Avery
Eigentlich war ich niemand , der unbedingt Streit suchte, ich war stets um eine friedliche Lösung bemüht. Allerdings hatte ich auch kein Problem damit, für mich oder andere einzustehen. Da Hempton scheinbar hier das Sagen hatte, wusste ich, dass eine Konfrontation für mich nicht gut ausgegangen wäre. Aber ich hatte mich entschieden zu schweigen. Wen ging es schon was an, warum ich hier war? Es hatte niemanden zu interessieren, ob ich ein Haus angezündet, die Katze meines Nachbarn ermordet oder jemanden mit einem Baseball-Schläger verprügelt hatte. Und um eure Frage gleich zu beantworten: Nein, ich habe keine dieser Sachen gemacht.
Dass er mir das Mittagessen strich, war offenbar eine Machtdemonstration. Auch wenn es mich ärgerte, kümmerte es mich nicht weiter. Wenn er glaubte, mich so brechen zu können, dann irrte er sich. Hempton selber erinnerte mich ein wenig an Mr. Peters. Allerdings eher vom Wesen, als vom Äußeren. Ob Mr. Peters angenehmer als dieser Hempton war, würde ich vermutlich sehr bald herausfinden. Apropos, wegen Mr. Peters, da war ja noch was...
Erinnert ihr euch noch, als ich sagte, dass Mr. Peters Bitte auszuführen, einer meiner letzten Fehler war? Nun ich erzähle euch jetzt warum. Natürlich waren wir alle froh darüber, ihn wenigstens für eine Stunde los zu sein.
Folglich gingen wir am Freitag alle eine Stunde früher nach Hause. Und erhielten am darauffolgenden Montag die Quittung dafür. Denn die Direktorin unserer Schule ließ uns alle ins Sekretariat rufen und stauchte uns zusammen, wie wir denn auf das schmale Brett kämen, einfach den Unterricht von Mr. Peters zu schwänzen. Und dieser stand mit seinem besten geschauspielertem aufgebrachten Gesichtsausdruck daneben. Der feine Herr hatte uns auf ganzer Linie verarscht und wir waren drauf reingefallen. Wenn Blicke töten können, wäre Mr. Peters gerade sehr viele grausame Tode gestorben. In dem Moment stellte ich ernsthaft seine Anstellung als Lehrer in Frage. Wenn er solche Freude daran hatte andere Menschen durch den Dreck zu ziehen, gab es in der Regel auch bessere Arbeitsplätze dafür. Politik zum Beispiel.
„Wer ist dafür verantwortlich?", fragte unsere Direktorin.
Alle schwiegen. Das war das Gute an unserer Klasse. Keiner hätte den Anderen verraten. Das war ein ungeschriebenes Gesetz in unserer Klasse.
„Nun, ich schätze diese Solidarität zwischen euch, aber wenn keiner sich hier schuldig bekennt, hat das für euch alle Konsequenzen", versprach sie uns.
Noch immer sagte keiner was. Ich dachte ebenfalls gar nicht daran, etwas zu sagen. Warum sollte ich etwas zugeben, was ich nicht getan hatte?
„Also schön. Dann bleibt mir nichts anderes übrig: Eine Runde Nachsitzen für euch alle. Und zwar diesen Freitag nach der letzten Stunde."
Ein Aufstöhnen ging durch unsere Klasse und ein wütendes Gemurmel.
„Hey, ich will nichts von euch hören. Ihr habt eine Stunde Schulstoff verpasst, und die werdet ihr jetzt nachholen. Das habt ihr euch selbst zuzuschreiben", unterbrach Sie unser Gemurmel sogleich ungeduldig.
Mr. Peters grinste uns hinter ihrem Rücken hämisch an. Arschloch!
Doch er setzte noch einen drauf.
„Mrs. Walsh, wenn ich einen Vorschlag machen dürfte: Wir könnten die Klausur für Mathe ja in der Stunde schreiben, wo sie Nachsitzen müssen. Dann sind die restlichen Klausuren nicht ganz so eng für sie getaktet", schleimte er.
Mrs. Walsh sah ihn überrascht an.
„Oh, hatten Sie ihre Klausur nicht bereits mit dieser Klasse geschrieben? Ich bin mir nämlich sehr sicher, dass Sie sie mir erst letztens vorgelegt haben", erklärte sie dann.
Wir taten sofort unsere Zustimmung kund, da es ja auch wahr war. Mr. Peters sah aus, als habe er in eine Zitrone gebissen. Und es war an uns ihn hämisch anzugrinsen. So unauffällig wie möglich natürlich .
„Nun, wie wäre es dann mit einer kleinen Lernkontrolle? Das kann ja nie schaden", wandte er darauf vorsichtig lächelnd ein.
Manche Menschen machen noch dumme Vorschläge, wenn ihr Leben in Gefahr ist. Herzlichen Glückwunsch, Mr. Peters, der Award für „Meistgehasste Person der gesamten Schule", geht an Sie. Normalerweise wird dieser Award auch benutzt, um den Gewinner damit grausam zu foltern und anschließend zu erschlagen.
Mrs. Walsh überlegte kurz, ehe schließlich meinte: „Nun ja, schaden kann es ja niemals."
Ein erneutes Aufstöhnen ging durch unsere Reihe. Eigentlich mochte ich Mrs. Walsh, aber in diesem Moment rückte sie auf den 2. Platz für „Meistgehasste Person der gesamten Schule".
Doch der wirklich große Knall und das meine ich wortwörtlich, sollte erst noch kommen.
Das Frühstück verbrachte ich schweigend am Tisch mit den Anderen. Von ihnen kam ebenfalls kein Wort. Allerdings spürte ich ihre Blicke auf mir. Deshalb sah ich die meiste Zeit über auf meinen Teller.
Nach dem Frühstück kratzte ich die Reste meines Haferbreis in den Mülleimer, der neben der Theke mit der Essensausgabe stand. Doch noch bevor ich alles ausgeleert hatte, zog plötzlich jemand den Mülleimer vor mir weg und ein großer Fleck landete auf dem grauen Steinboden.
„Hey, pass doch auf!", fauchte mich jemand an.
Wütend sah ich auf. Der Besitzer, der Stimme war das blonde Mädchen, das ich auch schon gestern hinter der Theke gesehen hatte. In ihrer Hand hielt sie die Mülltonne. Ich richtete mich auf und starrte sie wütend durch die Glasscheibe der Theke an, hinter der sie stand.
„Wenn du gewartet hättest, dann hätte ich nicht aufpassen müssen!", knurrte ich zurück.
„Willst du Stress?", fauchte sie mich an.
Noch bevor ich antworten konnte, erklang eine Stimme neben uns.
„Gibt es hier ein Problem?"
Hempton.
„Das Miststück hier ist nicht mal in der Lage, ihr Essen ordentlich wegzumachen!", knurrte das Mädchen.
„Du hast mir den Eimer weggezogen", wehrte ich mich.
„Aufhören! Du", er zeigte auf mich.
„Du wirst ab morgen für eine Woche helfen, das Gemüse zu schnippeln und abends den Abwasch machen", meinte er.
Ich biss mir auf die Lippen, um einen wütenden Kommentar zurück zu halten, der mir auf der Zunge lag.
„Und du, bekomm mal endlich deine Hormone in den Griff. Ich hab keinen Bock darauf mir bei jeder Gelegenheit dein Rumgezicke anzuhören", fuhr er dann das Mädchen an.
Diese biss sich nun ebenfalls auf die Lippen und sah zu Boden. Plötzlich wirkte sie gar nicht mehr so selbstbewusst. Sie schien ein wenig in sich zusammen zu schrumpfen. Sie tat mir beinahe leid.
„Jetzt mach das sauber oder es wird morgen den gesamten Tag nichts für dich zu essen geben!", fuhr er mich an.
„Gib ihr den Lappen", meinte er dann zu dem Mädchen, welches mir nun sehr verschüchtert den Lappen reichte. Dann zog er mürrisch ab. Ich wischte die klebrigen Reste des Breis vom Boden auf und gab den Lappen zurück.
„Sei um 12 Uhr zum Kartoffel schälen da", sagte sie dann.
Ich überlegte, ob ich irgendetwas tröstendes sagen sollte, aber sie nahm mir die Entscheidung ab, indem sie sich umdrehte und ging. Ich blickte ihr einen Moment nach, ehe ich nach draußen ging und Daisy zum Schulgebäude folgte. Die Unterrichtsfächer waren diesmal Biologie und Musik. Bio wurde von Mr. Matkens unterrichtet. Matkens hatte ein Gesicht wie eine Ratte. Überhaupt hatte seine ganze Art etwas verschlagenes an sich. Er erinnerte mich seltsamerweise an die klassische Rechte Hand eines Bösewichts. Große Klappe und nichts dahinter. So in etwa war auch sein Unterricht. Vollkommen zusammenhangslos und unverständlich. Die Erklärungen passten nicht zusammen und auf Nachfragen reagierte er nicht. Da wir bereits mit dem Thema Genetik durch waren, störte es mich nicht weiter, aber innerlich fragte ich mich ernsthaft, wie ich die nächsten vier Monate hier weiterkommen sollte. Der Musikunterricht dagegen war eine willkommene Abwechslung. Ed unterrichtete uns. Während er uns einen Aufsatz über unseren Liebingssong schreiben ließ, spielte er nebenbei von Britney Spears „Hit me Baby, one More Time". Als er meinen etwas überraschten Gesichtsausdruck bemerkte, erklärte er, dass er gerne „Begleitmusik" spielte. Und lasst euch gesagt sein, dass Ed großartig singen und Gitarre spielen konnte. Er hätte eher Sänger werden sollen, anstatt Lehrer in diesem Camp. Leider blieb ich nicht die ganze Stunde, da ich ja zum Küchendienst verdonnert worden war. Also ging ich um 12 Uhr zum Hintereingang des Backsteinhaus, wo wir für gewöhnlich aßen. Das blonde Mädchen wartete bereits am Eingang auf mich. Auf den Armen hielt es eine riesige Schüssel mit Kartoffeln.
„Du bist spät dran", begrüßte sie mich kühl, ehe sie mir die Schüssel entgegen streckte.
„Hier nimm, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit", meinte sie ungeduldig.
Zögerlich nahm ich ihr die Schüssel ab und stellte sie neben mich auf den Boden. Das Mädchen war inzwischen kurz reingegangen und kam nun mit zwei Hockern und einem Handtuch zurück. Als ich sie anblickte, verschlug es mir glatt die Sprache. Nicht, dass sie sich nun in einen feuerspeienden Drachen verwandelt hatte. Aber da ich sie bisher immer nur hinter der Theke und sie dadurch nur von der Brust aufwärts gesehen hatte, war mir ein entscheidendes Detail entgangen. Durch ihr Top zeichnete sich im Bauchbereich deutlich eine Wölbung ab. Eine Wölbung, die ich schon oft gesehen hatte und die nur eins bedeuten konnte. Sie bemerkte wie mein Blick hängen blieb und motzte mich sogleich an: „Was glotzt du denn so? Noch nie ne Schwangere gesehen?"
Ich senkte den Blick.
„Jedenfalls noch nicht hier", antwortete ich dann verlegen.
Sie schmunzelte leicht und ließ sich dann auf einen Hocker nieder. Ich setzte mich neben sie und ließ mir einen Schäler geben, während wir aus den Schüsseln die fertig geschälten Kartoffeln in einen riesigen Topf warfen und die Schalen auf das Handtuch am Boden. Für einen Moment saßen wir still nebeneinander und schälten Kartoffeln, bis sie schließlich das Schweigen brach.
„Sorry, wegen heute morgen. Ich hatte kein Recht dich so anzumachen. Sind nur die verdammten Schwangerschaftshormone", erklärte sie mir dann.
Ich nickte verständnisvoll.
„Ist okay, verstehe ich", sagte ich ruhig.
„Gibst du mir jetzt einen Freibrief, nur weil ich schwanger bin?!", meinte sie nun angriffslustig und sah mich vorwurfsvoll an.
„Ich brauche kein scheiß Mitleid!", zischte sie.
„Hab ich auch nicht gesagt. Um ehrlich zu sein, mir ist es egal, ob du ne alte Schachtel, behindert oder schwanger bist. Solange du nicht geistig eingeschränkt bist, ist das für mich keine Entschuldigung dafür ein Arschloch zu sein. Ich bin allerdings auch nicht nachtragend, also wenn du mir später erklärst, was das Problem ist, ist es in der Regel auch okay für mich", erklärte ich.
Einen Moment lang, kaute sie nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum, ehe sie nickte.
„Schön, dass wir das klären konnten", antwortete ich.
Wir schälten weiter Kartoffeln. Während ich erneut darüber nachdachte, wie ich hier wohl 4 Monate überstehen sollte, sprach sie mich plötzlich erneut an.
„Linda", sagte sie plötzlich.
Einen Moment lang, starrte ich sie verwirrt an. Dann begriff ich.
„Avery", stellte ich mich ebenfalls vor.
Dann fragte ich schüchtern: „In welchem Monat bist du denn?"
„Ab morgen bin ich im 6. Monat", erklärte sie.
„Und weißt du schon, was es wird?", fragte ich neugierig.
„Es wird wohl ein Junge."
Ich lächelte. Linda dagegen sah eher nachdenklich aus. Ich wusste zwar nichts über die Umstände ihrer Schwangerschaft, allerdings konnte ich mir gut vorstellen, dass eine Schwangerschaft in diesem Fall bestimmt nicht einfach war. Immerhin war Linda ungefähr im selben Alter wie ich.
„Und hast du schon einen Namen?", fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. Dann sah sie mich an.
„Ich habe dich heute Morgen bei der Morgenrunde gesehen. Hempton hat dich gefragt, warum du hier bist. Aber du hast nichts gesagt. Wieso? War es so schlimm?", fragte sie mich.
Ich schwieg und zuckte mit den Schultern.
„Hey, nur mal zur Info. Das hier könnte ebenso gut ein Jugendknast sein. Im Grunde ist es das auch. Hier gibt es klare Hierarchien. Entweder gehörst du zu den Starken oder den Schwachen. Und wenn du es dir schon am ersten Tag am Hempton verscherzt, dann hinterlässt du hier einen bleibenden Eindruck. Wenn du nicht darauf antwortest, warum du hier bist, dann entweder weil du dich für ziemlich taff hältst oder es dir peinlich ist", erklärte sie mir nun ernst.
„Ich halte mich nicht für taff oder besonders schlau. Ich finde nur, es geht niemanden was an, warum ich hier bin", antwortete ich beinahe genervt.
Sie zog die Augenbrauen hoch. Dann grinste sie beinahe spöttisch.
„Du bist ne Außenseiterin. Dann wird es hier besonders schwer für dich", stellte sie fest.
„Ich bin keine Außenseiterin. Wenn ich es erzählen will, dann mach ich das von mir aus, aber ich lasse mich nicht vorführen", widersprach ich ihr.
Linda sah mich ernst an.
„Pass auf, wir kennen uns nicht. Und wir sind auch keine Freunde. Aber den einen Rat gebe ich dir trotzdem: Du kannst lernen dich hier anzupassen. Das macht die Zeit hier erträglicher und vielleicht findest du hier ein paar Gleichgesinnte. Oder du stellst dich gegen den Strom. Aber dann wird die Zeit hier, die längste Zeit deines Lebens werden. Und vielleicht auch die Schlimmste. Deine Entscheidung."
Danach sprach sie kein Wort mehr mit mir.
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