heckert musste sich nun auch wieder beruhigen, denn diese Ausführungen waren für ihn sehr anstrengend. Oft war es so, dass man dem Profiler nicht so ernst nahm bei seiner Bewertung, aber heute zumindest hatte er den Eindruck, dass seine Ausführungen auf offene Ohren trafen. Er schaute auf die Uhr.
„Oh, doch schon so spät." Sagte er kurz vor sich hin, legte seine Papierunterlagen wieder zusammen und in eine Mappe und zwinkerte Arno Olbrich zu. Arno Olbrich schien zu verstehen, denn er kramte in seiner Jackentasche nach dem Autoschlüssel für den Dienstwagen.
„Herr Holscher, ich würde mich freuen, wenn sie mich oder Herrn Olbrich weiter unterrichten über den Fortgang. Ich bleibe hier gern selbst mit am Ball. Ein Ratschlag für das Gehöft noch zum Abschluss: Nehmen sie wirklich alles mit, was geht. So, apropos gehen- ich muss los zum Zug- nichts für ungut."
Klaus Heckert steht auf und Arno Olbrich erkennt dieses Aufbruchsignal, schließt sich dem Bewegungsziel 'Ausgang' mit an..
„Herr Holscher, halten sie mich auf dem Laufenden- ich bleibe in dieser Sache gerne ihr Ansprechpartner."
Händeschütteln, die Gäste gehen.
Ratlosigkeit bei den Ermittlern bleibt zurück.
„... was ist jetzt los? Hallo Herr Holscher?"
Jan Holscher nimmt den Hörer ans Ohr. „Herr Staatsanwalt. Die Arbeitsberatung ist beendet. Ich berate mich kurz mit meinem Chef und komme heute auf jeden Fall noch mal bei Ihnen vorbei zur weiteren Abstimmung. Bis dann."- nun legt Jan auf.
Jan Holscher ist eines klar- es muss schnell einiges bewegt werden. Vielleicht war nach dieser eindrucksvollen Besprechung auch sein Chef gewillt, noch einige Leute mehr abzustellen. Dieser Klaus Heckert war sehr eindrucksvoll und nachhallend auf alle im Raum.
Sollte Konzius wirklich hier auf der Polizeidienststelle auftauchen, müssten die Kollegen sensibilisiert werden.
Wenn Andreas Konzius wirklich so clever und zeitgleich unberechenbar handeln könnte, was würde dies vielleicht noch alles für Auswirkungen haben? Dann wäre auch nicht auszuschließen, dass man sich als polizeilicher Ermittler selbst in dessen Fadenkreuz bewegt. Nicht auszudenken, was alles vorfallen könnte. Dann müsste man wirklich absurde Handlungsvariationen auch als mögliche Variation annehmen, auch vielleicht bis in den eigenen Privatbereich hinein. Und was, wenn sich Konzius nicht so schnell durch Polizeipräsens abschrecken lässt, nicht zeitnah einem Rechtsanwalt zur Wahrnahme seiner Interessen vorschiebt? Müsste man als Ermittler gegen Konzius selbst in Angst leben?
Jan Holscher sah sich seine Kollegen an, die immer noch unter dem Eindruck der Ausführungen des BKA- Spezialisten standen. Was, wenn Siggi nach Hause kommt und dieser Konzius steht mit einer Waffe bei ihm zu Hause in der Wohnung und sagt: Bring mir meine Sachen? Wie reagiert Karsten, wenn dessen Frau anruft und ihm sagt: Du unser Kind wurde aus dem Kindergarten von einem Fremden abgeholt und wir haben hier ein Forderungsschreiben im Briefkasten?
Und Frank Hartung? Der ist im Urlaub, vielleicht nicht erreichbar.
Nein. Jan Holscher war zu Reaktionen gezwungen.
Auch Herr Willinger muss hier mitziehen und sich stark machen.
Der Raum von Jan Holscher leerte sich.
Herbert Willinger wartete noch an der Tür, bis alle aus dem Raum waren.
„Jan, ihr besorgt so schnell als möglich ein Foto von Konzius. Meldeamt oder Asservatenfoto, völlig egal. Ich möchte, dass morgen bis zum Mittag jeder hier im Hause, auch die Schutzpolizei in Stralsund eine Handout- Kopie erhält mit Foto, Warnhinweis Waffe und hoher Gefahrenwarnung. Fahr zu deinem Staatsanwalt und auch bis morgen besorgst du dir dort neue Beschlüsse. Sieh auch zu, dass ihr eine belanglos wirkende Mitteilung für die Presse vorbereitet. Ich spreche zuerst jetzt gleich mit Wilfried Dramenz wegen dem Frank Hartung und dessen Erreichbarkeit im Urlaub, dann gehe ich zur Hausleitung und lege dar, dass es hier ein Problem geben könnte wegen der Sicherheit und so. Dreht Euch. Kneif deinen Leuten in den Hintern. Ich sehe mal zu, ob ich noch ein paar Leute für deine Ermittlungsgruppe auftreiben kann. Unter den jetzigen Voraussetzungen kann ich da sicherlich einige Argumente finden."
Nach diesen klaren Ansagen verließ auch Herbert Willinger seinen Kollegen Jan Holscher.
Jan Holscher nahm seinen Schreibblock und notierte am Tisch die Weisungen seines Chefs. Nochmals Beschlüsse bekommen? Das sagt Willinger so leicht.
Na gut, dann gehen wir es mal an.
Jan Holscher nahm sich eine Fahrtenbuchtasche und angelte sich den Schlüssel aus dieser hervor.
Dann verließ auch er sein Büro.
Und er schloss es hinter sich ab, was er sonst nur zum Feierabend machte.
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