Avery
Nachdem Harry gegangen war, hatte ich innerlich erneut angefangen zu planen. Ich wusste, dass Harry versucht hatte es mir auszureden, aber ich konnte nicht anders. Der Gedanke an meine Eltern gab mir Antrieb. Ich hatte es nicht verdient hier zu sein. Die Anderen aus meiner Gruppe hatten es ebenfalls nicht verdient. Ich war mir nicht mal sicher, ob irgendjemand in diesem Camp es verdient hatte. Bisher war noch niemand diesem Camp entkommen, hatte Harry gesagt, aber es gab für alles ein erstes Mal.
Oder wie Dad sagen würde: „Es gibt immer einen Weg, Dinge zu erreichen, die man wirklich will. Du solltest dir nur vorher überlegen, ob der Weg den du gehst, auch der Richtige ist."
Also wie würde ich hier wegkommen? Auch wenn in meinem Kopf bisher kein Szenario erfolgreich war, irgendwo musste es eine Lösung geben.
Sobald ich aus dem Loch kam, würde ich die Zeit nutzen um das Camp ganz genau auf Schwachstellen untersuchen. Und sobald ich einen Weg gefunden hatte, würde ich nach Hause fahren und mit Mom und Dad ein ernstes Wort reden. Nicht nur wegen dem Camp, sondern auch wegen Lucy.
Lucy...
Der Gedanke an sie führte mich unweigerlich zurück, zu dem Tag an dem ich wirklich anfing mich vor ihr zu fürchten.
*****
Nachdem Peters dafür gesorgt hatte, dass wir am Freitag noch eine Extra-Stunde bleiben durften, überlegte ich wie ich das Lucy beibringen sollte.
Inzwischen war innerhalb weniger Tage die Stimmung wirklich gekippt. Wegen jeder Kleinigkeit rastete sie aus. Egal ob ich meine Jacke nicht aufgehängt hatte, vergessen hatte das Geschirr abzutrocknen oder weil ich ihr zu lange telefonierte. Immer wieder brüllte sie herum und warf mit Sachen um sich oder manchmal auch nach mir. Mittlerweile entschuldigte sie sich auch nicht mehr bei mir. Ich verstand nicht, was auf einmal mit ihr los war. Ich hatte auch bereits überlegt, ob ich meine Eltern anrufen sollte und sie bitten sollte, nach Hause zu kommen, aber jedes Mal, wenn ich bereits die Nummer gewählt hatte, legte ich dann doch wieder auf.
Sie waren weggefahren, weil sie ihre Ehe retten wollten. Das wollte ich ihnen nicht kaputt machen. Außerdem waren es ja nur noch zwei Wochen bis sie wieder da waren. Danach musste ich Lucy vermutlich nie wieder sehen und konnte in Ruhe meinen 16. Geburtstag feiern. War das der Grund gewesen, weshalb meine Eltern sich gestritten hatten, als es darum ging ob ich zu Lucy sollte? Weil sie wussten, dass sie diese Ausraster hatte? Aber dann hätten sie mich doch bestimmt nicht einfach so bei ihr gelassen, oder?
Als ich an diesem Tag das Haus betrat, war Lucy in ihrem Schlafzimmer. Ich klopfte, als ich eintrat, aber sie schien mich gar nicht zu hören. Sie saß auf dem Bett, die Beine an den Brustkorb gezogen und starrte auf die Wand ihr gegenüber. Sie murmelte immer wieder etwas unverständlich vor sich hin und schaukelte vor und zurück.
„Lucy?", sprach ich sie behutsam an.
Sie beachtete mich gar nicht.
„Nein, ich geh nicht zurück. Ich war lange genug weg...ich bleibe hier! Ich bleibe jetzt hier!", sagte Lucy da plötzlich wütend.
Allerdings schien sie gar nicht mit mir zu sprechen. Sie starrte noch immer auf die Wand vor sich. Allmählich bekam ich ein wenig Angst. Mit wem redete sie da? Außer uns war doch sonst niemand im Raum.
„Lucy? Ist...alles okay?", fragte ich vorsichtig.
„Ich geh nicht zurück! Ich geh nicht zurück!", murmelte Lucy immer wieder verzweifelt und schaukelte vor und zurück.
Besorgt trat ich nun genau vor sie. Nur um sicher zu gehen, schaute ich mich nochmal im Raum um. Außer Lucy und mir war nichts da, was ihr hätte antworten können. Und dennoch starrte Lucy beinahe manisch auf etwas im Raum, was ich nicht zu sehen schien. Sie schien mich überhaupt nicht wahrzunehmen.
„Lucy, hey! Ich bin's Avery", sagte ich nun etwas energischer und wedelte mit meiner Hand vor ihrem Gesicht.
Doch sie reagierte nicht.
„Ich kann nicht...ich kann nicht", flüsterte sie nun.
„Mit wem redest du, Lucy?"
Ich machte einen Schritt nach vorne und legte meine Hand auf ihren Unterarm. Ruckartig wandte sich Lucys Kopf zu mir und sie sprang auf. Wut blitzte auf einmal in ihren Augen auf und sie brüllte mich an.
„SCHER DICH RAUS! LOS, RAUS AUS MEINEM ZIMMER! DU HAST HIER NICHTS VERLOREN!", schrie sie.
Ich wich erschrocken zurück.
„Lucy, beruhige dich, ich...", fing ich an, aber da schubste sie mich auch schon zurück und kam bedrohlich auf mich zu.
„HAU BLOSS AB! LOS, VERSCHWINDE! UND HÖR AUF MICH LUCY ZU NENNEN! ICH WILL DIESEN NAMEN NICHT MEHR HÖREN!", brüllte sie.
Ich stolperte rückwärts aus ihrem Zimmer und sie schlug die Tür vor mir zu. Verdutzt und verängstigt blieb ich im Flur stehen. Was zur Hölle war das eben? Und diesmal meinte ich nicht den Ausbruch, sondern ihr seltsames Gemurmel vorher. Was war denn nur los mit ihr? Und warum durfte ich sie jetzt nicht mehr Lucy nennen?
Den Rest des Tages ging ich ihr aus dem Weg. Ich hielt es für klüger ihr nichts wegen dem Nachsitzen zu sagen.
*******
Irgendwann musste ich eingeschlafen sein, denn ich wurde dadurch geweckt, dass jemand die Tür aufschloss, zu mir in den Raum stürmte und mich grob am Arm packte.
„Los, steh auf, Collins!"
Noch bevor ich wirklich realisieren konnte, was passierte, zerrte man mich auch schon auf die Beine und ich stolperte hinter dem Betreuer, der mich so unsanft geweckt hatte, her. Er zerrte mich aus der Zelle und hinter sich her. Zuerst dachte ich, dass er mich zu den Zelten brachte, aber dann steuerte er auf Hemptons Büro zu.
Ich sträubte mich. Ich hatte Angst was als nächstes passieren würde. Würde Hempton mich erneut verprügeln oder einen Grund suchen mich wieder einzusperren? Vielleicht würde er mir ja sogar noch etwas schlimmeres antun, als letztes Mal.
Trotzdem half es nichts. Der Betreuer schleifte mich hinter sich her und stieß mich dann grob in Hemptons Büro.
Hempton saß an seinem Schreibtisch und erledigte Papierkram. Er sah nicht einmal auf, als ich in sein Büro stolperte.
„Mach die Tür hinter dir zu. Ich brauch nur ein paar Minuten", sagte er zu dem Betreuer.
Dieser verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Ich ballte wütend die Fäuste und biss mir auf die Lippe, während ich vor seinem Schreibtisch stand. Vor mir saß der Mann, dem ich so viel Leid in nur so kurzer Zeit zu verdanken hatte. Es fehlte nicht viel und ich wäre über den Schreibtisch gesprungen und hätte versucht ihm mit dem Locher zu erschlagen.
Endlich sah er auf und grinste mich hämisch an.
„Und wie geht's dir so? Wie war deine Auszeit?", fragte er gespielt freundlich.
Auszeit. So nannte er es also. Meine zwei Tage in einem fensterlosen Bunker, nannte er eine beschissene Auszeit?!
Trotzdem sagte ich nichts. Vielleicht suchte er ja nur nach einem Grund mich wieder dorthin zu schicken.
„Und was machen die Rippen?", fragte er mich grinsend.
Ich reagierte nicht.
„Weißt du, du bist nicht die Erste, die meint sich hier über die Regeln stellen zu können. Auch wenn du nur hier bist um anständig erzogen zu werden und nichts verbrochen hast, niemand wird dich hier mit Samthandschuhen anfassen. Du solltest das schnell lernen, Collins. Hast du verstanden?", erzählte er mir dann in aller Seelenruhe.
Ich sagte nichts. Die letzten zwei Tage waren furchtbar gewesen, aber trotzdem hatte ich noch immer meinen Stolz. Niemals würde ich ihm zustimmen.
Hempton erhob sich langsam, kam auf mich zu und baute sich bedrohlich vor mir auf.
„Collins, hast du was an den Ohren? Ich habe gefragt, ob du mich verstanden hast."
Stur blickte ich zur Seite. Sollte er doch sagen was er wollte.
Seine Hand traf mich mitten ins Gesicht. Ich stolperte zur Seite. Diesmal schaffte ich es aber nicht zu fallen. Hemptons Hand umschloss meinen Unterkiefer und hielt mich so fest.
„Hör mir jetzt genau zu!", knurrte er mir drohend entgegen.
Ich versuchte seine Hand von meinem Gesicht zu lösen, aber sein Griff war so fest, dass ich einen Moment lang glaubte, er könnte meine Zähne von außen abbrechen.
„Du hast jetzt gesehen, was passiert, wenn man sich mit mir anlegt. Also, rate ich dir, dass du zukünftig besser die Klappe hältst! Bisher war ich nachsichtig mit dir und deinen Freunden, Collins! Aber ich sag dir eins: Wenn du nochmal mit mir oder irgendeinem Betreuer hier so redest, stehst du danach vielleicht nicht mehr auf, hast du das verstanden?", knurrte er.
Sein Griff war noch fester geworden und ich hatte das Gefühl, als würde mir jeden Moment der Unterkiefer brechen. Tränen schossen mir in die Augen und ich versuchte noch immer mit beiden Händen seinen Griff zu lösen.
„Hast du mich verstanden?", raunte er mir ins Ohr.
Ich schaffte es meinen Mund so weit zu öffnen um ein „Ja", hervor zu pressen.
„Gut", er ließ mich los.
Ich stolperte und fiel auf die Knie. Mein Gesicht brannte wie Feuer und ich hatte Mühe normal zu atmen.
Hempton ging neben mir in die Hocke, umfasste mein Kinn und drehte mein Gesicht in seine Richtung, sodass ich gezwungen war ihn anzusehen.
Ein abwertender Blick lag auf seinem Gesicht als er mich musterte. Dann nahm er eine meiner Strähnen und strich sie mir hinters Ohr. Ich wich seinen Finger aus.
„Weißt du, auch wenn du gerade zwei Tage im Loch verbracht hast, bist du trotzdem doch ein hübsches Mädchen. Wäre doch schade, wenn sich daran etwas ändern würde.", erklärte er mir.
In seinem Blick lag etwas Seltsames. Dieses Lächeln es wirkte schadenfroh, triumphierend. Und auch wenn ich nicht verstand, was er meinte, wurde mir innerlich auf einmal ganz kalt. Es war wie eine böse Vorahnung, die sich langsam von hinten anschlich.
„Was soll das heißen?", krächzte ich.
„Sagen wir es so: Du bist wie die meisten Anfänger hier. Du hast Ideale, Träume. Aber hier ändern sich die Dinge schnell, wenn man nicht nach den Regeln spielt. Wenn du mir nicht glaubst, frag doch mal deine rothaarige Freundin. Sie hat erst kürzlich mitbekommen, was passiert, wenn man sich widersetzt."
Hempton grinste. Es wirkte diesmal nicht nur triumphierend, sondern beinahe anzüglich. Und die Vorahnung in mir wuchs noch weiter und schien sich wie ein Schwarm schwarzer Vögel in mir auszubreiten.
„Jetzt steh auf und verschwinde! Morgen früh wirst du wieder arbeiten! Und geh dich waschen. Du stinkst!", sagte er dann unwirsch.
Damit stand er auf und wandte sich ab. Ich richtete mich auf und machte dann schnell, dass ich rauskam.
Wie in Trance stolperte ich den Weg zurück zum Camp.
Was hatte Hempton mit Roxy gemacht? Was hatte er mir da unterschwellig angedroht? War mein Leben in Gefahr? Wie schnell konnte ich von hier wegkommen?
All diese Fragen stürzten auf mich ein, vermischten sich in meinem Kopf zu einem einzigen lauten Rauschen.
„Avery?"
Wie durch Watte, hörte ich wie jemand meinen Namen sagte. Ich blickte auf und sah Harry, der nur etwas zwanzig Schritte von mir entfernt stand.
„Harry?", flüsterte ich seinen Namen.
Für einen kurzen Moment machte sich Erleichterung in mir breit und ich lief ihm entgegen. Auf halben Weg trafen wir uns und umarmten uns fest. Ich hatte beide Arme um seinen Oberkörper geschlungen und mein Gesicht in seiner Schulter vergraben, während Harry eine Hand in meinen Haaren vergraben hatte und die andere Hand auf meinem Rücken ruhte, während er mich an sich drückte.
Vor lauter Erleichterung ihn endlich wieder vor mir zu sehen, ihn zu fühlen und zu hören, fing ich an zu weinen. Vielleicht war es auch die Tatsache, dass ich solche Angst vor Hempton hatte. Oder dass ich erst jetzt realisierte, in welcher Gefahr wir alle steckten. Oder weil ich mich noch immer schuldig fühlte, wegen den Anderen. Vielleicht war es auch ein bisschen von allem.
„Ist okay. Alles gut, alles gut", murmelte Harry beruhigend.
Ich spürte, wie er mir über den Rücken strich und seine Hand durch meine Haare fuhr.
Dann löste er sich langsam von mir und sah mich besorgt an.
„Hey, sieh mich an. Es ist vorbei, Avery", sagte er beruhigend.
Ich schüttelte den Kopf und wischte mir die Tränen ab.
„Nein, ist es nicht. Es ist nicht vorbei, solange wir noch hier sind."
Harry biss sich schuldbewusst auf die Lippen und sah zu Boden.
„Ich weiß", murmelte er dann.
Ich berührte sanft seine Schulter und schob ihm eine widerspenstige Locke aus der Stirn. Er sah mich an.
„Harry, ich kann hier nicht bleiben. WIR können hier nicht bleiben", sagte ich dann sanft, aber bestimmt.
Harry sah mich einen Moment verwirrt an, ehe er begriff und dann den Kopf schüttelte.
„Avery, das hatten wir doch schon. Du kannst nicht..."
„Doch, Harry. Doch, ich kann und ich werde. Und ich will, dass ihr mitkommt. Wir finden einen Weg von hier zu verschwinden!"
„Avery, wir kommen hier nicht weg. Niemand schafft das. Wenn die dich dabei erwischen, wie du versuchst abzuhauen, dann stecken die dich für einen Monat ins Loch oder machen sogar noch schlimmeres", versuchte Harry es mir auszureden.
Ich stieß ein freudloses Lachen hervor.
„Schlimmer? Was kann denn noch schlimmer sein? Hempton hat eben gedroht, dass er mir was antun wird, wenn ich mich nicht an seinen Regeln halte. Und werde ich werde definitiv nicht darauf warten, was passieren wird. Und auch wenn bisher noch niemand hier weggekommen ist, es gibt doch immer ein erstes Mal und es gibt immer einen Weg. Wir müssen uns nur was überlegen."
„Avery, hör mir zu. Ich mag dich und auch wenn ich glaube, dass du durchaus die Weltherrschaft an dich reißen könntest, ich weiß, dass hier kein Weg rausführt, den Hempton nicht überwacht. Das Einzige, was wir tun können ist zu warten, bis wir gehen können."
Harry versuchte mir zu helfen. Das wusste ich. Aber diese Art von Hilfe konnte ich nicht gebrauchen. Ich konnte nicht noch weitere 15 Wochen hierbleiben und hoffen, dass mir nichts passierte, wenn ich in Hemptons Augen einen Fehler machte. Ich musste hier weg. Ganz egal, was ich später meinen Eltern erklären musste. Und ich würde es schaffen. Mit oder ohne Harry. Und das obwohl ich gerne auf das schlechteste Date der Welt mit ihm gegangen wäre.
„Harry, ich habe dich gern und ich kann dich zu nichts zwingen. Und wenn du mir nicht helfen willst, dann ist das deine Entscheidung. Aber ich kann nicht hierbleiben. Ich gehe nach Hause."
Damit ließ ich ihn stehen und ging in Richtung Waschräume davon.
Ich wünsche euch allen frohe Ostern und hoffe ihr hattet, trotz der Umstände bisher ein schönes Osterfest. Leider muss ich hier die Mitteilung machen, dass ich ab jetzt vielleicht nicht mehr jede Woche updaten kann, da ich mich jetzt auf meine Hausarbeit konzentrieren muss. Trotzdem hoffe ich, dass euch das Kapitel gefallen hat. Lasst mir gerne einen Kommentar oder Vote da.
Alles Liebe, Liz ;)
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