Avery
Ich verstand nicht, warum Roxanne unbedingt wissen wollte, was zwischen mir und Lucy gewesen war. Vermutlich war ihr langweilig. An sich würde ich ihr keine weitere Beachtung schenken, allerdings hatte sie bemerkt, dass ich ein wenig rumgeschnüffelt hatte. Und auch wenn ich ihre eine halbwegs nachvollziehbare Ausrede aufgetischt hatte, schien sie es mir nicht wirklich abzukaufen. Ich kannte sie nicht, aber bei einer Sache war ich mir sehr sicher: Roxanne war nicht auf den Mund gefallen und dumm war sie sicher auch nicht. Allerdings konnte ich nicht einschätzen, ob sie wenn es darauf ankam die Klappe halten würde oder mich verpfeifen würde.
Ich musste etwas vorsichtiger sein. Solange ich nicht wusste, wem ich vertrauen konnte, wollte ich vorerst nicht, dass jemand von meinem Plan oder viel eher Idee, denn einen Plan hatte ich noch nicht wirklich, erfuhr.
Auf meinem Weg zurück zum Camp traf ich Harry. Er zerrte einen Bollerwagen mit Holz den Waldweg entlang. Es war offensichtlich, dass der Wagen viel zu schwer für ihn war. Ich schloss zu ihm auf.
„Warte, ich helfe dir", meinte ich und griff mit meiner freien Hand nach dem Seil.
Gemeinsam zog wir den Wagen hinter uns her.
„Danke", sagte Harry.
Einen Moment lang herrschte Schweigen zwischen uns, dann wandte er sich an mich.
„Wo kommst du eigentlich her?", fragte er.
„Geboren bin ich in Surrey, aber momentan lebe ich in Amsterdam. Wir sind sehr viel umgezogen."
„Wie ist es in Amsterdam? Meine Mom sagt, dass es dort sehr schön sein soll."
„Es ist schon cool. Aber auch gewöhnungsbedürftig. Ich hab noch nie eine Stadt gesehen, die so viele Fahrräder hat."
„Fahrräder?"
„Ja, das meist genutzte Fortbewegungsmittel dort. Wir nennen es auch den stillen Tod."
Fragend und amüsiert zugleich blickte er mich an.
„Wieso das?"
„Weil sie von allen Seiten kommen und sich in der Regel nie bemerkbar machen. Selbst wenn du mit dem Auto um die Kurve fahren willst, kommen in der Regel noch mal 3 bis 4 Räder, die noch vor dir abbiegen."
„Ist ne Weile her, dass ich auf einem Fahrrad gewesen war", murmelte er dann.
Ich schwieg verlegen. Ich wollte bei ihm keine Nostalgie auslösen. Trotzdem konnte ich mir die Frage nicht verkneifen.
„Wie lange bist du jetzt schon hier?"
„Ein Jahr. Ein Jahr und fast drei Monate. Aber wer zählt schon mit?", brummte er missmutig.
Ich war überrascht. Ein ganzes Jahr war er schon hier? Wie hatte er es nur hier so lange ausgehalten?
„Und wie lange hast du noch?"
„3 Monate."
„Dann bist du vor mir zuhause. Ich bin noch bis zum 30. Oktober hier", versuchte ich ihn aufzumuntern.
Er lächelte freudlos und nickte nur.
Ich zögerte. Am liebsten hätte ich ihn nun gefragt, weshalb er überhaupt hier war, aber er jetzt schon in schlechter Stimmung war, sollte ich mir die Frage lieber für einen anderen Zeitpunkt aufheben. Stattdessen fragte ich ihn lieber nach seinem Zuhause.
„Und wo kommst du her?", fragte ich.
„Ich wohne in Buxton. Oder hab dort gewohnt."
„Und wo ist das?"
„East Midlands, England", erklärte er.
„Wow, und da lebst du schon dein ganzes Leben?"
„Ich wurde in Redditch geboren, aber erinnern kann ich nur an Buxton. Ist nicht so groß, aber es okay."
„Ist eben zuhause", stimmte ich zu.
„Ja, allerdings. Ich freue mich, wenn ich wieder da bin."
„Wer wartet denn dort auf dich?"
„Meine Mom und meine Schwester."
„Keine Freundin?", rutschte es mir raus und sofort wünschte ich mir ein Loch, in dem ich versinken konnte.
Harry sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ich lief rot an.
„Sorry, das geht mich ja nichts an", entschuldigte ich mich verlegen.
Zu meiner Überraschung, lächelte er schelmisch.
„Nein, keine Freundin. Wieso? Eifersüchtig?", grinste er.
Ich lachte, auch wenn es nicht wirklich überzeugend wirkte.
„Ja genau. Nichts für ungut, Styles, aber wir kennen uns erst seit 3 Tagen. So schnell mutiere ich nicht zur eifersüchtigen Rivalin."
„Und du? Wer wartet denn Zuhause auf dich? Irgendein toller Freund?"
„Nein. Ich hab 2 beste Freundinnen und meine Eltern natürlich. Also hoffe ich zumindest. Denn wenn sie mich hierhergebracht haben, sind sie wohl doch nicht so toll, wie ich dachte", meinte ich und der Gedanke an meine Eltern machte mich sehr traurig.
Harry schien es zu bemerken und sah mich von der Seite an. Er lächelte mich mitfühlend an. Ich erwiderte sein Lächeln kurz, obwohl ich eigentlich kein Mitleid wollte.
„Hey."
Harry sah nun nachdenklich aus.
„Glaubst du wirklich, dass deine Eltern zugestimmt haben, dich hierher zu schicken?", fragte er mich dann.
Ich zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß nicht. Einerseits das würde nicht zu ihnen passen. Wenn sie wütend auf mich wären, dann würden sie mich anrufen und mit mir reden. Andererseits, das Camp braucht ja die Unterschrift der Eltern und die muss sie ja von ihnen bekommen haben."
„Hmm, vielleicht kommt das ja auch von dem ganzen Stress, den sie mit ihrer Ehe haben. Vielleicht denken Sie momentan nicht klar und treffen deshalb falsche Entscheidungen", meinte Harry.
Ich nickte abwesend, auch wenn ich es nicht wirklich glaubte.
Meine Eltern stritten sich nun schon eine Weile, aber selbst in den schlimmsten Zeiten, hatten sie immer darauf geachtet, dass ich möglichst wenig davon mitbekam und rissen sich in meiner Anwesenheit wirklich zusammen. Waren sie so mit sich selbst beschäftigt, dass mich deshalb hierher schickten? Das klang irgendwie nicht nach ihnen.
Harry schien zu bemerken, dass mich das ganze sehr beschäftigte.
„Hast du gewusst, dass die Insel mal als Feriencamp für Pfadfinder genutzt wurde?", wechselte er dann das Thema und ich war dankbar dafür.
„Im Ernst?", fragte ich überrascht.
„Ja, natürlich nicht nur von Pfadfindern sondern auch von anderen Gruppen oder Campern. Aber hauptsächlich Pfadfindergruppen aus aller Welt. Immerhin ist diese Halbinsel auch ideal dafür, oder nicht?"
Ich nickte.
„Ich bin selbst mal Pfadfinderin gewesen. Da gab es auch einiges an Orten, wo wir hingefahren sind. Aber in Dänemark war ich noch nicht", erzählte ich.
„Du warst mal Pfadfinderin? Du verarscht mich?!", meinte er verblüfft und amüsiert zugleich.
„Nein ehrlich, vier Jahre lang, danach sind wir umgezogen und ich hatte keine Lust mich einer neuen Gruppe anzuschließen. Aber ich hab einige Sachen dort gelernt, die bestimmt mal nützlich sein könnten."
„Ach ja, was denn zum Beispiel?"
„Wie man ein Zelt aufbaut. Gerade solche, die wir haben. Oder wie man Feuer macht, wie man einen Kompass und Sonnenuhr liest, wie man ein Messer schleift. Solche Sachen eben."
„Du steckst ja voller Überraschungen, Avery Collins", grinste Harry.
Sein Lächeln war scheinbar ansteckend, denn ich ertappte mich dabei, dass ich zurück grinste.
„Was für Geheimnisse hast du noch?", fragte er schmunzelnd.
Ich zuckte grinsend mit den Schultern.
„Wir können heute Abend ja wieder „Geheimnissatz" spielen. Dann kannst du mich ja fragen", grinste ich.
„Okay, aber ich werde schwierige Fragen stellen. Verlass dich drauf."
„Alles klar, Chef."
Inzwischen waren wir am Camp angekommen.
Ich nahm den Korb vom Wagen und machte ich mich daran die Wäsche aufzuhängen.
Harry sah sich inzwischen suchend um.
„Wo zur Hölle steckt eigentlich Liam? Er war doch schon vor mir hier", brummte er dann.
Ich zuckte mit den Schultern. Als ich fertig war, half ich Harry dabei das Holz aufzuschichten. Es war nicht einfach. Einige der Scheite waren so schwer, dass ich sie kaum hochheben konnte. Als wir fertig waren, zog Harry, sich das verschwitzte T-Shirt aus.
Schweiß glitzerte auf seiner Brust, als er es in den leeren Wäschekorb warf.
Einen Moment lang ertappte ich mich dabei, dass ich auf seinen nackten Oberkörper starrte. Er sah schon ziemlich gut aus. Als er seinen Kopf zu mir drehte, tat ich so, als wäre ich damit beschäftigt das Holz aufzuschichten.
Hoffentlich hatte er meinen Blick nicht bemerkt, obwohl ich bereits merkte, wie mir das Blut in den Kopf schoss.
Oh Mann, wie peinlich!
Kaum war ich fertig, hörte ich in der Nähe ein Kichern und dann Plätschern.
Ich lauschte. Erneut hörte ich ein Mädchen kichern.
Es kam vom Strand.
„Hey, hörst du das?", fragte ich Harry und er lauschte für einen Moment.
Ich hörte jemanden lachen. Diesmal klang es allerdings nach einem Jungen.
Harry nickte.
„Das klingt nach Liam", grinste er und folgte dem Gelächter. Ich folgte ihm.
Als wir den Strand erreichten, sahen wir Liam und Daisy.
Daisy stand vollkommen angezogen, während Liam sein T-Shirt ausgezogen hatte vollkommen durchnässt bis zur Hüfte im Wasser und spritzten sich gegenseitig nass. Beide schienen mächtig Spaß zu haben.
Liam kam auf Daisy zu und packte ihre Arme.
„Nein, nein, nein! Liam! Nicht!", rief Sie lachend, als sie begriff, was Liam vorhatte.
Doch es war zu spät, Liam hatte sie bereits hochgehoben und stieß sie dann so weit wie möglich von sich weg.
„Liam, wa...", Daisy klatschte ins Wasser und ging unter.
Als sie prustend wiederauftauchte, musste ich doch ein wenig grinsen.
Daisy strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht und stürzte sich dann lachend auf Liam. Neben mir lachte Harry leise.
„Na endlich. Das war schon längst überfällig!", grinste er.
Ich blickte zu ihm.
„Was meinst du?"
„Na ja, Daisy ist seit sie hier ist in Liam verknallt, traut sich aber nicht es ihm zu sagen. Eigentlich weiß es schon das ganze Camp, nur er eben nicht", erklärte er mir.
„Und ist er denn auch in sie verliebt?", fragte ich.
Harry sah nachdenklich aus.
„Bei Liam weiß man, dass nie so genau. Der lässt sich nicht so in die Karten schauen, wenn es um Gefühle geht. Aber dass er an ihr interessiert ist, hab ich auch schon mitgekriegt. Ich glaub aber durchaus, dass die beiden gut zusammenpassen", meinte Harry dann.
„Hm, in Sachen Liebe kenne ich mich nicht so aus. Aber die beiden wären bestimmt süß zusammen."
„Na komm, lassen wir sie in Ruhe. Wir haben sowieso genug zu tun."
Während wir uns zurückzogen, fiel mir erstmals etwas auf. Das erste Mal, seit ich hier angekommen war, war mir wieder nach Lachen zumute. Und das nur, weil ich gesehen hatte, wie sich Liam und Daisy amüsierten.
Hi, hier ist das neuste Kapitel. Diesmal etwas leichter, als andere. Was aber nicht heißt, das es dabei bleibt. Ich hoffe es gefällt euch.
Alles Liebe, Liz;)
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