Kapitel 19
Irgendwo im Nirgendwo
Das Gehöft
Mittwoch
Wie eine Welle aus Ekel und Entsetzen schlägt es über Frank Hartung zusammen, er stürzt unkontrolliert vorwärts und fäält einige Meter weiter auf seine beiden Knie, stützt sich mit beiden Händen auf dem Pflaster des Innenhofes ab.
Der Kloß im Hals droht ihn zu ersticken, er hustete mehrfach tief. Er huste nicht nur- nein, Frank Hartung muss tief und laut würgen. Und noch mehr würgen, und heftiger Atmen und wieder würgen. Kalter Schweiß peinigte seine Stirn, seine Arme, seine Beine und den gesamten Körper. Er würge immer heftiger- ihm wird fast schwarz vor Augen. Kalter erdrückender Schweiß. Völlig unkontrolliert und hilflos hockte Frank Hartung auf dem Boden, wie ein Hund. Als hätte er eine Fischgräte im Hals- der Kloß wandert höher im Körper- und drängt nun unter einem starkem kalten Schweißausbruch mit heraus.
Frank Hartung übergibt sich- einmal, zweimal.
Tränen schießen in seine Augenwinkel. Er ringt nach Luft. Und würgt weiter. Er atmet hastig und flach mehrfach ein und aus- hockt immer noch da, wie ein Hund.
Wieder würgen. Er übergebt sich ein Drittes, ein viertes Mal.
Was ist hier nur los? Diese Frage brennt in seinem Kopf.
Wilfried hockt sich neben ihn, haut vorsichtig auf seinen Rücken. Er war Frank Hartung gleich gefolgt, als Frank kopflos die Treppe hinunter gestürmt war.
„Oh Gott, Du armes Schwein!"
Frank Hartung ringte immer noch nach Luft, flach Atmen- wieder würgen- hastiger Atmen- wieder würgen- aber nichts folgt nun mehr nach, was seinen Weg aus dem Körper sucht. Die Tränen von Frank fließen, tropfen ihm von der Nase auf dieses kalte Pflaster dieses Horror- Gehöftes. Hier- irgendwo im Nirgendwo.
Wilfried Dramenz kramt in seinen Gesäßtaschen.
„Hier mein Junge!"
Der Wilfried hält Frank Hartung eine Packung Taschentücher hin. Frank schaut ihn mit Tränen an.
„Oh Gott!" sagt Wilfried, „Warte!"
Aus Frank Hartungs Sicht muss der Anblick furchtbar und erbarmenswert gewesen sein.
'Ich sehe bestimmt zum Grauen aus- bestimmt bin ich schneeweiß im Gesicht, vielleicht klebt noch Erbrochenes an meinem Mund.'- denkt Frank Hartung für sich.
Frank ringte immer noch nach Luft, hockt sich langsam auf- stützt sich mit beiden zitternden Armen auf seinen Beinen ab.
Irgendwo im Innenhof klingelt ein Telefon.
Wilfried nimmt mehrere Taschentücher heraus aus der Packung, versucht diese auszufalten. Frank Hartung ist immer noch halb schwarz vor Augen, sein Blick ist durch die Tränen wie vernebelt und leer.
Wilfried reicht Frank erneut die Taschentücher. Dieser trocknet die Tränen, wischt um seinen Mund.
„Äh!" entfährt es Frank.
Frank Hartung sieht in das Taschentuch- der Blick wird langsam wieder klarer- jetzt, wo die Tränen abgewischt sind. Er atmet tief und lange mehrfach aus und ein, stütze sich - gefühlt nun langsam wieder kräftiger- mit den Armen auf seinen Oberschenkeln auf. Das Leben kehrt zurück in seinen Körper- der Kloß ist heraus.
„Och!" sage Frank Hartung nun fast grunzend, atmet erneut tief ein.
Wilfried bemerkt, dass es Frank ein wenig besser geht, er stellt sich zu dessen Linker Seite hin.
Frank Hartung blickt auf den Haufen Erbrochenes vor ihm- Ekel übermannt ihn, kalte Schauer kehren kurz zurück.
„Och!" sagt Frank nun sehr lang gezogen erneut. „Och- oh mein Gott!"
„Komm, ich helfe dir auf!" Wilfried greift jetzt fester an Franks Arm.
Frank Hartung merkt, dass Wilfried Dramenz ihm aufhelfen will.
Sich wieder aufrichten- hochziehen.
Wilfried möchte Frank ins Leben zurückholen.
'Aber in was für ein Leben holst du mich hier zurück.' Frank Hartungs Gedanken spielen verrückt. 'Mein Leben ist mir gestohlen worden- ohne dass ICH nur die geringste Ahnung davon hatte. MEIN Leben hat grade geendet- eben in diesem Raum, in diesem 'Schrein', wie ihn Jan Holscher nannte. ALLES was ich kannte, ist grade eben gestorben. Ich bin erledigt- mein Leben ist grad eben öffentlich vergewaltigt worden- und ich habe selbst zusehen müssen.'
Der sonst so kontrollierte Frank Hartung kann nicht denken, nicht sprechen- er ringt nur nach Luft- gebadet im kalten Schweiß seines Körpers.
„Komm!" hört er Wilfried sagen, „Komm, mein Junge. Ich bringe Dich hier mal raus zum Auto."
Frank Hartung möchte 'Danke' sagen, bekommt aber keinen Ton aus seinem Hals hervor. Sein Blick jedoch bedankt sich bei Wilfried. Frank muss sich wieder Tränen mit den Taschentüchern abwischen und nochmals den Mund, denn er hatte das beängstigende Gefühl, dass aus der Leere seines Körpers ein neuer Kloß nach Außen drängen könnte.
Wilfried stützt ihn- er lenkt Frank Hartung zum Tor hinaus, in die Freiheit und dorthin, wo die Luft besser zu sein scheint. Beide gehen langsam zum Auto.
Frank deutet an, frei gehen zu wollen- Wilfried löst seine stützende Umklammerung an dem linken Arm. Frank beugt sich vorn über. Wenn da noch ein Kloß sitzt- jetzt will er wohl doch nicht raus aus ihm. Er streckt sich ins Hohlkreuz, stützt seine Arme auch dorthin und atmet mehrere Male sehr tief ein.
„Ganz schön heftig, was?"
Willi, du hast es erfasst- ganz schön heftig, das Alles.
Beide gehen langsam weiter. Frank Hartung denkt an das Erbrochene im Hof. Das muss dann noch weg gemacht werden, aber jetzt hatte Frank erstmal mit sich zu tun.
Das Auto ist erreicht.
Wilfried lenkt Frank fürsorglich dazu, sich auf die Motorhaube zu setzen. Frank scheint schier darauf zu plumpsen mit allem, was abfallen soll.
Erst jetzt wird Frank Hartung klar, dass er völlig schweißdurchnässt ist. Seine Haare sind klatschnass, sein Hemd durchgeschwitzt, aber die Luft umfängt ihn nun wieder und wird von ihm als erlösend und angenehm wahrgenommen. Mit der rechten Hand öffnet Frank am Hemd die zwei oberen Knöpfe.
In seinem Kopf kehrt Klarheit und Denken wieder zurück.
Und ein Gedanke erhebt sich über alle anderen Gedanken im Kopf: Geh noch einmal zurück und finde alles heraus, was du wissen willst. Schau dir alle Fotos an, schau dir alles sehr genau an- genauer als soeben, als du dich Hals über Kopf verabschiedet hast. Finde heraus, wer der unbekannte Mann mit dem Namen 'Konzius' ist und warum er DEIN LEBEN gestohlen hat. Beantworte hier und jetzt gleich deine Fragen!
Frank Hartung sieht entschlossen zu dieser Hofeinfahrt hinüber- auf das Haus dieses furchtbaren Grauens.
Noch immer ringt er nach Luft.
Wilfried steht neben Frank, darauf gefasst, ihn wieder stützen und unterhaken zu müssen.
„Besser?"
Frank nickt und denkt an sein Erbrochenes.
„Willi, ob du noch ein Paar Tücher hast? Ich will noch mal aufwischen gehen."
„Ja." Wilfried sucht in seinen Taschen und wird fündig. Verständnisvoll lächelnd reicht er Frank eine angebrauchte Packung mit Papiertaschentüchern.
„Ich will dann noch mal Da rein." Mit einem Kopfnicken deutet Frank Hartung auf das Grundstück.
„Lass dies hier lieber den Jan machen, der weiß, was zu tun ist. Der Holscher macht das schon und mit ihm kannst du auch morgen noch sprechen. OK?"
Eigentlich nicht, denkt sich Frank. Im Moment ist für ihn überhaupt gar nichts 'OK'. Aber vielleicht hat Wilfried wieder einmal Recht. Vielleicht sollte Frank dies alles hier erst einmal verarbeiten, nach Hause fahren. Aber würde er dann Antworten erhalten? Mit Jan Holscher kann man sicherlich reden, er würde Frank sicherlich morgen schon einiges mehr sagen können. Wilfried und er hatten hier auch eigentlich nur durch Jan Holschers gutes und kollegiales Wollen einen Zugang erhalten. Dies war ihm schon sehr hoch anzurechnen. Man sollte vielleicht das Glück im Unglück heute nicht überstrapazieren und wirklich einfach davonfahren- weg von diesem unheiligen Ort.
„Komm. Lass uns hier abhauen. Ist bestimmt besser." Sagt Wilfried, sicherlich in der Hoffnung, Frank Hartung vor weiteren bösen Überraschungen schützen zu wollen.
Frank wischt sich Schweiß von der Stirn und aus den Haaren.
„Meinst Du?"
„Ja."
„Na gut, OK. Ich wische aber dort noch auf und dann weg hier, ganz schnell!"
Wilfried antwortet nicht. Sicherlich hatte er Verständnis, dass es noch gilt, die Peinlichkeit mit dem Erbrochenen aus der Welt zu schaffen.
Im Hof sieht man den Karsten vom Zweiten- von einem der Schuppen kommend- hinüberhasten ins Hauptgebäude.
Frank Hartung stemmt sich langsam von der Motorhaube hoch, atmet sehr tief durch. Jede Bewegung tut ihm sichtlich innerlich weh, er fühlte sich wie ein Sandsack, der zuviel Wasserkontakt hatte- träge und schwer.
„Also dann." Sagt Frank und versucht Wilfried Dramenz die verloren gegangene Entschlossenheit zu zeigen, die er sonst immer an ihm schätzt.
„Brauchst du Hilfe?"
„Nein, danke dir Willi."
Langsam gehen beide Kollegen auf die Hofeinfahrt zu. Im Innenhof des Gehöftes herrscht schlagartige Bewegung.
Jan Holscher, der Siggi und ein Mann- den ich vorher nicht wahrgenommen hatte, vermutlich der Gemeindezeuge bei dieser Durchsuchung- hasten hinter Karsten her vom Haus über den Hof in einen hohen Schuppen hinein.
„Was is'n los?" fragt Willi in Richtung dieser gehetzt wirkenden Meute.
Siggi macht eine abwertende Handbewegung, die soviel heißen könnte wie 'Haut ab, hier ist der Mist am dampfen!' oder 'Bleibt weg, es gibt Probleme!'.
Die Meute hastet weiter, verschwindet in dem Schuppen.
Wilfried und Frank sind wieder auf dem Hof. Frank Hartung geht zur Hauskante, wischt mit mehreren Bewegungen das Erbrochene auf. Angewidert ist er- von all dem, was er hier erlebt hat. Den Beweis dieser Abscheu wird er aber nicht hier lassen. Wilfried geht in den Schuppen hinterher, denkt sicherlich, 'Falls die Hilfe brauchen, ich bin da.'.
Die Taschentücher mit dem Erbrochenem trägt Frank Hartung über den Hof und wirft sie in eine Mülltonne. Ekliger Gestank kommt aus den Tonnen, man sollte sie im Sommer halt öfter leeren lassen oder einfach mal säubern.
„So eine Scheiße." Hört Frank den Jan Holscher leise aber hörbar im Schuppen sagen.
Nun ist auch Franks Neugier geweckt.
'Vielleicht bekomme ich ja im Schuppen neue Erkenntnisse oder theoretische Überlegungsansätze, die es Wert sind, auch in diesen Schuppen zu gehen.' denkt sich Frank Hartung.
Die Schuppentür ist offen, er geht hinein.
Weit hinein jedoch kommt Frank nicht.
Wilfried drängt ihm entgegen: „Komm, lass uns abhauen!"
„Was ist denn?" sagt Frank, bekommt aber im nächsten Moment eine Antwort zum Selbstgeben, denn nachdem sich seine Augen von dem Lichtwechsel der grellen Sonne draußen zum Dämmerlicht hier im Schuppen gewöhnt haben, sieht Frank Hartung, warum Wilfried Dramenz darauf bestand, dass beide hier schnellstens wegfahren sollten.
Wilfried hätte ihn lieber einen Moment früher zurückhalten sollen- nun ist es jedoch zu spät dafür.
Der Karsten von der „Zwei" steht bleich im Gesicht mit hochgezogenen Schultern im Inneren des Schuppens, redet zu Jan und Siggi mit hilfloser Geste: „Ich habe ein Telefon klingeln gehört, und bin nachsehen gegangen. Tja, die muss das Telefon wohl in der Schürze haben, oder so! Ich war ja nebenan in dem kleinen Stall."
'Die'? Welche 'Die' mein Karsten denn? Frank kneift die Augen zusammen.
Noch während Franks Gedanken sich diese Fragen stellen, sieht auch er, was Karsten meinte- oder wen!
Oben im Gebälk in der Ecke des Schuppen - dort wo eine Leiter steht- sieht Frank Hartung zwei Beine regungslos in der Luft baumeln und sich langsam drehen- Strumpfhosen und ein Schuh. Die Beine einer toten Frau.
„Wir hauen ab!" sagt Wilfried und schiebt Frank aus dem Schuppen.
„Jouh." Sagt Jan Holscher wie erstarrt „Das macht man lieber!" Er würdigt uns als er dies sagt keines Blickes- sieht nur hinauf zu der 'baumelnden Gestalt'.
„Jetzt bekommt die Geschichte langsam Pfeffer." hörte Frank noch von Jan Holscher, als ihn Wilfried Dramenz ins Freie schiebt.
Wilfried drängt Frank weiter, zum Hofausgang hin, aber die Beine von Frank Hartung bekommen schon wieder eine fühlbare Blutleere.
„Und?" Frank fragt Wilfried. „Wie nennt Jan das jetzt? Den Opferaltar?"
Wilfried sagte nichts dazu, sieht Frank streng an, drängt ihn weiter.
„Egal wie er die Sache im Schuppen nennt, zumindest bekommt die Sache nun langsam eine komplett neue Wendung. Eine Wendung, die bestimmt Keinem gefällt."
Zum Auto.
Nur weg von hier.
Schnell.
Keiner spricht es aus, weder Wilfried noch Frank.
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